Beiträge von farinelli

    Die innere Einheit der drei Da-Ponte-Opern mag auch etwas zum Thema beitragen.


    Wenn man die von Joachim Schneider klug umrissene Situation auf den Figaro zurückprojiziert, so erscheint einem der Conte Almaviva als ein kleinlich-provinzieller Giovanni-Abklatsch, ein Möchtegern-Roué, der nicht einmal die Kammerzofe seiner Frau erobern kann und am Ende kläglich und spießig die Gattin um Verzeihung zu bitten hat - "Contessa, perdono ..."


    Die erotische Liebe als nicht eingrenzbare dämonische Macht klingt geichwohl an - in Cherubinos ironischen Jugendnöten und zumal im "Crudel! Perchè finora"-Duett, wo Susanne doppeldeutig aus der Rolle fällt (auch aus der Rolle der überlegenen Schauspielerin vermeintlich echter oder falscher Gefühle).


    Daß die Verliebtheit der einzige Prüfstein für die echte Liebe ist, entbindet die Liebenden vom Gebot der Treue - da ist Mozart, und wo, wenn nicht in der Così fan tutte, ein psychologisch wahrhaftiger Charakterzeichner ohne irgendwelche moralischen Intentionen.


    So erscheint denn etwa die treu liebende Contessa Rosina nicht als Ideal, sondern nur als ins menschliche zurückübersetzte Spielart, "La Constante" (wie ja die monströse Vorgängerin in der "Entführung aus dem Serail" noch hieß), als "L´Abbandonnée". Fiordiligi entlarvt das Rollenhafte "weiblicher" Treue, so wie die Herren sehr elvirenhaft am Wankelmut der Damen zu leiden haben.


    Die überhöhten Damencharaktere im Giovanni lassen sich als zeitliche Typologie zerlegen: Zerlina, "La Naive" als neugierige Unschuld, Elvira, die Verlassene und Gedemütigte, und dazwischen Anna, die Unerreichbare und damit die psychologisch interessanteste Figur. Wenn man in Rechnung stellt, daß alle drei Figuren zugleich nur menschlich-allzu-männliche Projektionen darstellen - und zwar im Sinne des Schlußtableaus von Fellinins Casanova-Film, den Tanz mit der Automate - so vernimmt man ein Echo etwa des Crudel! Perchè finora-Duetts im Duettino La ci darem la mano, dieses "Vorrei è non vorrei", dieses Hin- und Hergerissensein, das immer zweier Akteure bedarf, non so più, cosa faccio.


    Man könnte, um Giovanni moralisch dingfest zu machen, darauf verweisen, daß Mozart und Da Ponte im Verlauf der Ballszene etwas wie eine Vergewaltigung andeuten, ein Débauchement hinter eilig verschlossenen Tapetentüren, gefolgt von einer furienhaften Phalanx erboster Weiblichkeit, wie sie in der Operngeschichte einzig dasteht. Aber das ist natürlich zu einfach - Elvira, wie wir wissen, hat ein warnend wachsames Auge auf die törichte Zerlina; und vergessen wir nicht, daß Anna, per Vatermord symbolisch defloriert, mit ihrer heroisch rächenden Jungfräulichkeit den Rest der Oper quasi in der Luft hängt. Je übersteigerter ihr verletzter Mädchenstolz, desto dringlicher die Frage nach den eigentlichen Motiven dieser Amazone.


    Am besten stellt man den Giovanni gegen den Fidelio. Dort wird substanziiert und nach allen Regeln gefeiert, was bei Mozart als ein grausiger Dressurakt an der menschlichen Natur vorgeführt wird. Der erotisch getriebene Giovanni fährt als Revoluzzer in die Hölle - was könnte da kläglicher sein als Florestans "Wahrheit wagt ich kühn zu sagen ..." Denn die Wahrheit Giovannis ist am Ende tragischer und tiefer; und seine ungebändigte Freiheit führt nicht ins himmlische Reich.


    :hello:

    Nach vielem Rein- und Querhören habe ich mich gegen Thielemann (Wien & Bayreuth), den Frankfurter Ring und sogar gegen Janowskis toll klingende Berliner SACD-Konkurrenz für diese Aufnahme entschieden:



    Zuletzt bei Dussmann habe ich mir die MET-Blu-ray mit Kaufmann noch verkniffen. Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, ist diese russische Produktion eine gute Alternative (aber keine preiswerte ...)


    An Kaufmann kommt man eben nicht vorbei (von Stemme, Pape und dem übrigen Ensemble gar nicht zu reden). Eine Empfehlung!


    :hello:

    Falls ich es nicht übersehen habe, gibt es in diesem Verzeichnis noch keinen Werther-Thread zur Pariser Aufführung.


    Vorab - besser kann man die Oper kaum auf die Bühne bringen. Ich kannte sie gar nicht, hatte Massenets wegen so meine Vorbehalte und wollte eigentlich eine schöne Kaufmann-Blu-ray ansehen und -hören.


    Plassons Orchester ist von A-Z unbeschreiblich differenziert und ausdrucksvoll, und die Sänger verkörpern ihre Figuren so lebensecht, wie man es kaum je erlebt hat. Ein wundervolles Libretto, das die mono-Perspektive von Goethes Briefroman zu einer psychologisch wohlmotivierten Dreicksgeschichte auserzählt und entfaltet. Allein der erste Akt mit der erst aufkeimenden und schließlich jäh ausbrechenden Liebe Werthers ist so überaus suggestiv, klischeeefrei und berührend, wie es der aufdringliche Tristan niemals sein wird. Die Musik ist von Beginn an durchzogen von einer tiefen Wärme und Zuneigung zu den Protagonisten, und die Darsteller halten stets Schritt mit der hohen Anforderung, romantische Figuren höchst menschlich und real zu beseelen, auf dem Boden einer historisch und situativ genau umrissenen Individualität. Hier lernt man wirklich Menschen kennen und lieben, keine händeringenden Opernfiguren. Ich war beim Anschaun über die Maßen bezaubert und ergriffen.


    :hello:

    Liebe Freunde, verehrter Operus,


    ich finde dein Gesamturteil, gelinde gesagt, überspitzt. Ich habe seinerzeit, hier in Köln unter Bytschkow, in der Philharmonie eine konzertante Aufführung des Otello erlebt, übrigens in der dritten Reihe (man hörte ganz ausgezeichnet). J. Botha als Titelheld sang m.E. genau so statisch, wie du es hier für Antonenko formulierst, ohne das letzte Quentchen dramatischer Selbstpreisgabe. Da hatten wir es in Salzburg entschieden besser.


    Ich möchte dennoch ein wenig Kritik anbringen (Jammern auf allerdings sehr hohem Niveau): Mutis Otello hat mich nicht erschüttert. Das liegt zum einen am Stück selber. So großartig Boitos Libretto ist - die Entwicklung der Figuren ist kaum faßbar. Daher war Desdemona die dramaturgisch glaubwürdigste Figur, aber auch sie bot, sehr böse gesagt, nur ein idealtypisches Abziehbild, keine greifbar nuancierte Individualtät und psychologische Konkretion. Ihre Unschuld und Reinheit war in jedem Augenblick so unbezweifelbar, daß man Otello in seiner Verblendung stets bedauerte, aber sich nicht von seinem Wahn anstecken ließ. Es fehlte das Wanken des Bodens, der Verlust jedweder Verläßlichkeit, der Verrat jeder menschlichen Beziehung.


    Wenn Otello (und das gilt sogar für Shakespeares Stück) bloß eine Marionette in Jagos Fängen bleibt, läuft das Drama ins Leere. Die Ambivalenz des Titelhelden ist vielschichtig umsetzbar, etwa durch einen Altersunterschied zu der jungen Gattin, was schon von selbst ein psychologisches Gefälle in die Liebesbeziehung bringt. Ein junger, hitziger Otello wie in Salzburg sollte auch als Liebhaber überzeugend sein. Das große Liebesduett war von der Regie, und damit von den Sängern, verschenkt. Ich möchte "Venere splende" in seinem Hintersinn nicht im Astronomiebuch nachschlagen müssen, sondern ich will das Zittern des Begehrens in Otellos Stimme hören. Wenn sich die Ehegatten wie zwei Edelleute artig gegenüberstehen und ansingen, ist mir das zuwenig. Otello als einen hochdisziplinierten, distanzierten Staatsmann zu zeichnen, der sozusagen auch seine Eifersucht im Zaum hält, ist eine mögliche, aber nicht sehr ergiebige Lösung. Auch die Lichtregie war langweilig, wenn man an die rauschhaften Implikationen von "Già nella notte densa" oder das Täuschungsmanöver mit dem Taschentuch denkt.


    Man kann, und zumal mit so guten Sängern, weiter gehen und fragen, ob Otello etwa per se ein nur oberflächlich akkreditierter, um seine Reputation ringender Außenseiter ist. Irgendwo entsteht ein Riß in der Fassade, und alles beginnt zu bröckeln. Das gab es in Salzburg, wie gesagt, nur als Raummetapher in der Kulisse. Ist Desdemona vielleicht auch bloß Teil dieser Fassade, muß Otello sie erst umbringen, um sie wahrhaft lieben zu können? Bei Shakespeare beginnt das Stück mit dem Raub der jungen blonden Patriziertochter, deren schwärmerische Jugend nicht verhehlt, daß der reifere Feldherr aus dem Maurenland nicht nur unbesehen, sondern zumal wegen seiner exotischen Virilität zum Liebhaber gewählt wurde, über alle gesellschaftlichen Schanken hinweg (der Text ist da sehr drastisch).


    Aber eine psychologische Durchdringung der Charaktere war nicht das Anliegen der Salzburger Aufführung - eher eine idealtypisch objektivierte Veranschaulichung der Intrige, diesseits aller inneren Verwicklungen. Eine Art Musteraufführung, ein klingender Opernführer. Das ist gar keine kleine Aufgabe.


    :hello:

    Großartig, eine Sternstunde. Mustergültige Personenführung, ideal verkörperte Charaktere, wundervolle Stimmen. Auch in der Nahaufnahme mimisch ein Genuß. Otello und Desdemona, beide von faszinierend exotischer Ausstrahlung, perfekt ausbalanciert (und das will bei diesem Otello was heißen). Und was für ein Jago!


    Bei aller Überhitzung ist das Drama (auch bei Shakespeare) nie ganz frei vom kühl-kalkulierten und vorgeführten Ablauf einer psychologischen Maschninerie (daran erinnerten auch in Salzburg die porträthaften Zuschauer höfischer Prävenienz). Otello sprengt eigentlich alle Begriffe menschlicher Eifersucht, so wie Jago sich dem Bösen in Menschengestalt annähert. Die Inszenierung beließ das Monströse in räumlichen Andeutungen (Risse und Brüche der Kulissen). Mit diesen Sängern wäre vielleicht noch Schonungsloseres möglich gewesen. Aber die gezeigte, eher dezente Umsetzung kam auf ihre Weise einem theatralischen Ideal sehr nahe.


    :hello:

    Da ich gerade die Walküre anschaue und -höre: unterhalb der blu-ray-Qualität diskutiere ich nicht. Siegmund und Wotan sind die Stars, aber die Damen sind auch großartig, v.a. Fricka und Brünnhilde. Die große, die Schlüsselszene Wotan-Brünnhilde im 2. Akt ist von einer sängerischen und darstellerischen Intensität, die Wagner nichts schuldig bleibt (ohnehin eine meiner Lieblingsszenen). Der Klang ist dabei immer so glasklar, luftig und glutvoll, als sei man live dabei. Und die Sänger klingen sehr natürlich, nicht so gezoomt wie im Met-Ring unter Levine. Natürlich kenne ich Kaufmanns überwältigende Leistung dort. Aber Seifert steht dem, vor allem aus dem Blickwinkel der Abdeckung wichtiger, zumal der tragischen Rollenfacetten, nicht nach. Einfach phantastisch.


    Zu den bösartigen Kommentaren ("Zirkus") äußere ich mich nicht. Das Niveau dieses Forums ist mitunter zu bedauern.


    :hello:

    Ich gehe vermutlich zu selten ins Theater, um hier konsequent mitreden zu können. - Gestern hatte ich den Einfall, meine alte Toscanini-Traviata (RCA LM 6003) aufzulegen. Es war ganz erstaunlich, wie wenig kulinarisch das dirigiert ist. Nichts von belle époque, bohème, genre maupassant. Das dritte Bild (Kartenszene) ist geradezu ätzend martialisch und dramatisch verdichtet. Ich dachte an Lars von Triers Kreidefeld-Dramaturgie in den Südstaaten-Filmen. Die Szene schrumpft zur Andeutung, aber aus den Darstellern wird alles herausgeholt. - Aber Toscanini hat diesen frühen Verdi angeblich auch wenig geschätzt, lieber war ihm der Parsifal ...


    :hello:

    Lieber hami1799,


    laß es dir gesagt sein: schöpferische Arbeit in einem vorgesteckten Rahmen ist immer die einfachere Lösung, ob in der Erzählkunst oder der Dramatik. Die Alternative heißt aber nicht totale Freiheit (da machst du es dir etwas zu leicht), sondern: schöpferisches Überschreiten des Horizonts von Bekanntem und Erwartbarem.


    Ich gestehe überdies, daß mir die Klassiker lange nicht geläufig genug sind, um nicht in jeder erdenklichen Inszenierung noch etwas Neues über sie zu erfahren; und sei es das Projekt nach Molières "Geizigem" am Maxim-Gorki-Theater oder die Oberhausener Ibsen-Nora.


    :hello:

    Wie es sich gezeigt hat,
    können recht viele Nostalgiker auch mit durchaus modernen Inszenierungen leben, die RT-Freunde aber selten mit den "altbackenen". Vor allem bei Kritikern ist das oft zu finden.
    Eine recht eigenartige Erscheinung.


    Lieber hami1799,


    ich möchte den zweiten Teil der These dementieren. Peter Stein, vormals ein typischer Vertreter des Regietheaters, hat an seinem Haus, der Schaubühne zu Berlin, eine geradezu mustergültig altmodische Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" vorgelegt. Publikum und Presse zeigten sich damals begeistert.


    Mit einem lichttechnischen und choreographischen Wunderwerk, mit einer Schönheitsorgie hat Peter Stein 1988 den Kirschgarten und alle Schaubühnenkunst gefeiert. (Benjamin Henrichs, DIE ZEIT)


    Wer in der Folge Gelegenheit hatte, geistesverwandte Inszenierungen an diesem Haus zu sehen (ich denke etwa an Tschechows "Drei Schwestern" bis hin zu Schnitzlers "Der einsame Weg"), wird hier eine stilbildende Ästhetik kaum verleugnen können.


    :hello:

    Wenn man nur auf das Phänomen HIP blickt, erkennt man die Dynamik in der Entwicklung nicht bloß des Musizierstils, sondern auch unserer Wertmaßstäbe. Dazu braucht man ja bloß auf frühe Tondokumente zurückzugreifen, etwa die Johannespassion unter Gillesberger (unter Mitwikung Harnoncourts und seines Concentus Musicus). Damals verstieß diese Aufnahme gegen alle Hörgewohnheiten; und ich meine, daß ihr bis heute hörbar etwas von einer Verweigerungsgebärde anhaftet, eine Sprödigkeit und Keuschheit im Klang; während gegenwärtig Barockmusik auf Originalinstrumenten ein sinnliches und virtuoses Vergnügen ist, was eben auch mit der gewaltigen Akzeptanz beim Publikum zu tun hat, den Verfeinerungen, die daraufhin eine Konkurrenz unzähliger Spielvereinigungen erst hervorgebracht hat. Doch neben Harnoncourt praktizierten auch Richter und Münchinger, I Musici, später Marriner (um bloß ein paar ganz bekannte herauszugreifen); und wenn die Vermittlung von originalklanglicher Askese zu romantisierender Sinnlichkeit (und Hörgewohnheit) heute nicht mehr von moderat historisierenden Orchestern geleistet wird, so vornehmlich deswegen, weil barockes Musizieren inzwischen alle emotionalen Facetten und instrumentalen wie vokalen Finessen selbst auszuschöpfen vermag, in einer Weise, wie man das um 1960 nicht hätte erwarten können.


    :hello:

    Bei "Wikipedia" lesen wir:


    Strauss hatte in dieser Zeit zufällig Hermann Hesse in einem Schweizer Hotel kennengelernt. Hesse war die Begegnung nicht angenehm, auch weil ihm Strauss' "rauschender" Stil nicht zusagte. Zu den "Vier letzten Liedern" sagte Hesse später, sie erschienen ihm "wie alle Strauss-Musik: virtuos, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit, aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck."


    Dieses außerordentlich harte Urteil muß man nicht teilen. Zumal die beiden letzteren Einwände befremden; gruppiert Strauss die Hessegedichte doch, zusammen mit Eichendorffs "Im Abendrot", um ein unausgesprochenes poetisches Zentrum.


    Strauss´ Musiksprache - das läßt sich an den modulatorischen Abläufen ablesen - ist im ganzen Zyklus moderat, am romantischen und tonalen Erbe orientiert, ohne ins Schablonenhafte zu verfallen. Selbst das scheinbar volksliedhaft schlichte "Im Abendrot" erweist sich, durch die Tonartrückungen und Periodisierungen, als ein kompliziertes Gebilde, das seine sanglichen Elemente zu einer kunstvollen Einheit von gleichsam religiöser Dichte verschmilzt.


    Nicht anders als beim späten Mahler erklingt die romantische Tonalität in einem rückwärtsgewandten, nostalgischen Zauber, dem das Wort "Heimweh" nicht schlecht zu Gesicht steht. Die Freiheit von Sentimentalität oder gar Kitsch liegt dabei auch im Ohr des Zuhörers. "Es ist wunderschön ... es ist ist nicht zu sagen!", formulierte Webern zum "Lied von der Erde"; und auch da findet sich, etwa zum Schluß von "Abschied" ("Die liebe Erde ..." Part.Zf. 58) fast zuviel des Guten. Ein harfenumrauschtes C-Dur, chromatisch gewürzte Quartolen zum 3/4-Takt ("Erde"), lang übergebundene Gesangstöne, unter denen verminderte Septimenakkorde sich anballen ("blüht auf"); eine überraschende Wendung nach Des-Dur (in den Posaunen und Fagotten) zu dem gehaltenen e (Gesangsstimme, "Lenz") und g (1. Geigen) - schon das allerdings ist "moderner" als der Vorhalt gis-fis (D-Dur) oder fis-e (C-Dur) in den "Vier letzten Liedern"; zumal bei Mahler der Vorhalt gar nicht aufgelöst wird, da nach dem zwei Takte gehaltenen, durch ein Harfenarpeggio bekräftigten Des-Dur die Fortschreitung nach f in Gesangsstimme ("grünt") und Geigen auf den A-7-Akkord fällt und auch im weiteren Verlauf keine Lösung erfährt.


    Dennoch - die ewig blauenden Fernen, zu Mandolinengezirp und Celesta, haben auch etwas Ironisches, ein Quentchen zuviel an Stimmungsmalerei vielleicht.


    Strauss hat sich, anläßlich von Mahlers Tod, in Distanz gerückt zu dessen (und auch des späten Wagner im "Parsifal") Liebäugeln mit dem christlichen Heilsversprechen. Ich will hier nicht klären, wieviel an Jenseitshoffnung im Pantheismus (oder gar Buddhismus?) des "Lied von der Erde" stecken mag. Strauss aber ist durch Hofmannsthal mit östlicher Eschatologie in Berührung gekommen - "Die Frau ohne Schatten" mit ihrer Verquickung von Geburt und Tod, ihrer Apotheose des generativen Aspekts unserer Existenz gibt davon mehr Zeugnis, als Straus vielleicht lieb war.


    "Ariadne auf Naxos" liefert dazu ein erstes Modell - noch ohne die Beschwerung durch das Ehe- und Mutterschaftsthema, doch bereits voll ausgebildet als Ersatzreligion von der "Verwandlung", dem Übergang vom Tod zu neuem Leben durch die Macht des Eros.


    "Gibt es kein Hinüber?" - diese betörend in Töne gesetzte und musikalisch durch ihre Akkordrückungen halb beantwortete Frage hat dennoch etwas von den Mandolinen am Schluß von "Abschied". Das liegt nicht nur an der hoch ironischen, quasi Thomas-Mannschen Anlage des mythischen Stoffs, sondern auch an der Orchestrierung, die hier eine Spur zu ausgefeilt und gemacht wirkt, um den Hörer so tief zu ergreifen, wie das Libretto es an dieser Stelle eigentlich erwarten ließe.


    Etwas Ähnliches empfinde ich auch gegen Ende von "Beim Schlafengehen", bei der Phrase "tief und tausendfach" mit ihrer über Septakkord-Vorhalte sich aufgipfelnden Befreiungsgeste - da schwingt eben zuletzt doch ein Hauch Léhar mit. Aber auch hier hätte Hesse mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Routinier Strauss Unrecht. Denn bereits das Gedicht verbrämt seinen Gegenstand durch eine metaphorisch-hyperbolische Unaufrichtigkeit, über die nicht bloß Freud herzlich gelacht hätte.


    :hello:

    Fassen wir das Gedicht, etwas diesseits von Hesses goldschnittartiger Poesie, zusammen:


    Ich bin tagmüde
    und will die Nacht bereit
    und zutraulich willkommen heißen,
    nichts mehr tun,
    nichts mehr denken,
    will mit allen Sinnen
    in Schlaf sinken
    und unbewußt
    im Traum
    alle schöpferischen Kräfte
    meiner Seele entfalten.


    "Im Zauberkreis der Nacht", das heißt ja zugleich: gebannt an einen Ort und in Sicherheit.


    "Hände, laßt von allem Tun" - vom marxistischen Standpunkt läßt sich das Gedicht wunderbar verreißen: Der Dichter, abgespalten von produktiver Tätigkeit, erträumt sich ein unerfüllbares, kindliches Glück und eine Freiheit, die nur im passiven Schlaf real ist.


    "Tief und tausendfach zu leben" - die klangschöne Formel, die das wahre Leben geradezu mit dem schrankenlosen Unbewußten identifiziert, ist gleichsam die Apotheose der affirmativen Tendenzen des Gedichts. Sie entsptricht der "seligen Gegenwart" in "Frühling", deutet das Zufallen der "müd gewordnen Augen" in "September" positiv um und beantwortet gewissermaßen, durch das ausatmend kadenzierende Bekräftigen des Zeitworts "leben" die Schlußfrage des Eichendorfflieds: "ist dies - etwa - der Tod?"


    Und hieß es zu Beginn des "Frühling" nicht: "träumte ich lang" ? Die "Bäume und blauen Lüfte" befreien den Traum aus der Gruft nach lichtem H-Dur, als vorläufiger Quartsextakkord mit fis im Baß. "Im Abendrot" rückt bei den Schlußworten "... der Tod?" von b-Moll nach Ces-Dur, in Quartsextlage mit ges im Baß. Enharmonisch entsprechen sich so Anfang und Ende der Vier letzten Lieder und stützen auch insofern die These, daß es sich um einen veritablen und kunstvoll ausgearbeiteten Zyklus handelt.


    :hello:

    Was nun kommt, ist allgemein bekannt.


    Und meine Seele spannte
    weit ihre Flügel aus,
    flog durch die stillen Lande,
    als flöge sie nach Haus.


    Nicht auszudenken, Strauss hätte an dritter Stelle Eichendorffs Mondnacht ausgewählt und die Schlußstrophe mit seiner Solo-Violinenweise unterlegt. Nun, das ist eine Unterstellung, denn Hesses Text lautet ja:


    Und die Seele, unbewacht,
    will in freien Flügen schweben,
    um im Zauberkreis der Nacht
    tief und tausendfach zu leben.


    Wunderbar genug setzt die Sologeige mit dem vergrübelten Einleitungsmotiv samt Synkope und Septimensprung ein (as-ges-f-es-as). Ganz entfernt, nämlich durch die Verbindung von Quart und Septime, fühlen wir uns an das Es-Dur-Violinsolo Partiturziffer 137 der Frau ohne Schatten erinnert - das Motiv der Kaiserin. Aber schon die weichen Triolen, die in September die "müd gewordnen Augen" des Sommers umspielen (und aus der trillerähnlichen Sechzehntel-Sekundfigur abgeleitet sind), bringen ein Vor-Echo jener Wiegenliedweise, die sich jetzt, am Ende von "Beim Schlafengehen" in Abschnitt C, in ruhigem Des-Dur bewegt, voll mozartischer Nostalgie, um in Abschnitt D über b-Moll, Ces-7, Fes-Dur, den Tristanakkord f-as-ces-es bzw. B-Dur nach es-Moll zu geleiten und von dort über ges-Moll wieder zurück nach As 7, auf dem die Singstimme einsetzt: "Und die Seele", in einer ausgreifenden, nach Des-Dur zurückkehrenden und darin schwelgenden Phrase, der ersten kantablen Wortdehnung dieses Liedes. Es folgen weitere: "Will in freien", von ges-Dur aus in einer Fioritur, die an die chromatische Unterlegung von "alle meine Sinne nun" gemahnt, über es-Moll und As 7 sozusagen auch sinnenbefreit auf Des-Dur ("Flügen") wiederum sanft landend wie ein Schmetterling auf einer schaukelnden Blüte. "schweben" beginnt in b-Moll und weitet sich über Ces 7 und Fes-Dur (bekanntlich) aus, über Tristan und B-Dur trifft der "Zauberkreis" es-Moll als Arpeggienkaskade und rundet sich im ges-7-Vorhalt zur Des-Dur-Quartsext-"Nacht", wiederum von einer Arpeggienkaskade umspielt und mit dem nachgeschlagenen Celesta-Akkord der Gestirne illuminiert.


    "tief und tausendfach" nimmt nun die Sekundfall- und Septimensprungstruktur des Vorspiels zu einem letzten, weitgespannten Bogen auf und schraubt sich vom tiefen des bis zum zweigestrichenen b hinauf. Zuletzt senkt sich die Phrase über As 7 zum Des-Dur-Quartsextakkord. "zu leben" führt über einen übermäßigen Vorhaltsakkord auf as über As 7 nach Des-Dur zurück, mit einem übergebunden Vorhalt es-de.


    Im friedvoll verebbenden Nachspiel erklingt noch zweimal der auffällige Vorhalt des-es-bes-as bzw. ges (wohl As 7-9verm. auf des), bevor die hier augmentierte Hornphrase f-es-des-[Septimenprung]c-b-as, mit der die Singstimme zu ihrem letztmaligen Großbogen ansetzte, im ungebrochenen Des-dur-Schluß verhallt.


    :hello:

    Wir alle kennen ja den berühmtesten aller Shakespeare-Monologe, aus Hamlet, "To be or not to be" (III, 1) wo es weiterhin heißt:


    Sterben - schlafen -
    Nichts weiter! und zu wissen, daß ein Schlaf
    das Herzweh und die tausend Stöße endet,
    die unsers Fleisches Erbteil - ´s ist ein Ziel,
    aufs innigste zu wünschen. Sterben - schlafen -
    schlafen! Vielleicht auch träumen! -


    Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, daß damit die Thematik der "Vier letzten Lieder" als Zyklus erschöpfend umrissen ist. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele modifiziert sich zu einer der Kohärenz und Kontinuität des Bewußtseins, die die Zustände des Unbewußten mit einbegreift.


    Vor diesem metaphysischen Hintergrund entspinnt sich die Romanze (sogar als Violinromanze) des Einschlafens bei Strauss.


    Nun der Tag mich müd´ gemacht,
    soll mein sehnliches Verlangen
    freundlich die gestirnte Nacht
    wie ein müdes Kind empfangen.


    Das ist, in seiner lyrischen Verklausulierung, gar nicht so leicht zu verstehen, wie man vielleicht meint. Da steht ja nicht: Meiner Tage müde, sehne ich mich von ganzem Herzen nach Schlaf. Eher schon: Es ist Zeit! So müde, wie ich meines Tagwerks bin, soll mir die Nacht aus tiefstem Herzen willkommen sein, und ich will sie, in ihrem Sternenglanz, bereitwillig und ohne Widerstand, wie einen Freund aufnehmen.


    Ein fünftaktiges Vorspiel (4/8) durchläuft imitierend eine Achtelkette fallender Sekundschritte, zu Taktbeginn immer um eine Sechzehntel versetzt und synkopiert, in der zweiten Takthälfte wieder im Metrum, aber jeweils eine Septime nach oben versetzt, was den eigentlich diatonischen Abstieg in eine gewundene Aufwärtswindung der geteilten Streicher verwandelt. Der letzte Septimensprung in Takt 5 es-des in den Violinen schließt dabei den Kreis zum tiefen des der Bässe und Celli, mit denen die Bewegung einsetzte, und leitet in einer diatonisch abfallenden Sechzehntelkette zum Auftakt der Singstimme über.


    Diese Einleitung im tiefen Streicherregister klingt ein wenig wie eine aphoristische Version des zergrübelten Vorspiels zum 3. Akt der Meistersinger, nur daß hier kein Mahnruf erfolgt: "Wach auf, es nahet gen den Tag!", sondern im Gegenteil.


    "Nun der Tag" mündet, nach den ungewissen f-Moll-Harmonien des Beginns (Orgelpunkt auf c) in es-Moll, um sich über b-Moll ("mich") bei "müd gemacht" nach f-Moll zu wenden. "Soll mein sehnliches Verlangen" hellt sich nach Des-Dur und As-Dur auf, "freundlich" hat wieder b-Moll, "die ge- ..." f-Moll, und "...-stirnte" einen auffallend hoch und dicht registrierten des-Moll-Akkord (Holzbläser und Celesta). "Nacht wie ein" geht nach As-Dur (es-as), "müdes" springt wieder eine Quart höher auf des, während das Orchester, wiederum Holz und Celesta, einen noch auffälligeren A-Dur-Akkord aufleuchten läßt. "Kind empfangen" bewegt sich, einschließlich des nachgeschlagenen dritten Holz-und Celesta-Akkords, in E-Dur; dann setzt eine chromatische Trübung ein, die das "Hände, laßt von allem Tun" über cis-Moll und Gis 7 förmlich zerfahren läßt. "Stirn, vergiß du" gewinnt in A 7 und D-Dur wieder sicheren Boden und Zuversicht, "alles Denken" streift, nach A 7 und dem verminderten Septakkord (Verschärfung nach ais) kurz h-Moll, um nun eine chromatische Kaskade von allen möglichen Septimenkakkorden niedergleiten zu lassen: "Alle meine Sinne nun", mündend in d-Moll "wollen sich in Schlum- ...", über die Rückung a-as, also f-Moll, auf der letzten Silbe ("... -mer") nach Des-Dur überleitend, der nun erreichten Haupttonart der Schlußstrophe.


    Die chromatisch niedergleitende Akkordpassage zu "alle meine Sinne nun" verbindet, liederübergreifend, den Vers "[es zittert] durch all meine Glieder" aus "Frühling" mit "daß wir uns nicht verirren" aus "Im Abendrot" - eine wahrhaft beziehungsreiche Vertonung.


    :hello:

    Da ich das Gedicht "September" hier arg verrissen habe, möchte ich das Lied gegen meine Voreingenommenheit in Schutz nehmen.


    "September" entbehrt gewiß der emotionalen Gestik und Dynamik, die "Frühling" auszeichnet; die Szenerie ist nicht der elementaren und überwältigenden Natur selbst nachgebildet, sondern dient als Hintergrund eines Stimmungsbildes - ein heikles Amoenotop. Vergleicht man die erste Partiturseite beider Lieder, so wird die Tendenz zum Flächigen und vergleichsweise Überinstrumentierten in "September" offenkundig.


    Das besondere an diesem Lied ist indessen seine spezifische Stimmungslage, eine melancholische Heiterkeit. Sie läßt sich, da das Gedicht ohne lyrisches Ich auskommt, auf die rudimentäre Rollenhaftigkeit des lyrischen Tons zurechnen, eine leicht übertriebene Einfühlsamkeit, wie man sie Kindern gegenüber gerne gebraucht. Wie genau Strauss diesen Tonfall erfaßt und umsetzt, zeigt etwa der Vers "Sommer lächelt erstaunt - und matt" mit seiner vielsagenden Pause und dem Absinken der lichten Stimmlage in entlegene Mollbezirke. Man denkt vielleicht an die Stelle aus Mozarts "Veilchen": "Es sank - und starb - und freut sich noch" und hört die unfreiwillige Ironie, die in der allzu großen Erwachsenenempathie immer mitschwingt.


    Diese Nuance der Ironie steht in einem schwer zu erweisenden Verhältnis zur heiteren Melancholie des Liedes im Ganzen. Zweiterbass hat den schönen Vorschlag gemacht, das mit dem Herbst sei ja deswegen gar nicht so schlimm, weil ja der Sommer übers Jahr bereits wiederkäme. Nun mag Strauss wiederum nicht mehr an ein weiteres Frühlingswunder geglaubt haben wollen. - Der Zyklus läßt die Frage offen, da er die Metapher, mit der "September" schließt, enharmonisch in jene von "Beim Schlafengehen" verwandelt.


    :hello:

    Strauss´ Kompositionstechnik durchschweift auf kurzem Raum verschiedenste Tonarten; dennoch mag man auch tonartliche Bezüge zwischen den Liedern feststellen, und zwar gerade wegen der scheinbaren Beliebigkeit im modulatorischen Ablauf.


    Robert hatte ja treffend A-Dur (im ersten Lied) als "Frühlingstonart" ausgewiesen; und so nimmt es fast Wunder, wenn vom "hohen Akazienbaum" ausnahmsweise in lichtem A-Dur gesungen wird. Auch die Lerchen im "Abendrot" steigen in A-Dur in die Höhe. Mit einer Wendung von Cis 7 ("Duft") nach B 7 und Es-Dur wird dort die Distanznahme des Verses "Tritt her und lass sie schwirren" symbolisiert; und ist es Zufall, daß die Chromatik von "Lange noch bei den Rosen bleibt er stehn" sich - über ein angedeutetes Cis 7 - nach B 7 und Es-Dur wendet, der Tonart von "Im Abendrot"? Oder daß das D-Dur als Tonart von "September", bekräftigt etwa in der Kadenz A 7 - D-Dur zu "sehnt sich nach Ruh" eben das Gefälle der Jahreszeiten, Systole und Diastole mit beschreibt? - In "September" erscheint A-Dur nur noch an einer weiteren Stelle - als Ausweichakkord im Fis-Dur-"Gartentraum". - Wem das alles seltsam vorkommt, der wundere sich nicht, daß unser nächstes Stück, "Beim Schlafengehen", erst in As-Dur (oder f-Moll?) und später in Des-Dur notiert ist und so auch schließt.


    Auch auf motivisch-thematischer Ebene lassen sich Bezüge zwischen den Liedern herstellen. Der strahlende Quartsextakkord, mit dem (wenn man so will) "Im Abendrot" sein Sonnenuntergangstableau eröffnet, findet sich, verengt, ausgedünnt und unbeständig, zu Beginn von "September", dessen doppelt punktierte Viertel mit hüpfender Sechzehntel-Sekunde in der punktierten Diatonik der Sonnenuntergangsweise ebenso vorgebildet sind wie die angebundenen Sechzehntel-"Triller" jeweils bei "Sommer". Mit seinen audrucksvollen Sextenphrasen nimmt "Im Abendrot" zugleich Bezug auf "Frühling", mit der fallenden Diatonik auf "September".


    :hello:

    Nicht nach "Ruh", sondern nach "Augen zu" erklingt der Tristan-Vorhalt cis-h (im Horn) - um Pardon. Auch das eigentlich unübersehbare crescendo im Zwischenspiel vor der letzten Strophe, nach "Gartentraum", habe ich offenbar übersehen.


    Hesses Gedicht "September" ist leicht süßlich, am Ende mit einer prononciert infantilen Note ("tut er die [...] Augen zu"). Dieses regressive Gehaben bleibt vordergründig ohne Beziehung zum sentimentalen Rest des Gedichts, dem personalisierten, schauernden und lächelnden Sommer in seinem verregneten Garten. Aber Strauss vertont das Gedicht durchaus in einer verstellt-naiven Attitüde, als habe er Mahlers Ausspruch zu seiner IV. Sinfonie im Ohr:


    Im letzten Satz erklärt das Kind, wie alles gemeint sei.


    Erst durch das kompositorische Netz werden die äußerlich formverwandten Gedichte "Frühling" und "September", ungeachtet ihrer völlig verschiedenen lyrischen Haltung und Rollenhaftigkeit, in ein Kontinuum der Affinitäten überführt. Die emphatische "Gegenwart" im luziden Frühlingserlebnis steht dem sanften Entschlummern des Spätsommers zu Beginn des Herbstes entgegen. Und so wie die "selige Gegenwart" in "Frühling" aus (winterlichen) "Grüften" auferstand, so durchzieht auch das Septembergedicht eine morbide Sterbemetaphorik, die das kindhafte "Zutun" der Augen zuletzt in ein zweideutiges Licht rückt.


    Gerade aber an dieser Kindhaftigkeit des kreatürlichen Schlafs entzündet sich die Imaginationswelt des nächsten, von Strauss ausgewählten Gedichts "Beim Schlafengehen". Es sind also weniger die Gedichte selbst, sondern zuvörderst ihre Zusammenstellung, was ihnen im Zyklus Bedeutung verleiht.


    Als kleine Anmerkung: auch das ausgedehnte Melisma auf "Augen" wird von manchen Sängerinnen (z.B. Lucia Popp in der hervorragenden Tennstedt-Aufnahme) durch eine Textkonjektur mit einem zweiten "müd gewordnen" unterlegt, ehe erst ganz am Schluß, auf der liegenden Dominante A, "Augen" gesungen wird.


    :hello:

    Lange noch bei den Rosen
    bleibt er stehn


    Mitten in diese "Reprise" der Einleitungstakte, beim zweiten Undezimensprung zu der Bogenphrase in den Geigen, fällt die Singstimme mit einer ruhevollen an- und wieder absteigenden Gegenmelodie ein. Die Harmoniefolge (auf die einzelnen Takte bezogen) berührt E-Dur, B 7, Es-Dur, B 7, Es-Dur, mit einer in Sexten geführten, chromatischen Vorhaltsweise, zunächst in den Geigen und Celli, im unmittelbar anschließenden zweitaktigen (B 7, Es-Dur) Zwischenspiel im voller Orchestrierung und strahlender Höhe.


    Beim Einsatz der Singstimme und hier, zu Beginn des Zwischenspiels, wird ohne weiteres crsecendo oder decrescendo ein forte angezielt - abgesehen von einem mf beim Schauern des Sommers bewegte sich das Lied bloß zwischen p und pp; wir haben also den dynamischen Höhepunkt erreicht. Die in sich kreisende Harmonik, der Sextenglanz mit den chromatischen Vorhaltsbildungen; die mit den Sekund-Sechzehnteln anrollende und auf den sanglichen Bogen d-es-as-g auslaufende Bewegung suggerieren hier schon etwas wie herbstlichen Glanz voll Wehmut.


    Eine Sequenz dieser Passage, nach A 7 und D-Dur transponiert, bildet den Untergrund des Folgeverses:


    sehnt sich nach Ruh


    mit der auffälligen Tonfolge cis-h-g-d, also einem Septimenfall nach unten.


    Mit "Ruh" verlangsamt sich auch die Bewegung im Orchester (Abschnitt F). Ein auf A 7-9 hinauslaufendes e-Moll zu "langsam tut er die" klingt wie ein letztes mattes Echo der prunkvollen Herbstfigur. "müd gewordnen" ist ein von Triolen umspieltes D-Dur-6-Arpeggio abwärts; "Augen" eine Variante der langgezogenen Phrase zu "lange noch bei den Rosen", über die sich ein letztes Mal die Undezimenphrase hinzieht. Die Harmoniefolge h-Moll, H 7, e-Moll, A 7, D-Dur bietet nichts Überraschendes. In einem längeren, zarten Orchesternachspiel klingen die Idiome des Lieds, zumal das frohlockende Eingangsmotiv mit den angebundenen hüpfenden Sechzehnteln in der Tiefe aus. Gleich nach "Ruh" erklingt auch ein letztes Mal der Tristan-Vorhalt cis-h in G-Dur.


    Der zur Ruhe kommende Ausklang des Stücks entbehrt, bei aller Konventionalität der Mittel, durchaus nicht der Poesie.


    :hello:

    Besonders der erste, süßliche Vorhalt, der den Leitton der Dominante in die Durterz der Subdominate münden läßt


    Ich muß mich schon wieder für eine Ungereimtheit entschuldigen: gemeint ist die Durterz der Dominante (das ist, von der Tonika aus, der Leitton) als Vorhalt zur Durterz der Subdominante. Jeder kennt das, aus dem Tristan-Vorspiel (Takt 17) oder dem Hauptthema aus "Gone with the Wind".


    Strukturell ergeben sich in den beiden Mittelstrophen von "Frühling" bzw. "September" engere Bezüge: als da wären der blendende Lichteffekt mit seinem matten Reflex zum Herbstbeginn (wobei der Vorhalt fis-e nach C-Dur schon im Vers "nun liegst du erschlossen" mittelbar vorhanden war, in der Melodiephrase e-fis a-g; zuerst Abschnitt C). Dem poetisch gerade noch akzeptablen "[wie ein] Wunder" in "Frühling" entspricht der "[sterbende] Gartentraum", sprachlich eher ein Mißgriff, als zentrales Resumée. Man kann sogar die Phrase auf "Wunder", die von H-Dur nach Cis 7 ("[vor] mir") moduliert, zum Fis-Dur bei "Gartentraum" in Beziehung setzen. Die vokale Klimax dieses Frühlingswunders wiederholt sich allerdings in "September" nicht: Dennoch, die ausgreifende Phrase im ersten Lied


    "[Wun-]der vor mir"


    schloß auf der Tonfolge eis-fis-d-cis (zwei kleine Sekundschritte umrahmen eine fallende große Terz), und die findet sich nicht nur ansatzweise bei der chromatischen Phrase "[du]lockst mich zart", sondern auch, in "September", im ersten Vers der Schlußsstrophe, einen Halbton nach oben transponiert:


    "[bei] den Rosen bleibt"


    auf die Töne f-fis-g-es-d. Gerade die Rosen kondensieren das erblühende Wunder des Frühlings als letztes Residuum.


    Solche Bemerkungen mögen dem einen oder anderen überspitzt scheinen; sie bilden aber Argumente für eine positive Aussage zum zyklischen Charakter der Vier letzten Lieder.


    :hello:

    Sommer lächelt erstaunt und matt


    G-Dur, C-Dur (nach einem Vorhalt fis-e), a-Moll, c-Moll und (nach einem Vorhalt g-f) d-Moll. Besonder der erste, süßliche Vorhalt, der den Leitton der Dominante in die Durterz der Subdominate münden läßt, erinnert an die Verhältnisse in "Frühling" bei "von Licht übergossen".


    Nach all dem Drängen und Weben verleiht das G-Dur den Orhesterfrben vorübergehnd Glanz, der sich im Forlauf nach Moll eintrübt. Die stockende Viertelpause zwischen e-c ("erstaunt") und es- c ("und matt") ist ebenso einfühlsam gestaltet wie die Sechzehntel-Trillerfigur für das Lächeln des Sommers.


    in den sterbenden Gartentraum.


    Wie gesagt, Gartenlaube. fis-Moll, Cis 7-9verm., (Melisma "sterbenden", vokal intervallreduziert, zu der diatonischen Bogenphrase, jetzt, mit einem Dezimensprung, in der Oboe); Fis-Dur (als übergebundene Liegefigur, mit Akkordtuperfn in Cis 7-9verm.) und Wendungen nach A-Dur (Tatk 34) und (über den verminderten Septakkord ais-e-g-cis Takt 35) nach E-Dur ("-traum"); wiederum das zweitaktige Einleitungsmotiv; Akkordausreißer nach H 7-9 und G-dur). Als Überleitung folgt, wie eine Reprise der Anfangstakte des Liedes, das Zurückschnurren des E-Dur-Quartsextakkords über die Sextolenarabeske und die Bogenphrase der Violinen mit dem Undezimensprung (eis-a²).


    Anders als in der ersten Strophe mündet die im Gesang gleichsam erstickte Oboenphrase nicht in trübem Moll (d-Moll bei "Regen"), sondern in der reprisenhaft wiederholten frohlockenden Eröffnungsfigur, und zwar auf die für den Liedzyklus überaus relevante Metapher "Traum" (so abgedroschen sie, im Gedicht selbst, erscheinen mag).


    Immerhin läßt sich sagen, daß Strauss hier sehr ökonomisch mit dem motivischen Material verfährt.


    :hello:

    Prima le parole, dopo la musica -


    das ist, werte Mitstreiter, ein weites und verlockendes Feld für ausschweifende Zwischenbetrachtungen. Ich möchte dennoch bei "September" bleiben.


    Golden tropft Blatt um Blatt
    nieder vom hohen Akazienbaum


    Die Harmonien wechseln nun taktweise, wie eine Hintergrundbeleuchtung: Ges-Dur, Ces-Dur, Ges-Dur; A-Dur, der Tristanakkord dis-cis-fisis-ais, gis-Moll. Diese eher flächige Grundierung wird überlagert von einer dichten Motivstruktur, die die rollende Achtelfigur, die stilisierten Sechzehntel-Triller sowie die aus der Einleitung vertraute Liegenote mit dem angehängten Sechzehntel-Sekundsprung verwebt, letztere abwechselnd in Diskant und Baß. Hinzu kommen, zunächst in den Flöten, dann kombiniert mit den Violinen, Kaskaden niederrieselnder Arpeggien (in Quintolenschnörkeln, Achtel-Triolen und Achteln).


    Die Durseligkeit dieser Klänge hängt mit dem im Gedicht vorgestellten Szeneriewechsel zusammen - nicht mehr der kühle Regenschauer, sondern die von der Sonne vergoldeten Federblättchen der Robinie an einem Septembernachmittag, wie sie im leichten Luftzug herniederschaukeln, verleihen der Musik ihre duftige Heiterkeit. Das musikalische Gewebe hat etwas aus der Tiefe sich Anbahnendes, sich Vorbereitendes, das fast nach Frühlingsrauschen klingt. Über dem melancholischen gis-Moll-"Akazienbaum" erklingt der diatonische Melodiebogen (nach einem Oktavsprung) in der Klarinette. Die Singstimme zeigt sich von dem fluktuierenden Orchestergeschehen unberührt; sie verläuft in ruhevollen Notenwerten.


    Ein zweitaktige, drängendes Zwischenspiel, erweitert nach dem Modell des eintaktigen am Ende der ersten Strophe, legt das frohlockende Eingangsmotiv jetzt auf den Liegeakkord D 7 (mit Sechzehntel-Tupfern in Es-Dur und f-Moll) und kadenziert, immer noch aus D 7, nach G-Dur.


    :hello:

    Lieber Zweiterbass,


    schön, daß du Hesse etwas in Schutz nimmst; vielleicht bin ich ja viel zu hart mit ihm. Und natürlich berührst du einen wichtigen Punkt, nämlich die Spannung von reversibel und irreversibel, die ebenso zwischen den Jahreszeiten und den durch sie symbolisierten Lebensphasen wie zwischen dem naiven Einschlafvorgang und dem letzten Schließen der Augen waltet. Ein Fragezeichen aber setze ich hinter deine Auffassung, "der" Sommer gehe bloß jahreszyklisch zu Ende, sei gleichsam ein zeitloses Abstraktum. Wenn man älter wird, sucht man doch immer nach den Sommern der Kindheit, und die sind auch unwiederbringlich dahin.


    :hello:

    Lieber Zweiterbass,


    das sehe ich ganz genauso und hat Teil an dem, was ich als "Verdichtung" bezeichnete.


    In "September" steht vor dem nächsten Vers (Abschnitt B) ein eintaktiges Zwischenspiel, aus den harmoniefremden Akkordtupfern entwickelt, in fließenden Achteln von d-Moll über D 7 nach G-Dur führend. Die Melodie ist in Sexten geführt und berührt zwischendurch auch F-Dur und Es-Dur - die Chromatik, die Quartsextparallelen klingen wiederum exotisch und erinnern zumindest mich an die Stelle aus "Von der Jugend" im "Lied von der Erde", wo es "Auf des kleinen Teiches stiller, stiller Wasserfläche", quasi als Angelpunkt der musikalischen Bewegung, ebenfalls um Vergänglichkeit geht. - Die hohen Holzbläserakkorde bei der Überreichung der silbernen Rose im "Rosenkavalier" bilden einen weiteren Bezugspunkt dieser chromatischen Parallelverschiebungen.


    Der Sommer schauert still
    seinem Ende entgegen


    G-Dur, Es-Dur, G-Dur, g-Moll (bzw. C 7[-9]), B-Dur 4-6, F 7 und B-Dur bilden den für Strauss auffallend konventionellen harmonischen Rahmen. Der koloristische Wechsel zwischen G-Dur und Es-Dur im ersten Vers malt das Erschauern, indem die Singstimme, in einer angedeuten Trillerkoloratur, von h nach b sinkt. Das friedliche Kadenzieren nach B-Dur läßt einmal mehr die Bogenphrase der Violinen erklingen, um auch den Reimbezug zwischen "Regen" und dem "Ende [entgegen]" auszukomponieren.


    Strauss, am Ende seines Lebens, mag diese Vergänglichkeitspoesie anders berührt haben als mich - "dem Ende entgegen" ist ein abgedroschener Euphemismus, der in einem Gedicht von Rang nichts zu suchen hat; das Verb "schauern" aber wirkt in diesem Zusammenhang deplaziert und grotesk. - Rilke ("In einem fremden Park", "Vor dem Sommerregen", "Die Sonnenuhr") hätte subtilere Texte zur Gartenvanitas geboten als dieses vordergründige Stück aus der Gartenlaube.


    Ein weiteres eintaktiges Zwischenspiel moduliert von B-Dur über es-Moll und Des 7 nach Ges-Dur.


    :hello:

    Der vorige Beitrag ist leider besonders unanschaulich geraten. Die ersten beiden Verse bilden für die Singstimme eine einzige abwärts gleitende Linie, vom zweigestrichenen D in D-Dur zum eingestrichenen D in d-Moll. Vokallinie und thematische Gesangsbögen im Orchester sind so kombiniert, das alles melodisch Leuchtende im Fall der Stimme nicht recht zum Tragen kommt, sondern sie in einem verengten Intervallraum nach unten zieht (statt einem Undezimensprung macht sie nur einen verminderten Quartschritt nach oben; unter dem weiträumigen, eine Sexte umspannenden Violinenmotiv macht sie bloß einen langgezogenen Halbtonschritt aufwärts usw.)


    Der Klang der übergebundenen Quartsextakkorde (Viertel- + punktierte Achtelnote) mit den harmonischen Farbtupfern jeweils auf das letzte Sechzehntel der schlechten Taktteile hat etwas leicht Exotisches. Der schwebende Rhythmus, das Unorganische und Statische sind sehr verschieden von der naturalistischen Dynamik des ersten Liedes, das in verdichteter Form zahllose Assoziationen streifte, während "September" mit weichem Pinsel scheinbar bloß eine einzige auskoloriert.


    :hello:

    Ganz unbeeindruckt bleibt die Komposition durch das "trauert" freilich nicht: Hier wendet sich die Melodie, mit einer Sequenz des Quartsprungs (d-a bzw. h-fis) in die Paralleltonart h-Moll.


    Wer will, kann sich die Lieder auf youtube mit Waltraud Meier und Joseph Breinl in der (nicht Straussischen) Klavier-Auszugs-Version anhören. Das hat natürlich mit der Orchesterfassung kaum mehr etwas zu tun, verdeutlicht aber die musikalischen Zusammenhänge erheblich.


    Um off topic ein wenig persönlich zu werden, will ich erwähnen, daß dieses Lied, "September" meine erste Begegnung mit den Vier letzten Liedern überhaupt war. Ich hatte als junger Mensch bereits früh einen eigenen Fernseher und zappte eines Sonntagmorgens einmal in eine Konzertübertragung oder -aufzeichnung, war es aus Wien? dirigierte Karajan oder Bernstein? - jedenfalls sang Gundula Janowitz, und es begann gerade das zweite Stück. Ich litt damals unter einer sehr flüchtigen Aufmerksamkeit und habe eigentlich bloß die erste Gedichtzeile richtig verstanden, mir aber daraufhin bereits ein recht zuverlässiges Bild von dem gemacht, worum es hier ging. "Der Garten trauert" war so etwas wie eine magische Formel für Jahrhundertwendeschwermut, fürs Fin de siècle, so etwas wie das Wesendoncksche "Im Treibhaus", von Rilke gedichtet, usw.


    Dieser Eindruck hatte sich jedenfalls bei mir festgesetzt, und dabei blieb es, bis mir Jahre später ein guter Freund und Plattensammler die Ackermanneinspielung von "Frühling" vorspielte.


    Grob besehen, ist "September" in der Struktur weit unter dem Komplexitätsniveau von "Frühling". Dennoch gibt es auch hier eine Verwebung von Gesangslinie und Orchestersatz mit Ungleichzeitigkeiten. Der zweite Vers:


    Kühl sinkt in die Blumen der Regen.


    wird aus der diatonisch niedersinkenden Phrase der Geigen, diesmal mit einem Nonen- bzw. einem Undezimensprung, über drei Takte entwickelt. Die Vokallinie entspricht zunächst der Transposition der Phrase ins hohe Register der Celli und liegt, zu Beginn der Phrase auf "Blumen", als Gegenstimme tief unter den aufleuchtenden Geigen, um sich, zu der eine Quint höher liegenden Sequenz der Geigenweise im Folgetakt, eine Oktaver tiefer wiederum parallel mit der diatonischen Melodie zu bewegen.


    Die gesungenen Töne a-b-gis-c-b-a-g-f ("Blumen") sind schwer zu singen und bilden auch keine wirklich schöne Phrase aus. Der Zauber der seqeunziellen Melodiebögen der Geigen geht dadaurch irgendwie verloren (was man immerhin textlich rechtfertigen kann). Die Harmonien berühern g-Moll bzw. B-Dur, dann A 7-[9verm.] mit den dissonierenden Durchgangsnoten gis und c in Takt 9 (um es sehr schematisch zu fassen). "Regen" mündet dann in d-Moll, mit Ausgriffen nach es-Moll und Des-Dur.


    :hello: