Beiträge von farinelli

    Meine Freunde,


    tatsächlich habe ich hier wiederum einen Fehler verewigt, nämlich (Takt 3 von September) aus einer Sextolen - eine Quintolenfigur gemacht. Strauss verzeihe mir.


    auf des gestrengen Theophilos´ Nachfrage (Gott liebt uns, wenn er uns prüft): Ein Lied ohne Vorzeichen steht oder ist notiert in a-Moll bzw. C-Dur. Es beginnt aber oder setzt ein in c-Moll, mit seinem ersten Akkord nämlich (jedenfalls habe ich das so gemeint). Einem Musikwissenschaftler werden sich ohnehin die Haare sträuben.


    Lieber Zweiterbass: tatsächlich endet das Stück in A-Dur. Man könnte die Vorzeichenlosigkeit bereits als Lockerungsmaßnahme ansehen, als ein prinzipielles Offenlassen tonartlicher Strukturen zugunsten großer modulatorischer Freiheiten. C- Dur und a-Moll spielen, wie beschrieben, dennoch eine gewisse Rolle.


    :hello:

    Lieber hami1799,


    so ist es wohl. Kleist hat ja das Dilemma seines Gottes prägnant formuliert:


    Auch der Olymp ist öde ohne Liebe!
    Was nützt der Erdenvölker Anbetung,
    gestürzt in Staub, der Brust, der lechzenden?
    Er will geliebt sein, nicht der Wahn von ihm!


    Liebe als Selbstvergewisserung über den Umweg einer Liebschaft. Nun kann sich Lohengrin über mangelnde Liebe eigentlich nicht beklagen - schließlich hat Elsa ihn vom Fleck weg geheiratet. Liebe auf die letzte Instanz quasi (es ist immerhin ein Gottesgericht). Bleibt das Vertrauen (Ortrud säht ihre fatalen Zweifel). Aber auch an Vertrauen mangelt es nicht, da Elsa ja ihre Sache und ihr Leben unbesehen in die Hände des unbekannten Ritters legt - ist er doch so etwas wie der Mann von der Hamburg-Mannheimer für sie, immer im rechten Augenblick zu Stelle.


    Wenn man die Brautgemachsszene daraufhin zu Rate zieht, wird alsbald klar, daß es Lohengrin selber ist, der sich durch seine Unbefragbarkeit der beideseits beschworenen Nähe und Intimität des gemeinsam ausgekosteten Glücks ab ovo entzieht. In einer psychologisch besonders mißratenen Passage läßt sich der Ritter gar dazu hinreißen, das dürftige Eheglück an Elsas Seite gegen die Herrlichkeiten der Gralswelt aufzurechnen und ihr vorzuhalten, nur ihre Liebe ohne das nervige Gefrage könne ihn für die Einbußen an glanzvollem Prestige überhaupt entschädigen. Elsa scheitert nicht an der geforderten Bedingungslosigkeit ihrer Liebe, sondern an Lohengrins dünkelhafter Selbstherrlichkeit. Er zwingt ihr, auf eine geradezu perfide Weise, seine Regeln auf und verlangt von ihr im Gegenzug, all ihre Regeln zu brechen. Die Unhinterfragbarkeit seiner Regeln aber ist am Grunde des Grals eingraviert, neben dem Echtheitsstempel von Knoll International - er ist per lex catholica dazu legitimiert, überall Recht zu haben.


    :hello:

    Das Problem Lohengrins ist, dass er als Wesen aus einer höheren Sphäre versuchte, um seiner selbst geliebt zu werden, ohne dass dabei sein Rang in der Wertschätzung durch Elsa eine Rolle spielte.
    Sie ist nun logischerweise als menschliches Wesen nicht fähig den Bedingungen dieses "Helden", wie er auch vom Volk akklamiert wird, zu entsprechen.


    So auf den Punkt gebracht wie hier durch m.joho, habe ich das bislang noch nicht gesehen. Dramaturgisch erinnert es ein wenig an den beliebten Sonntag-Abend-Plot: erfolgreicher Broker, enttäuscht von den Ambitionen seiner Verlobten, flieht inkognito aufs Land und verliebt sich in eine alleinerziehende Bäuerin, deren Hof gerade durch die Machenschaften des Bankhauses, für das unser Broker arbeitet, zwangsversteigert werden soll. Das Lohengrin-Dilemma: Um ihre Liebe nicht zu verlieren, darf er nicht sagen, wer er ist; um sie zu retten, muß er sein, was er ist (nämlich Bank-Insider).


    Ich glaube, Milletre hat hier zuerst dafür plädiert, Lohengrin als ein höheres Wesen zu betrachten. Ich will daher daran erinnern, daß die Gralswelt nicht der Mars ist, und daß die Mitglieder der Gralsgesellschaft immer noch Ritter von Fleisch und Blut sind. An der Sphärenunvereinbarkeit selbst scheitert die Liebe zu Elsa noch nicht. Denn das gibt es ja auch, das Jupiter in Amphitryons (oder, in "Rendezvous mit Joe Black", der Tod selbst in Brad Pitts) Gestalt menschlicher Liebe teilhaftig zu werden versucht.


    Lohengrin ist, durch eine Art Gelübde oder Kodex, verpflichtet, ein Inkognito zu wahren, frei nach dem Motto "Tue Gutes und rede nicht darüber". Natürlich ist dieses Verbot, sich zu erkennen zu geben, ein Märchenmotiv, psychologisch und sozialethisch nicht restlos aufzuklären - man denke an Blaubarts siebte Kammer oder Turandots eherne Jungfräulichkeit. Man könnte es dramaturgisch als Überwindungsklammer bezeichnen; denn die Geschichte bewegt sich stets über die verbotene Schwelle hinaus.


    Bei Wikipedia lesen wir, daß Wagner (e.M.a.m.F.) selbst an die Tragödie unvereinbarer Sphären dachte:


    Wer kennt nicht „Zeus und Semele“? Der Gott liebt ein menschliches Weib und naht sich ihr in menschlicher Gestalt. Die Liebende erfährt aber, daß sie den Geliebten nicht nach seiner Wirklichkeit erkenne, und verlangt nun, der Gatte solle sich ihr, in der vollen sinnlichen Erscheinung seines Wesens, kundgeben. Zeus weiß, daß sein wirklicher Anblick sie vernichten muß. Er selber leidet unter diesem Bewußtsein, unter dem Zwange, das Verlangen der Liebenden erfüllen zu müssen und sie damit zu verderben. Er vollzieht sein eigenes Todesurteil, wenn der Glanz seiner göttlichen Erscheinung die Geliebte vernichtet. Ist der Mensch, der nach dem Gott sich sehnt, nicht vernichtet?


    Wenn man das einmal durchdenkt, erkennt man einen tiefen Grund für die dramaturgischen Klippen des Lohengrin-Librettos; denn Wagner wählt offenkundig ein völlig unpassendes Schema - Lohengrin ist nun einmal alles andere als ein Gott.


    Das Frageverbot, wie es im Parzival Wolframs von Eschenbach nachzulesen ist (Band 2 Buch XVI, Abschnitt 818 V 25ff), berührt die Legitimation (von Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung des Tempelritters), nicht die Identität.


    Was ich an Neuenfels´ Inszenierung bemerkenswert fand, war die unterkühlte, labormäßige Aufmachung der Brautgemachs-Szene mit ihrem an ein wissenschaftliches Experiment gemahnenden Rahmen, in der das Scheitern der Liebe von Anfang an besonders sinnfällig wurde. Das soll aber nicht als Rechtfertigung der Inszenierung gelten (ich fand sie nicht so umwerfend), sondern nur als eine andere Deutungsseite des "Rattenthemas".

    Ich sehe schon, ich werde auch das nächste Stück selber besprechen müssen.


    Passend zum Wetter, wenn schon etwas früh im Kalender, haben wir also ein Gartenidyll vor uns. "Frühling" war in Zeit und Raum weiter, auch allgemeiner gefaßt. Denn die bukolischen Elemente - Bäume, blauer Himmel, Wind, Duft, Vogelstimmen - gehören, wenn überhaupt, in einen englischen Landschaftspark, der auf gepflegte Weise die wilde Natur abbildet. Nicht der kühle März mit der Obstblüte über kahlen Feldern, wie van Gogh ihn gemalt hat, nicht der wetterwendische April - eher schon der frühe Mai mit seinem Vorsommerflair wäre das geeignete setting für Hesses Frühlingsgedicht.


    Die Intimität dieses Rencontres mit seiner zarten Lockung, dem Gefühl der Vertrautheit und dem wonnebebenden Aufleben hat selbst etwas Gartenhaftes, ein Phänomen der Nähe, wenn gleich Strauss den sachten Luftzug zu einem veritablen Zephyr aufbläst.


    Der "Spetember" wird nun ganz zum Garten- und Blumenstück, so als stünde die domestizierte Natur bis in die Metaphorik hinein allem Menschlichen näher. Ganz anthropomorph oder sympathetisch setzt das Gedicht ein:


    Der Garten trauert,


    um das im zweiten Vers quasi mit einer Beweinungsformel zu bekräftigen:


    kühl sinkt in die Blumen der Regen.


    Gleichzeitig malt dieser Vers aber auch den frisson, der im nächsten Verspaar angesprochen wird:


    Der Sommer schauert still
    seinem Ende entgegen.


    Das ist, zugegebener Maßen, nicht lyrischer Weltrang; eher schon Poesiealbenniveau. Nicht ein poetisch aufgefaßtes Naturgeschehen bannt die existenzielle Vergänglichkeit ins Gartenbild, sondern man erblickt ein Heckentheater, wo der verregnete Garten den sterbenden Sommer beweint.


    Man kann diese Armut an poetischer Binnenspannung auch Strauss´ Vertonung anmerken. Der D-Dur-Quartsextakkord, nur jeweils auf der letzten Sechzentel der unbetonten Taktteile (4/4) durch einen harmoniefremden Akkordtupfer (Es-Dur, F-Dur, e-Moll, fis-Moll) irritiert, bestimmt die ersten Takte, dann schnurrt das statische Gebilde über eine Quintolenarabeske in sich zusammen, und nach zwei mit einem Undezimensprung in die Höhe blühenden Melodiebögen der Geigen ist die Grundtonart mit den übergebundenen, quasi liegenden D-Dur-Akkorden wieder erreicht.


    Als erstes mag man konstatieren, daß sich Strauss von dem Verb "trauert" nicht hat verführen lassen. Seine Gartenelegie ist, wie die Hesses, von der heiteren Art. Triller und Arpeggien durchschwirren dieses Feengartenreich, und wenn einem die aus höchsten Höhen der ersten Violinpulte piano herabrieselnden Dreiklangskaskaden bekannt vorkommen, so erinnert man sich vielleicht des Schlußbilds der "Frau ohne Schatten" (Partiturziffer 167f). Dort symbolisierte das Niederrinnen das Auftauen des versteinerten Kaisers, war von wunderbar symbolhafter Suggestion. Hier im "September", als gleichsam vegoldeter Regen, erinnert es mehr an einen kunstvollen Zuckerguß. Und à propos - die Undezimensprünge gemahnen an ein sehr typisches Stilmittel Gustav Mahlers, wenn er das ausdrucksvolle Lagenregister einer Geigenkantilene durch eine appoggiatura aus der Tiefe unterstreicht.


    :hello:

    Lieber Zweiterbass,


    um Pardon, wenn ich mich hier ungefragt einmische. Ich hatte dich damals auch so verstanden, wie du es richtigstellst, und die Formulierung mit dem Stillwerden im Betrachter fand ich sehr treffend. Denn damit irgend ein Landschaftseindruck uns nicht bloß äußerlich, etwas oberhalb eines Achselzuckens, erreicht, muß etwas in uns vorbereitet sein, gleichschwingen oder es muß ein Mangel da sein, den die Aussicht uns erfüllt. Daß aber das Abendroterlebnis bei Eichendorff und Strauss unermeßlich tief reicht, gleichsam ins Grenzenlose, kann gar nicht bezweifelt werden. Die im Gedicht so alltäglich benannte Disposition ist die Müdigkeit, und zwar jene, die man bis in die Knochen fühlt.


    Deine in Lob gekleidete Kritik im letzten Satz kann ich gut begreifen. Heut beim Nachhausradeln dachte ich mir einen Einstiegssatz zu einer Zwischenbetrachtung aus, etwa i.S.v.: Was sagt das alles nun über die Bedeutung des Liedtextes aus, was ist darin ausgedrückt? Für mich beginnt das Dilemma schon im stilistischen Unterschied der vokalen Behandlung, vergleicht man "Frühling" mit "Im Abendrot". Das zuletzt Genannte ist sehr viel dankbarer zu beschreiben, da die musikalischen Phrasen kaum je das Silbenmaß überschreiten, also die Deklamation allenthalben gewahrt bleibt. Ganz anders als diese die Liedtradition aufgreifende Faktur scheint mir die opernhaft übersteigerte Melismatik in "Frühling" - man denke etwa an "Zweite Brautnacht, Zaubernacht" aus der "Ägyptischen Helena". Der hymnische Strauss ist eben sehr verschieden vom nüchternden Musikdramatiker Strauss mit seinem Sinn für Wort- und Tonfall.


    Die rasante Klimax, die Strauss in der letzten Strophe auf die beiden Schlußverse verwendet, entfernt sich von den Intentionen des Gedichts, das schwebend, knapp und beinah ohne Emphase daherkommt. Strauss ist hier wahrlich bigger than life, opulent und überladen - man stelle sich einmal vor, welche leise verhaltenen Töne ein Hugo Wolf für diese Strophe gefunden hätte (hätte er sich denn zu einer Vertonung herabgelassen).


    :hello:

    Verehrter Robert,


    ich habe eben die Masur-Aufnahme mit Jessye Norman angehört; "Ruhe meine Seele" wird dort als von Franz Strauss instrumentiert ausgewiesen und hört sich im Mittelteil ein wenig nach dem Monolog des Fliegenden Holländers an. Ich bezweifle daher, daß der so präparierte Zyklus an stilistischer Geschlossenheit gewinnt. Ich verstehe natürlich die Idee dabei -


    Diese Zeiten sind gewaltig,
    bringen Herz und Hirn in Not -
    ruhe, ruhe, meine Seele,
    und vergiss, was dich bedroht!


    - aber selbst das ist doch der biografischen Situation etwa der letzten Kriegsjahre nicht ganz angemessen; wenn auch die beschworene Seelenruhe des Vergessens sehr verführerisch im Konzept zwischen Frühling und Abendrot wirkte - als resignative Kapitulation.


    :hello:

    Musik - das zeigt sich hier einmal mehr - entzieht sich zuletzt der Beschreibbarkeit. Der hohe Grad an Verdichtung, wie er speziell die letzte Strophe auszeichnet, erscheint wie eine Engführung im Liedkontext mit Bedeutung aufgeladener musikalischer Gedanken. Als wichtigster hat sich dabei der von Robert Klaunenfeld benannte harmonische Komplex mit der Halbtonrückung und dem Sextenvorhalt erwiesen.


    Hesses dezent erotisierte Frühlingsbegegnung mit ihrem zart hervorgelockten Schauern und dem erfüllten Daseinsglück, wie es gemeinhin erst die erwiderte Liebe gewährt, wird von Strauss einer komplizierten, weitschweifig ausladenden Modulation anvertraut, mit großangelegten, ariosen Phrasen, die eine Entfaltung zum immer Strahlenderen und Überwältigenderen hin sinnfälig machen. Tatsächlich entspricht das letzte "selige" mit der Akkordfolge A-Dur, B-Dur, Cis-Dur, D-Dur [mit Sextenvorhalt] über einer chromatisch abfallendenden Baßlinie (einem Derivat der Seufzerkette) sowie dem D-Dur-Aufschwung zur Sexte (fis) einer nach reinem Dur umgefärbten Augmentierung der Phrase "von deinen Bäumen". Man kann in der so charakteristisch kadenzierenden Klangreihe geradezu ein Symbol des stetigen Neuanfangs sehen, dessen allgegenwärtiges Wirken das Ich mit umspannt.


    Auch die erfüllte "Gegenwart", das wissen nicht nur Proust-Leser, ist eine Aufhebung der Zeit. Um so unverständlicher scheint mir, daß die Interpretinnen nach dem zweiten einen dritten Neuansatz einflechten und dort, wo in der Partitur die "Gegenwart" ansetzt, ein weiteres "selige" ausspannen und die Gegenwart erst den Schlußtönen unterlegen. Vielleicht hat das auch editorische Gründe. Und damit kommen wir zum nächsten Stück.


    :hello:

    Das Jenseits war Strauss´Sache nicht; doch es wäre gewiß zu einfach, ihn als fest im Diesseits verhafteten Dionysiker zu sehen. An Hesses Frühlingsversen mag ihn dennoch eben dieses Diesseitige gereizt haben. Die Bewegung geht, von Strophe zu Strophe, vom ahnungsvollen Träumen zum anschaulichen Wunder und darüber hinaus zur identifikatorischen und physischen Durchdringung von Phänomen und Betrachter über und schließt mit einem existenzialontologischen Reizwort, nämlich der "Gegenwart".


    Du kennst mich wieder,
    du lockst mich zart


    Robert Klaunenfeld hat diese Passagen hellsichtig analysiert. Durch das pp und die metrische Erweiterung zum 9/8-Takt bildet das lang ausgehaltene "Du" einen fragilen und intimen Moment des Innehaltens, der gleichsam ein "Du bist es" mit ausspricht. "Kennst mich wieder" nimmt wiederum einen Sextenaufschwung, während aus den Kerntönen der begleitenden Violinstimme a (zu fis-Moll) - b (zu g-Moll) und fis (als Sextvorhalt zu A-Dur) die nächste, chromatisch erweiterte Gesangsphrase vorbereitet wird: [d-es-]f-fis-d ("lockst mich zart"). Dazwischen liegt, vor dem zweiten, gezogenen "Du", eintaktig ausgesponnen, ein chromatisches Seufzermotiv in den Geigen, das, nach der wiederum in D-Dur markant sich erhebenden Sextenphrase zu "es zittert", bei "durch all meine Glieder" wie ein rieselnder Wonneschauer erklingt, das letzte Wort durch eine angebundene Duole von f über as nach des zurückbiegend. Diese, wenn man so will, Überdehnung wiederholt sich bei "deine", das mit f-ges-g einen Septimensprung abwärts nimmt, während die unterlegte Spannung aus Des-Dur, D-Dur und C 7 nach Des-Dur sich löst. "Selige" - das Attribut nimmt das Bezugswort gleichsam emotional, als noch vorläufig Erlösung vorweg. Die weit ausholende Phrase kombiniert den Sextenaufschwung und die chromatische Seufzerkette (Des-Dur, A7 [mit einer Einmischung von c-Moll unter dem es] und, sagen wir, G7+9 ohne Grundton, mit den chromatischen Vorhaltsdissonanzen ges und es). Dann wird die Textphrase unterbrochen; die aufgestaute Spannung entlädt sich wiederum auf ein lang gezogenes "deine", in leuchtendem A-Dur neu angesetzt.


    "selige", das vorletzte Wort des Schlußverses, beginnt nun mit der Überdehnfigur, augmentiert aus dem chromatisch kreisenden Motiv (zuerst Partitur D, auf "Zier") mit seinem charakteristischen Tritonusschritt nach unten. Weiter spannt sich die Phrase erneut mit einem D-Dur-Sextenaufschwung zum fis hinauf, das auch auf der ersten Silbe der "Gegenwart" zunächst gehalten wird, während das Orchester die chromatisch niedergleitende, aus dem Seufzermotiv gebildete Figur crescendo darüberlegt (D-dur, E-Dur, D-Dur, allerdings durch die chromatischen Durchgänge stark verschleiert). Die gehaltene Phrase der "Gegenwart" sinkt auf e, die Terz von C-Dur. Die Hörner führen, teils diatonisch, das Seufzermotiv in die Tiefe, die Arpeggien der Violinen jagen einander, sich überschlagend, in die Höhe; die Vokallinie dehnt die "Gegenwart" nun nach gis (als Terz von E 7); und zur letzten Kadenz, forte, (der Hörnerabstieg wird von einem Aufsteigen der Celli abgelöst) sinkt die Stimme diminuendo über fis, d, e und h zur Tonika A-Dur.


    :hello:

    Du kennst mich wieder,
    du lockst mich zart,
    es zittert durch all meine Glieder
    deine selige Gegenwart.


    Alle Frühlingsgedichte ähneln einander, so ungefähr wie die glücklichen Familien im Motto von "Anna Karenina". Vor mir liegt aufgeschlagen Ludwig Reiners´ "Ewiger Brunnen", und ich finde in Mörikes "Er ist´s" ein wesentliches Modell für Hesses Gedicht, nicht nur der blauen Lüfte und des ahnungsvollen Dufts, sondern zumal der Apostrophe im Fazit wegen: "Frühling, ja du bist´s!"


    Nun ergibt sich aber bei Hesse die Besonderheit, daß nicht das schwärmende Ich den Frühling wiedererkennt, sondern gerade umgekehrt der Frühling das Ich. Das ist auch nicht ganz neu. Schon bei Goethe heißt es:


    Schwankend wiegen
    im Morgenwinde sich die jungen Zweige.
    Die Blumen von den Beeten schauen uns
    mit ihren Kinderaugen freundlich an.


    (woraus dann ein Heine-Topos wird.) Dringlicher ist das Anliegen des erlebten Frühlings bei Mörike gefaßt:


    Frühling, was bist du gewillt?
    Wann werd´ ich gestillt?


    Die Verwobenheit des Frühlingserwachens und der Gemütsbewegungen führt, im Rahmen des Rollengedichts, zu einer tendenziellen Distanzierung von Ich und Natur. Schon Mörikes "Im Frühling" schloß ja bezeichnend mit:


    mein Herz, oh sage,
    was webst du für Erinnerung
    in golden grüner Zweige Dämmerung?
    - Alte unnennbare Tage!


    Der Frühling ist nicht allein Sinnbild der Jugend, die mit ihm gleichzuziehen vermag, sondern zumal Gegentopos der Altersskepsis, ein Symbol der verlorenen Jugendkraft, das als Naturschauspiel das zögernde Herz erst überreden muß, sich noch einmal, und sei´s zu spät, darauf einzulassen. Dieser Aspekt spielt für unser Hesse-Gedicht, wie es scheint, keine Rolle - sein Frühlingserlebnis ist voller Jugendgewißheit. Womöglich aber hatte Strauss, der während der Komposition am Ende seines Lebens stand, einen anderen, verklärteren und beschwörenderen Zugang zum Thema.


    :hello:

    Um auf meine etwas spöttische Kritik an Strauss zurückzukommen, muß ich ehrenhalber erwähnen, daß die Partitur für den Einsatz der Phrase auf "Wunder" pp vorschreibt, und zwar für das gesamte Orchester (bloß die Harfe hat p). Erst gegen Ende gibt es ein crescendo, das zum p und, ohne weitere Angaben, darüber hinaus das Zwischenspiel an- und (diminuendo) wieder abschwellen läßt.


    Es gibt also eigentlich, von der dort ausgedünnten Orchestrierung abgesehen, keinen dynamischen Unterschied zwischen dem "Wunder" und dem zarten "Du", das die letzte Strophe eröffnet. Gewiß, "von Licht übergossen" bietet bereits ein vorbereitendes cresc., das aber auch nur von p espr. zu p espr. reicht, also kaum mehr als ein sachtes Aufblühen meinen kann. Der duftige Orchestersatz malt schließlich durchaus ein feines Weben ohne Einhalt. Bislang hatte nur der C-Dur-Ausbruch (vor "nun liegst du erschlossen") im Orchester ein zum f gesteigertes cresc. - ich meine aber, daß einige Einspielungen das "Wunder" dynamisch hervorheben, was vielleicht auch mit Singbarkeit dieser hochgeschraubten Phrase zu tun hat.


    Ich weiß nicht, wie es anderen Hörern geht - ich habe einige Mühe, alle Details der Partitur wirklich wahrzunehmen. Das mag mit der Focussierung auf die Vokallinie zu tun haben und der skizzenhaften Kürze der Motive, die in den Orchesterstimmen Melodiefragmente aufscheinen lassen, die gleich wieder im Klangteppich verwoben werden und sich entziehen. Die aus der Tiefe emporquellenden Arpeggien des Beginns durchwirken das ganze Lied mit einer feinen Textur. Doch selbst ausladende Themenbögen wie etwa nach "Gleis und Zier", Partiturabschnitt D, erklingen gleichsam im Verborgenen. e-f-fis-his-a-gis-cis mit seinem chromatisch aufsteigenden Ansatz und den charakteristischen Sext- und Quartsprüngen scheint selbst wie eine Paraphrase der Gesangslinie; vom Spitzenton gleitet es dann diatonisch zurück zum fis. Einen Ton höher wiederholt sich die ganze Phrase; doch die Singstimme wird derart eingebettet, daß erst auf dem niedersinkenden Bogen, zuerst inmitten (über-gossen a-gis-gis-fis), dann am Ende (ais-gis bei der Wendung des Wunder-Melismas nach oben) Orchester- und Gesangsmelodie zu Deckung kommen. Obwohl die vom Holz verstärkten Violinen hier die Singstimme zweimal förmlich überstrahlen, ist die Climax instrumental und vokal quasi gegenläufig angeordnet - man könnte sagen, die Komposition verstecke sich gleichsam hinter dem Solisten. Denn der Sinkflug des leuchtenden Violinenthemas ist für die Sängerin ein Quartsprung nach oben.


    Die versetzte Gleichzeitigkeit von sinkenden und steigenden Tendenzen erinnert etwas an die Verhältnisse der geteilten Violinen zu Beginn von "Im Abendrot" und hat zum Effekt etwas Schwebendes, einen Verlust an Bodenhaftung. Nimmt man dazu Robert Klaunenfelds harmonische Chiffre, so ist man versucht, hierin ein klangliches Transformationssymbol zu sehen, nicht bloß modulatorisch betrachtet, sonder auch in Bezug auf das, was Hofmannsthal "das Geheimnis der Verwandlung" nannte. Damit wäre einer denkbar tiefen musikalischen Textausdeutung der Weg bereitet.


    :hello:

    Lieber Robert,


    ich ziehe in jeder Hinsicht meinen Hut. Das sind solche Momente, in denen dieses Forum die Ergänzung, deren man doch so sehr bedarf, in schönstem Maße plötzlich bereithält.


    Superb ist deine Identifikation der "leitmotivischen" Chiffre - ohne Klavier reicht meine Klangvorstellung leider nicht bis in alle Details; und ich bin hier für tätige Mithilfe äußerst dankbar. Das hat übrigens mit "Besserwisserei" nicht das geringst zu tun - jedes Wissen verbessert die Analyse des Gegenstands. Und deine schöne Diktion zumindest verrät keinerlei "Schreibhemmung" ...


    :hello:

    Vielen Dank - am interessantesten ist für mich die Besetzung des Ochs durch einen wirklich virilen und attraktiven Mann, dazu großartig bei Stimme; nicht die übliche Karikatur à la Dorfrichter Adam. Ansonsten hatten wir vor wenigen Jahren bereits einen stilistisch geschlosseneren Schnitzler-Rosenkavalier. Auch diesmal empfinde ich eine gewisse Humorlosigkeit, was wahrscheinlich mit der Felsenreitschule zusammenhängt. Aber ich bin auch noch im ersten Akt.


    :hello:

    Es folgt ein kleines Orchesterzwischenspiel, dessen harmonische Unruhe gleichsam das Drängen und Emporkeimen der Natur versinnbildlicht. Von Es-Dur, mit dem die erste Strophe endete, geht es gleich weiter nach c-Moll, über Fes-Dur bzw. des-Moll usw. (eine Vorzeichenorgie ...) und mündet, nach chromatischem Ansturm, in einem leuchtenden C-Dur-Ausbruch - eine Vorausnahme, da die Phrase sich, p und über eine in as-Dur modulierende Variante des Ansturmmotivs, sogleich wiederholt:


    Nun liegst du erschlossen


    Es mag auch ein symbolisches Kalkül im Spiel sein, an dieser Stelle die Grundtonart zu bekräftigen - sie wird, weit entfernt, im zweiten Takt der Phrase auf "Gegenwart" nochmals gestreift; das Lied endet dann aber in A-Dur. - Die Gesangslinie mischt bei ihrem Sextenaufschwung ("... -schlossen" zum a, der Sixte ajoutée von C-Dur) ein fis ("... du er-..." auf einem verminderten Septimenakkord) hinein; und über C7 erreicht die modulatorische Unruhe E-Dur:


    in Gleis und Zier


    Ein chromatisches, ungeduldig kreisendes Motiv in den Holzbläsern wird später für das Zwischenspiel zur dritten Strophe bedeutsam. Strauss komponiert nur scheinbar den Gegensatz der geträumten zur leibhaftigen Frühlingspracht aus. Eigentlich ist das Lied eine einzige vibrierende Entfaltung von strahlendem Glanz und erahntem Glück.


    Von Licht übergossen


    Nach einem weiteren verminderten Septimenakkord liegt "Licht" auf cis-Moll, "über- ..." auf A-Dur und die Durchgangsnote gis dann als süßer Vorhalt vor der Dur-Terz fis des D-Dur bei "... -gossen". Strauss scheut hier nicht eine etwas konventionelle Phrase. Nun auch in den Geigen leuchtet das ungeduldig kreisende Motiv kurz auf und überspannt mit einem Kantilenenbogen den nächsten Vers:


    wie ein Wunder vor mir.


    Von Cis 7 wendet sich die Phrase auf "Wunder" zunächst nach H-Dur und über gis-Moll nach G-Dur. Die emphatische Ausleuchtung dieses einzigen Wortes über fünf Takte hin übertrifft alles bisher Dagewesene. Das hohe h markiert den höchsten Punkt des notierten Stimmumfangs. Dennoch nimmt sich auch hier der ariose Schwung und Höhenflug wieder zurück. Das übergebundene h der Singstimme ergänzt das nun unterlegte d-Moll zum Tristan-Akkord; die Gesangsphrase windet sich gleichsam ein; das "mir" mündet auf Cis 7, und in einem viertaktigen Zwischenspiel wiederholt sich das chromatisch kreisende Motiv voller Erwartungsspannung, die sich, diminuendo und pp, nach A-Dur auflöst.


    Damit kriegt Strauss, salopp formuliert, gerade noch einmal die Kurve. Denn bei dem "Wunder" läßt er sich, boshaft betrachtet, etwas gehen. Auch wenn er hier musikalisch nur kurz aufblendet - im Textvorwurf steht dieses "Wunder" als etwas ganz Einfaches, Kindliches und Rührendes da; die vokale Linie aber entfaltet dieses Anrührende als etwa über alle Maßen Ergreifendes, sie kniet förmlich nieder und wirft sich in fast schon religiöser Übersteigerung auf den Boden. Das ist eine Dame, die angesiichts eines blühenden Rosengartens mit ausgebreiteten Armen "Oh wie wundervoll!" ausruft - ein wenig zu laut und zu absichtsvoll.


    :hello:

    Schon hat sich in meine Untersuchungen ein Fehler eingeschlichen (so what, Helmut ...) - die Bäume bewegen sich zwar tatsächlich in H-Dur, die blauen Lüfte aber haben nicht H 7, sondern His, also den doppelt verminderten Septimenakkord ("... deinen blauen ..."), ehe es sich (bei "Lüften") nach A-Dur auflöst, und zwar über den Vorhalt his-cis.


    Dieses Durchschweifen der Tonarten ist nichts für einen musikalischen Laien wie mich. Dur und Moll sind nur mehr Farbeffekte; eben so oft wie der doppelt verminderte Septimenakkord erklingt die Sixte ajoutée, also eigentlich eine Kombination von Dur-Tonika und Mollparallele, für alle möglichen Vorhaltbildungen genutzt. Die Tonarten selbst, die überraschenden Auflösungen und Rückungen häufen sich derart, daß das ganze Lied wie unter Hochspannung steht. Auch die Chromatik spielt eine bedeutende Rolle.


    Das Lied hat keine Vorzeichen; es beginnt in c-Moll. Die den Tonraum einer kleinen Sexte (es-ces) umspannende Phrase "träumte ich lang" wird von den Aufschwüngen in H-Dur und A-Dur mit ihren markanten Sextensprüngen fortgeführt und überboten, "von deinem Duft", auch eine Sexte weit gefaßt, nimmt den Gesangsbogen wieder zurück; während "Vogelsang", über fünf Takte hin, in einem sich verengenden Intervallbereich von e-Moll nach Es-Dur moduliert, durchrieselt von frohlockenden Holzbläserstimmen.


    Spannung, jäher Ausbruch und Beruhigung kennzeichnen die Dramaturgie der ersten Strophe. Das Orchester malt dazu flüchtige Skizzen von raschen Lichtwechseln, dem Spiel von Wolkenschatten und flirrendem Laub, von Vogellauten und sich wiegendem Geäst, eine Flut nicht greifbarer Empfindungen, die ebensoviel Wehmut wie Beglückung enthalten. Die ganze Wucht dieses Ansturms scheint etwas selbstherrlich, wenn man auf Hesses schlichte Verse zurückblickt. Wählt man vier bekannte Frühlingsgedichte - "Wie herrlich leuchtet mir die Natur"; "Überm Garten durch die Lüfte"; "Frühling läßt sein blaues Band"; "Die linden Lüfte sind erwacht" - so haben wir auch die lyrischen Ingredenzien beisammen, die Dichter und Komponist sei´s unbewußt begleiten. Die Epiphanie des Frühlings, die elektrisierende und erotisierende Aufladung, die man bei Goethe und Mörike, zumal aber in Schumanns "Frühlingsnacht" findet, haben ihren Anteil an der Komposition, die die Sehnsucht nach dem Frühling, wie sie Hesse hier ausdrückt, übersteigert zu einer Evokation sehnsuchtsvoll-nostalgischer Frühlingsgefühle.


    :hello:

    Frühling


    In dämmrigen Grüften
    träumte ich lang
    von deinen Bäumen und blauen Lüften,
    von deinem Duft und Vogelsang.



    Es fällt nicht leicht, diesen Text mit von Strauss unverbildeten Ohren zu lesen, auf seinen eigenen Klang hin. Natürlich hat das erste Verspaar einen hinhaltenden Charakter, während das zweite seine evokative Kraft entfaltet. Natürlich explodiert hier das Versmaß, in dichter Folge alle Sinne ansprechend; während das elegische Traumsehnen zu Beginn mehr auf den Mangel, als auf die ausgemalte Fülle hinzudeuten schien.


    Eine grüblerische Arpeggienfigur, schwankend zwischen c-Moll und as-Moll, präludiert der Stimmung der Eingangsverse. "In dämmrigen Grüften", tief ins Brustregister des Soprans verlegt, "träumte ich lang", mit der Tonfolge es-f-as-ces den Tristan-Akkord aufspannend, ist der Beginn des Liedes so wirkungsvoll wie, man verzeihe es mir, überzogen. Denn das "träumte", ein im Kontext der Gedichte so bedeutsamer Topos, gähnt hier wie ein offenes Verhängnis, statt in der Assonanz zu "Bäumen" schon den Keim des Glücks in sich zu tragen.


    Bei Strauss schlägt die Stimmung genau zum Beginn des dritten Verses so jäh um, als habe jemand ein Fenster aufgestoßen, um frische Luft einzulassen. Nicht der erst erträumte Frühling mit seinen durchlässigen Assoziationen, sondern ein wahrer Taumel an Frühlingswinden erfaßt den Hörer, sobald Strauss den Deckel seines musikalischen Zauberkastens lüftet.


    Man kann es sich in der Partitur ansehen: "von deinen" rückt von as-Moll nach a-Moll, während der Bass von as nach g rutscht (also eigentlich C-Dur mit der sixte ajoutée erklingt); die letzte Silbe liegt auf B-Dur, während den "Bäumen und blauen Lüften" überraschend H-Dur, H7 und A-Dur strahlend unterlegt sind, ehe der doppelt verminderte Septimenakkord (die weit ausholende Phrase "... Lüften" am Ende verschärfend) mit einem g-Moll-Vorhalt nach B-Dur zurückführt und die Worte "von deinem Duft" mit aller Fülle der Erinnerung belädt, die ein Frühlingsduft an Süße im Gemüt freisetzt.


    Die Klangfarben lichten sich indessen merklich auf. Aus der grüblerischen Arpeggienfigur zu Beginn entrollen sich immer höher hinaufschießende Dreiklangsfiguren; in den Violinen erklingt zweimal ein kurzes Melodiefragment, als entsinne sich jemand ungenau einer sehnsüchtigen Weise und summe sie vor sich hin. "... und Vogelsang" schließlich ist eine reich modulierte Arabeske, von aufsteigenden Trillerketten der Flöten und ausgreifenden Arpeggien der Klarinetten umspielt.


    Wer den zyklischen Charakter der Lieder nicht ganz verleugnen will, mag diese Flötentriller wiederum in Beziehung zu den Lerchen des Schlußstücks setzen.


    Ich gestehe, daß mir auch nach dem hundersten Hören noch nicht ganz klar ist, wie Strauss, mit wenigen Federstrichen, eine solche Fülle an Ausdruck und Klang hervorzaubert. Es ist magisch.


    :hello:

    Liebe Freunde,


    ich danke allen Mitdiskutanten, namentlich aber Helmut Hofmann, der eigentlich viel berufener und kompetenter wäre als ich, für ihre Bemerkungen zu diesem schwierigen Stoff. Es liegt mir im übrigen fern, für die "Vier letzten Lieder" einen zyklischen Charakter sensu stricto zu behaupten. Gleichwohl greifen alle Liedtexte durch ihre Themenwahl und Metaphorik beziehungsreich ineinander, und zwar ganz unabhängig von der gewählten Reihenfolge. Ich will dafür ein etwas konkreteres Beispiel nennen:


    "Beim Schlafengehen" läßt sich zuletzt verstehen als die Beschwörung einer von Kindheit an vertrauten Urgeborgenheit im Akt des Einschlafens. Die Zeitlosigkeit der frei hinströmenden Seelenkräfte hat eine regressive Tendenz, nämlich die Anschlußfähigkeit des erwachsenen Bewußtseins an das sozusagen ungeformte, unverbildete kindliche Gemüt in seiner Reinheit und Poesie.


    "Im Abendrot" kulminiert gleichsam entgegengesetzt, nicht in der grenzenlosen schöpferischen Fülle, sondern - im Zenit seiner inneren Verlangsamung - als "weiter stiller Frieden". Das ist ein ganz umfassendes Zur-Ruhe-Kommen, innerlich und äußerlich.


    In beiden Liedern stehen sich also das Unbewußte des Traums und, mit allen Fragezeichen versehen, der Friede eines erfüllten Daseins an der Schwelle zum Jenseits gegenüber. Regression und Transgression reichen einander die Hände, nicht zuletzt, weil in der kreatürlichen Geborgenheit des Schlummers und der verheißungsvollen Abendröte die gleiche Aufhebung der Zeit waltet.


    :hello:

    Liebe Freunde, lieber Robert,


    wenn man die Frage nach dem zyklischen Charakter der vier Orchesterlieder stellt, führen bereits die Gedichttitel allzu greifbare Erwartungen in die Irre. "Frühling", "September" - das läßt an einen Jahreszeitenzyklus denken; "Im Abendrot", "Beim Schlafengehen" - das sind eben Tageszeiten. Wobei die Tageszeiten eher symbolisch überhöht werden, während die Jahrezeiten ganz konkret verstanden sind.


    Kein ganz einfacher Befund. Ein gemeinsames Thema freilich ist rasch ausgemacht, wenn man sich auf ein Schwellenmotiv verständigt. "Frühling" bzw. "September" markieren Beginn und Ende einer sommerlich vorgestellten landschaftlichen Blüteperiode, das jähe Aufbrechen bzw. langsame Absterben einer als nah und zugänglich erlebten Sphäre parkartiger Konvenienz. "Frühling" ist dabei ganz ausdrücklich als Identifikations- und Selbstfindungsraum eines fühlenden Ichs ausgeflaggt; das Schlußwort "selige Gegenwart" bringt Empfindung und Außenwelt gleichsam zur Konvergenz.


    "September" hebt das Feuilles-mortes-Thema gewissermaßen auf die Bühne eines Gartentheaters, worin der Garten und der Sommer personifiziert auftreten, berieselt von den Requisiten des Regens und des fallenden Laubs.


    "Beim Schlafengehen" führt das Ich in einer Selbstreflexion an die Schwelle des Wachens, des Bewußtseins und des Traums; während das letzte Stück, "Im Abendrot", zeitlich und logisch eigentlich voransteht und der naiven Daseinsfreude des traumentrückten Einschlummerns die lebensmüde Bangnis des Alterns vor dem letzten Schlaf entgegenstellt.


    Das maifrische Erwachen der Natur und das Freiwerden der traumentbundenen Seele bieten die positiven Aspekte des Zyklus, gleichsam an den Gegenpolen höchster Bewußtheit, nämlich der Selbstgegenwärtigkeit seligen Natur-Inneseins, und frei strömender Traum-Unbewußtheit. Nicht von ungefähr assoziieren beide Gedichte Jugend ("Frühling" - die zarte Lockung, die durchzitterten Glieder) bzw. Kindheit ("Beim Schlafengehen" - schon im braven Titel, der Selbstapostrophierung als "müdes Kind" usw.)


    Ich sträube mich allerdings, "September" als Herbstimpression Eichendorffs "Im Abendrot" an die Seite zu stellen, auch wenn Formeln wie jene vom "Herbst des Lebens" das scheinbar nahelegen. Der Vers "Sehnt sich nach Ruh" mit seinem langgezogenen Mahler-Ton ("Der Einsame im Herbst") reicht kaum hin, dieses Gartenydill aus der Enge seiner Bildlichkeit herauszuheben. Das Vordergründige, Oberflächliche und Banale des Textes wird erst recht fühlbar, wenn man die Weite der Eichendorffschen Landschaft dagegen hält.


    Ein anderer Bogenschlag, nämlich von der "Kind-beim-Einschlummern"-Idyllik in "Beim Schlafengehen" hin zur Tages- als Lebenswende deutenden Poesie Eichendorffs ist womöglich noch heikler. Denn so tief und wahr "Im Abendrot" uns bis heute berührt, so verlogen, kitschig und konventionell ist ja diese vermeintliche Seelenreise ins Zauberreich der Nacht, bei Licht betrachtet - ein lyrisch überhöhtes Metapherngespinst, dem sein Gegenstand aus den Augen gerät.


    Das sind, aus meiner Sicht wenigstens, recht spannende Ausgangsbedingungen für eine Vertonung, die ja um die Klippen dieser Texte nicht herumkommt. Strauss hat sicher ganz bewußt eine eher assoziative und aufgelockerte poetische Gruppierung anvisiert, auch auf der Suche vielleicht nach quasi heiteren Leicht- und Gegengewichten zur fährnisreichen romantischen Tiefe. Die Hesse-Gedichte, auch sprachlich improvisierter, impressionistischer und beiläufiger als Eichendorff, haben, das soll nicht verschwiegen sein, durchaus ihren Reiz. Durch Strauss sind sie gewiß unsterblicher geworden, als sie selbst gedacht hätten.


    :hello:

    Oh weiter, stiller Friede!


    B-Dur - Ges-Dur - B-Dur -: die nämliche Rückung wie (von der Grundtonart aus) bei "Not und Freude" und zwischen dem "stillen Land" und den rings sich neigenden Tälern. Also eine Erweiterung in Zeit und Raum, die unauslöschlich fern erinnerte Freude, die unbetretbaren dämmernden Täler. Doch die kreisförmige Rückführung nach B-Dur verleiht dieser Stelle eine klangliche Aura besonderer Art und Weihe. Schwer zu singen, zumal bei der übermäßigen Quinte ges-d. Die Tempovorschriften calando (hinter "nachträumed"), Tempo primo (bei "Tritt her") und noch ruhiger zu Beginn des oben zitierten dreizehnten Verses unterstreichen die Verlangsamung der musikalischen Bewegung und könnten ein Argument für ein sehr breites Grundtempo sein, wie es etwa Eschenbach dirigiert. Im Nachspiel nach dieser Phrase, wiederum in oktavierten Viertel-Triolen der Geigen, erklingt wie ein Nachwehen die Tonfolge b-g-as-f mit dem Sextensprung nach oben, sozusagen ein nochmaliges Zurücktreten vor der atmosphärischen Auflösung der Tageswirklichkeit, ein Ungreifbarwerden der Sehnsucht selbst. Der liegende B-Dur-Akkord wird durch den noch ausgedehnteren Es-Dur-Grundakkord abgelöst:


    So tief im Abendrot


    Nun schwingt sich ein letztes mal die Abendrotweise des Vorspiels in den ursprünglichen, punktierten Notenwerten auf und sinkt nieder, um jäh in c-Moll zu münden:


    Wie sind wir wandermüde -


    Das führt, über as-Moll und B 7, mit einem charakteristischen, in Terzen geführten Vorhalt, nach es-Moll - vielleicht ist dieses "wandermüde", so eine unverwechselbar Eichendorffsche Wortschöpfung, die kongenialste Vertonung im ganzen Lied - so entwaffnend und entkräftet, so stoßseufzerhaft klingt es (tatsächlich hat das Orchester im zweiten Taktteil ein sforzato). Darunter legen die Violen die synkopiert übergebundene absteigende Phrase, die im Vorspiel als Gegenstimme des Zwiegesangs erklang. Das Unbeschreibliche zieht uns hinab.


    Nunmehr eine Oktave tiefer singen 1. Geigen und Celli, danach Celli und Bässe einen tastenden Rest der punktierten Sonnenuntergangsweise. Die Klangfarben verdunkeln sich zusehends. Immer langsamer heißt der Vortrag, während die Stimme zu ihrer letzten, stockenden Phrase ansetzt:


    Ist dies etwa der Tod?


    Diese am Gedichtende ein wenig schockierend aufgeworfene Frage ist die eigentliche Herausforderung der Komposition. Die Verlangsamung und Abtönung des Klangs ist längst nicht mehr nur eine Veranschaulichung des äußeren Abendeinbruchs. Die Harmoniefolge ist es-Moll - D-Dur - F-Dur - B-Dur - Ces-Dur. Dieses "unorganische" Fortschreiten symbolisiert ebenso sehr eine Ziel- und Orientierungslosigkeit, wie es das Mysterium des Schlußverses auslotet, ohne eine Antwort zu geben.


    Wie eine Quintessenz aus der Sextsprungphrase und der augmentierten Fassung in Vierteltriolen erklingt dazu, aus der Tiefe aufsteigend, zunächst im Horn, dann eine verminderte Septime höher in den Bratschen, als Selbstzitat das sogenannte Verklärungsmotiv aus der sinfonischen Dichtung "Tod und Verklärung", was eigentlich dem Eichendorffgedicht noch unangemessener sein müßte als der der Alpensinfonie nachempfundene Sonnenuntergang. Aber dieses Motiv ergibt sich wie von selbst aus dem melodischen Kontext der Orchesterstimmen. Der zum Oktavsprung erweiterte Sextenaufschwung klingt dabei ganz verhalten, wie ein unauflösliches Fragezeichen, auf das auch die Lerchentriller keine Antwort wissen.


    ritard. sehr langsam: Die Abendrotweise verebbt in einem Ozean aus Finsternis, ein vages Echo des belebten Zwiegesangs lebt schwach ahnbar auf, die Notenwerte werden immer breiter, die Harmoniefolge es-Moll - D-Dur - F- Dur - As-Dur - d-Moll mündet, auf dem Basston b, in es-Dur, zweimal durch ces-Dur unterbrochen, ehe die Schlußkadenz, ähnlich dem berühmten Trauermotiv zu Beginn des Adagios in Bruckners VII., über c-Moll und B-Dur nach Es-Dur führt und das Werk schließt.


    :hello:

    Tritt her und lass sie schwirren


    Mit der Umdeutung von gis nach as rückt die Harmonie nach B 7, und die Straussische Sextenschritt-Phrase wiederholt sich, einen Halbton tiefer, auf b-g-as-f, wonach wieder die Grundtonart Es-Dur erklingt, im nächsten Takt gefolgt von der Subdominante As-Dur.


    Das in diesem Vers unausdrücklich angesprochene Du ("Tritt her") könnte immerhin auch ein selbstgesprächsweise apostrophiertes Ich sein. Der Vers ist nicht leicht zu deuten - die Halbtonrückung abwärts scheint bei Strauss eine leise resignative Distanznahme auszudrücken, ein leises, scheidegrußhaftes Echo der Lerchenfreude. Ein Strauss-Hörer mag auch an das "Rücke näher, Seel´ an Seele" aus dem Lied "Die Nacht" denken. Oder an Rilkes "Requiem auf den Tod eines Knaben" mit den Zeilen:


    Zuweilen, dicht am Hause, saß ich lange
    und schaute einem Vogel nach.
    Hätt ich das werden dürfen, dieses Schaun!
    Das trug, das hob mich, meine Augenbraun
    waren ganz oben.


    Bald ist es Schlafenszeit


    Warte nur, balde ... mit der empathischen, sich an die Natur verlierenden Sehnsucht ist es zu dieser Stunde vorbei, und der Mensch muß sich mit einem anderen Platz bescheiden. Nichts könnte schlichter sein als die Kadenz B 7 - Es-Dur - As-Dur - B 7, während das übergebundene B der Singstimme ("-zeit") dann von einem es-Moll-Akkord aufgefangen wird. Die das ganze Lied durchziehende Arpeggienfigur, die Lerchentriller auf den unbetonten Taktzeiten lassen hier wirklich an ein Wiegenlied denken.


    Daß wir uns nicht verirren
    In dieser Einsamkeit.


    Über es-Moll und as-Moll trübt sich die Harmonie auf "-irren" ein; ein aus dem Lerchenterzenmotiv entwickelter chromatischer Abwärtslauf symbolisiert auch musikalisch die Orientierungslosigkeit. Dann geht es über c-Moll und es-Moll nach F-Dur und schließlich wieder nach B-Dur. Nach dem Verklingen der weit übergebundenen Schlußsilbe der "Einsamkeit" erhebt sich in den Geigen ein diatonischer Aufstieg in oktavierten Viertel-Triolen, die aus der augmentierten Sonnenuntergangsweise entwickelt sind und diminuendo den allmählichen Stillstand aller Bewegung einleiten. Auf die Dynamisierung des Abendrots zu Beginn des Lieds folgt nun das allmähliche Erlöschen der Farben, das Verblassen des scheidenden Lichts, der abendliche Friede.


    Die überwältigende Einsamkeit des Sonnenuntergangs-Tableaus, so scheint Eichendorff anzudeuten, ist nicht betretbar, ist unbewohnbar; doch sie teilt sich der meditativen Anschauung mit. Denn das siginfikante Wort "Einsamkeit", dunkel gespannt durch die drohende Gefahr, sich darin zu verirren, ist auch das Bindeglied zur Kontemplation der letzten Strophe.


    :hello:

    Eichendorffs Gedicht ist situativ einer ländlichen Szenerie verschrieben, die die Tageszeit ("Abendrot") ein Stückweit konkretisiert: Es gibt zwei Menschen, vermutlich am Ende einer Wanderung, ein Ausruhn "überm stillen Land", ein Innehalten, gespiegelt im landschaftlichen Ausblick auf rings sich neigende Täler, in denen die Dämmerung aufzieht, ein Lerchenpaar sowie eine Reflexion über diesen Abend, der auch ein Lebensabend, über die Erschöpfung, die auch eine Lebensmüdigkeit ist.


    Soweit irgend möglich, bietet das abendliche Geschehen der Landschaft den Entfaltungsraum einer existenziellen Selbstbefragung und scheint dadurch zugleich symbolisch überhöht und im Realen objektiviert, gleichsam der Natur zurückgegeben, "down to earth", wie die Engländer sagen. Strauss´ Vertonung bietet eine Fülle von Klangassoziationen pastoraler Art, Hornquinten, Sexten- und Terzenseligkeit, diatonisches Fortschreiten teils volksliedhaften, teils choral- oder gar wiegenliedhaften Charakters.


    Rings sich die Täler neigen


    Nur an dieser Stelle übernimmt die Singstimme die punktierte Auf- und Abwärtsbewegung der Sonnenuntergangsweise. Blick und Melodie sinken in die Tiefe; der Klang ist urvertraut, obwohl nach dem B-Dur-Intermezzo eine Wendung nach Ges-Dur eingetreten ist. Diese Tonartrückungen durchziehen das Lied mit immer neuen Wechseln in der Beleuchtung und konterkarieren die melodische Schlichtheit.


    Es dunkelt schon die Luft


    Enharmonisch geht es über ein unerwartetes D-Dur und Cis 7 nach fis-Moll, über einer in Triolen unheimlich absteigenden Baßlinie. Der 3/2-Takt markiert die klangliche Zäsur als ein beklommenes Innewerden der bedrohlichen Aspekte dieses Übergangs zur Nacht. Die oben liegende Terz fis-a des fis-Moll-Akkords wird, beinah noch im tiefen Brummregister, den Flöten anvertraut, ehe sie, in enger Zweistimmigeit in Quart- und Terzabständen trillernd, das aufsteigende Lerchenpaar symbolisieren, die die Singstimme im Folgetakt, in der Durparallele A-Dur, begrüßt.


    Die kunstvolle "Übergänglichkeit" in Strauss´ Kompositiosweise wird auch in diesem knappen Abschnitt erkennbar. In der nächtlichen Atmosphäre des Tals sind die Lerchen ungreifbar bereits vorhanden, ehe sie sich in die ihnen eigne Sphäre des lichten Tages erheben.


    Zwei Lerchen nur noch steigen
    nachträumend in den Duft.


    Nur Eichendorff konnte so etwas schreiben. Das realistische Detail umschließt unlösbar die atmosphärische Empfindung, das träumerische Verhaftetsein der friedlichen Tiere oben im scheidenden Licht, so als könne man den Tag "nachträumend" noch etwas hinauszögern und verlängern.


    Heraldisch entstammen die Lerchen der mittelalterlichen Lyrik, genauer dem "Taglied" als Verkünder des Endes liebestruknener Nächte. "It was the nightingale and not the lark", diesen Vers aus Romeo und Julia kennt wohl jeder. Wie das in der Literatur so zugeht, entstanden daraus im 19. Jahrhundert, zumal in England, sehr berühmte Gedichte auf die Nachtigall (Keats, Coleridge) und die Lerche (Wordsworth), die der romantischen Zweiteilung der Welt in eine rauschhafte Nacht- und eine lichte Tagseite verpflichtet bleiben.


    Dies im Sinn, erscheinen die lyrischen Symboltiere bei Eichendorff besonders bemerkenswert. Denn wie sonst die Nachtigallen, halten hier die Lerchen die Scheidelinie zwischen Nacht und Tag offen und stehen, zunächst, für ein Weiterlebenwollen am Lebensabend, für einen dem Menschen nicht mehr möglichen verspäteten Aufbruch ins Licht, für eine existenzielle Sorglosigkeit auch. Sodann aber haftet ihrem schmetterlingshaften Schwirrflug ganz von ferne etwas Eschatologisches an; die Lerche im Zwielicht scheint vom Seelenflug vom Weiterleben nach dem Tode und einer anderen, reineren Existenz zu künden.


    So unzweifelhaft Strauss das Reimwort "beide" im dritten Vers der ersten Strophe getilgt hat, so unbeirrt beläßt er die Lerchen als Paar, unüberhörbar in den Terzentrillen der Flöten und, gegen Ende des Liedes, der Piccolos. Das ist eine gewisse Inkongruenz. Sehr Straussisch ist die melodische Phrase cis-gis a-fis ("... Lerchen nur noch ...") mit ihrem Sextensprung aufwärts, der ja in der ersten Strophe mehrfach bereits anklang. Nach reinen A- und D-Dur-Harmonien wendet sich der beschworene "Duft" wieder nach Cis-Dur, das sich im Folgetakt, von der Solo-Violine umspielt, nach Cis 7 verschleiert.


    :hello:

    Lieber Holger,


    auch zu den Lerchen kommen wir noch. Im übrigen sind das alles für mich bestenfalls Arbeitshypothesen; gut möglich, daß ich am Ende zu ganz anderen Bewertungen komme. Ich meine allerdings schon jetzt, daß es Strauss um eine musikalische Ausdeutung gerade der Texttiefe zu tun ist, und das ganz ohne eine landschaftliche Einsamkeit (wie in Mahlers Fall) noch um eine soziale Komponente (das Fernbleiben des Freundes) zu erweitern, oder sie gar pittoresk auszumalen (Silbermond, weiche Graswege, wohllautender Bach, dunkle Fichten, schlafende Vögel in den Bäumen usw.)


    Wir waren, glaube ich, noch bei der Sonnenaufgangs-Episode, die das Lied wie eine Ouvertüre eröffnet. Außer dem Fortepiano gleich zu Beginn des Es-Dur-Tuttis gibt es keine weiteren dynamischen oder sonstigen Vortragsbezeichnungen (bis auf ein pp beim Hörnereinsatz in Takt 13). Nach einem langen Paukenwirbel fallen noch immer einzelne weiche Paukenschläge, und zwar stets auf den dritten Taktteil (4/4). Schon dies mischt in den strahlenden und leuchtenden Gesang der Geigen eine dunkle und beklommene Farbe. Zumal dort, wo die zunächst unisono geführten Stimmen sich zum ersten Mal teilen, ist das von einer unbeschreiblichen Wirkung. Die zweiten Geigen und Violen halten das Es, die ersten Geigen rücken einen Halbton nach oben (Fes), und dann ergibt sich ein Ziehen nach unterschiedlichen Richtungen; die beiden Stimmen verschlingen sich, es gibt immer wieder Sekundreibungen und Stimmüberkreuzungen, bis nach einem letzten diatonischen Anstieg der Es-Dur-Akkord erklingt. Über den feierlichen Paukenschlägen bereiten Arpeggien in den zweiten Geigen und Violen den Einsatz der Gesangsstimme vor:


    Wir sind durch Not und Freude
    gegangen Hand in Hand;


    Das "Wir", über drei Taktschläge gedehnt, setzt unmerklich bereits nicht mehr in Es-Dur, sondern auf g-Moll ein; erst auf dem dritten Schlag erklingt wieder Es-Dur, um auf "Not" wieder nach g-Moll zu rücken. Der nächste Takt wendet sich von Es-Dur überraschend nach Ces-Dur, um die "Freude" auch harmonisch aufzulichten. "Gegangen Hand in Hand" moduliert über as-Moll, nach Art der letzten Auflösung des Tristan-Akkords ganz am Ende des Liebestods, wieder nach Es-Dur. So schließt sich auch harmonisch ein Kreis, der auf engstem Raum vieles umspannt.


    Vergegenwärtigt man sich das Entstehungsjahr der Komposition, so wird das betonte Wort "Not", eine ganz Note lang gehalten, auch biografisch lesbar - wie ja schon Eichendorffs Formulierung selbst die "guten und schlechten Zeiten" der Ehe aus aller Phrasenhaftigkeit löst und an die bittere Erfahrung heranführt.


    Auf "Gegangen Hand in Hand" ereignet sich zum ersten Mal der für das ganze Lied charakteristische Wechsel des Metrums, von 4/4 zu 3/2, wodurch diese Musik so wunderbar zu atmen scheint, da immer wieder ein Moment des Innehaltens, der Zeitdehnung eintritt. Nach einem Sextensprung abwärts hat die Phrase "Hand in Hand" etwas so Tröstliches und Zuversichtliches, der schlichten Diktion des Gedichts derart Angemessenes, daß man als Hörer schon hier ganz gefangen und ergriffen ist. Aber der Ruhepunkt der Versendes, den die vokale Deklamation nahelegt, wird überspielt durch eine aufsteigende Stimme der Geigen (immer im Holz verdoppelt) und Violen in Sexten, in den nun das zweite Verspaar fast etwas gedrängt einfällt:


    Vom Wandern ruhen wir
    nun überm stillen Land.


    Diese Verse haben es in sich. Bekanntlich eliminerte Strauss bei der Vertonung das Reimwort "beide", das bei Eichendorff nach dem "wir" folgt. Ich kann über die Gründe nur spekulieren. Die gedehnte Länge der ganzen Phrase stützt nicht gerade das Argument, es habe an melodischem Raum gefehlt. Vielmehr hat Strauss dieses "beide" geradezu aus den Worten herauskomponiert. Nun ist "beide" nicht nur das Reimwort, sondern als solches auch der Ruhepunkt der Gedichtzeile. Es ist aber auch entscheidend wichtig für die Bedeutung des Wir; denn es individualisiert das Wir zum intimen Paar. Strauss vermeidet diese Tongebung ganz offensichtlich und rückt das Zeitwort "ruhen" in den Schwerpunkt der Aussage. Die melodische Schönheit der ganzen Phrase mit ihren langgezogenen Überbindungen und dem nunmehr aufsteigenden Sextensprung auf "überm" hat nicht ihresgleichen. Ganz schulmäßig wird nebenbei auf "Land" die Dominante B-Dur erreicht, mit einer kleinen Assoziation der Sonnenuntergangs-Melodie zu Beginn.


    :hello:

    Wenn man den "Vier letzten Liedern" etwas gleichrangiges entgegenhalten möchte, wird man dies schwerlich unterhalb von, sagen wir, Mahlers "Lied von der Erde" bewerkstelligen.


    Nun ist alles Vergleichen problematisch. Dessenungeachtet bietet ja auch Mahlers Opus magnum allerhand Stoffverwandtes, wie etwa den Frühlingsrausch, die Vergänglichkeitsklage, die Schlaftrunkenheit, Altersschwermut und Jugendstil.


    Du lockst mich zart
    Es zittert durch all meine Glieder
    deine lebendige Gegenwart


    so heißt es bei Hesse; während Mahler-Bethges "Von der Schönheit" mit den Worten schließt:


    In dem Funkeln ihrer großen Augen,
    in dem Dunkel ihres heißen Blicks
    schwingt klagend noch die Erregung ihres Herzens nach


    Auch bei Mahler erhält das Schlußstück ein bedenkliches Übergewicht. "Die Sonne scheidet hinter dem Gebirge", so der lakonische Beginn nach einer atmosphärich dichten, knappen Introduktion. Im Direktvergleich mit Eichendorffs "Im Abenrot" ist der "Abschied" eine Orgie an Überdeutlichkeit, an szenischer Ausmalung und Staffage, an verbaler Emphase auch. In anderen Worten: Eichendorffs Gedicht ist an Knappheit und Schlichtheit, an Diskretion und Geschlossenheit kaum zu überbieten. Strauss hat infolgedessen auch weniger Raum zur Entfaltung, es gibt keinen Mond, kein Pferd, keine Laute und keinen Freund.


    Es mag befremden, wenn Strauss dem Orchesterlied, gleichsam zur Illustration des Gedichttitels, einen musikalischen Sonnenuntergang voranstellt, dessen strahlender Es-Dur-Akkord mit darüberliegender Terz und Füllhörnern eine ganze Partiturseite einnimmt. Nicht ganz so schneidend und exaltiert wie in der Alpensinfonie, aber doch unverkennbar aus dieser Klangidee entwickelt und gleichsam in Technicolor ausgeführt, breitet sich das intime "Abendrot" zum kolossalen Naturgemälde, ehe die Stimme einsetzt.


    Ein Wort zum Tempo: Bis auf das erste Stück, "Frühling", das Allegretto hat, weisen die übrigen drei "Andante" als Vorschrift auf. Nun ist schon der Unterschied zwischen Allegretto und Andante vage; zudem gilt für alle drei Hesse-Lieder eine Notation in kleinen, nämlich Achtel- und Sechzehntel-Werten, während "Im Abendrot" mit Halben und Vierteln aufwartet. Entsprechend variieren die Einspielungen zwischen Böhms zügigem Schlag und Eschenbachs Zeitlupe. Nimmt man das Zeitmaß von "September" (bezogen auf die Notenwerte der Singstimme), so ist dieses Andante für "Im Abendrot" zu schnell, für mein Gefühl.


    Dieser Sonnenuntergang hat das jäh Packende einer aus Wolkenbänken ausbrechenden Lichtflut, ehe die strahlend überhöhte Terz im Diskant der Geigen und hohen Holzbläser in eine diatonisch schweifende Bewegung driftet, erst auf-, dann abwärts, in ruhevoll punktierten Schritten, denen schon zu Beginn etwas eigentümlich Zielloses anhaftet, ein sachter, unmerklicher Sinkflug - der dann, während die Harmonien von Es über As-Dur nach as-Moll wechseln, in fließende Achtelketten übergeht, aus denen sich, in lieblicher Zweistimmigkeit, eine nunmehr aufsteigende Linie herauslöst, die immer leuchtender an Höhe gewinnt und, von rieselnden Achteln umspielt, zuletzt wieder zum Grundton niedersinkt.


    :hello:

    Liebe Freunde,


    pünktlich zum Strauss-Jubiläum will ich versuchen, mich diesem einen kleinen Liederzyklus aus Straussens Feder anzunähern. Da harts Strauss-Lieder-Thread und der bereits existierende über dieses Werk stark an der Interpretation interessiert sind, möge man mir einen weiteren, eher monographisch orientierten Diskussionsraum verzeihen.


    Ich gestehe, daß mein eigentliches Interesse dabei auf das letzte Stück, die Eichendorff-Vertonung "Im Abendrot" zielt, die gewiß einer der Höhepunkte nicht nur in Strauss´ Liedschaffen, sondern der Liedkunst überhaupt ist.


    Damit verglichen, schneiden die übrigen drei Vertonungen von Gedichten Hermann Hesses weniger günstig ab. "September" etwa könnte man eigentlich auch ganz weglassen, so banal ist dieser Text. Tatsächlich zeichnen sich die drei Hesse-Lieder durch eine Tendenz zur Koloratur, zur melismatisch ausgeweiteten Gesangslinie aus, die dem Wortsinn nicht immer zugute kommt und dank weitschweifiger Chromatik auch nicht immer leicht sauber zu singen ist.


    "Frühling" überstimmt gleich zu Beginn den feinen Unterschied zwischen erträumter und erlebter Natur, indem zu den "blauen Lüften" bereits ein sehr realistischer Frühlingswindstoß durch die Partitur weht und die Gesangsstimme gleichsam davonträgt. Ich gestehe, daß ich immer erleichtert bin, wenn die Sängerin die "selige Gegenwart" endlich ganz herausgebracht hat.


    "Beim Schlafengehn" dürfte das beliebteste der drei Hesse-Stücke sein. Ein später, sentimentaler Reflex frühromantischer Traumpoetik, wo Schlaf und Entgrenzung zusammen gedacht und von Strauss einer ins Unendliche sich verzweigenden Kantilene anvertraut werden. Sehr tiefsinnig ist auch das nicht, und eine atmosphärische Nähe zum Kitsch überträgt sich aus dem Text auf die Musik.


    Ich übertreibe das stark, denn man muß ja ein Unmensch sein, wenn man "Beim Schlafengehn" nicht mit Rührung hört. Und dennoch - wenn es bloß diese drei Lieder wären, der Zyklus hinterließe keinen allzu bedeutenden Eindruck. Daran ändern auch die thematisch-poetischen Binnenbezüge der Hesse-Gedichte nichts. Denn es merkt ja jeder Esel, daß das Einschlafen und die Todesnähe auch im verregneten Septembergarten vorkommen, und daß auch "Frühling" gleichsam schmetterlingshaft von Traum und Erwachen zur Wirklichkeit spricht.


    Ferner läßt sich auch nicht sagen, daß diese hier angedeuten Bezüge erst durch die Hinzufügung des Eichendorffschen "Im Abendrot" zum Tragen kämen. Wahr ist vielmehr, daß die Motive von Lebensherbst und Müdigkeit, von Ruhewunsch im Abglanz des Naturschönen bloß im Horizont dieses Gedichts überhaupt Tiefe besitzen. Entsprechend verfährt auch der Komponist, wenn er der Hesse-Gruppe, unter Gefährdung der musikalischen Geschlossenheit, einen Solitär entgegenstellt, mit dem verglichen die vorausliegenden Stücke kaum mehr als anmutige Tändeleien sind (ich übertreibe das, s.o.)


    Davon also soll, soweit es mich betrifft, dieser thread handeln.


    :hello:

    Beim zweiten Hören - eine ganz wundervolle Ariadne. Auch der Alpensymphonie-Essay war großartig und subtil und hätte m.E. gerne doppelt so lange dauern dürfen. Und warum kam Thielemann nicht zu Wort?


    :hello:

    Lieber Rheingold1876,


    ich verstehe die Zielrichtung deiner Polemik, möchte aber dennoch leise widersprechen. Daß die Musik als Klangereignis und der Gesang als Inbegriff des flatus vocis dem Geistigen näher stehen als dem Physischen, ist Teil des uns prägenden religiösen Diskurses, der hier nicht allein die geistliche, zumal vokale Musik betrifft, sondern bis in die neuerdings von Alfred wieder angeregte Diskussion um die technische Reproduzierbarkeit der Musik reicht.


    In Sängermemoiren aber lesen wir überrascht, daß der Operngesang eine immens körperliche Angelegenheit ist. Da wird geschwitzt und um Atem gerungen, ein Darsteller in einer Hauptpartie verliert im Lauf einer Vorstellung gleich mehrere Kilos an Körpergewicht, und das virtuose Image eines Sängers ist doch dem eines Hochleistungssportlers, eines Athleten oder Akrobaten nicht ganz unähnlich.


    Bis in die Gründerzeit mußten Balletttänzer fleischfarbene Trikots tragen. Etwas in dieser Art verhüllt bis heute die Körperlichkeit des Kunstgesangs.


    :hello:

    Die Zauberflöte von den Seefestspielen (3SAT)


    Ich bin kein Freund dieser Spielstätte. Aber die Protagonisten (vielleicht den Sarastro etwas ausgenommmen) sind einfach großartig - ein begnadeter, idealer Tamino, ein Papageno, wie er im Buche steht, eine frische, beherzte Pamina und eine ungewöhnlich timbrierte, eindrucksvolle Königin der Nacht. Und Orchester und Dirigat voller überraschender Details.


    :hello:

    Lieber Felix Meritis,


    damit wir uns nicht mißverstehen: ich respektiere Deine Meinung, aber ich teile sie nicht. Daß etwas Ausdruck von etwas ist, ist kaum eine hinreichende Bedingung zur Kennzeichnung dessen, was sich da ausdrückt.


    Die Deutschen haben eine besondere Begabung, ihre Emotionen an erkünstelten Sprachwelten zu entzünden, wodurch ganze Gruppendiskurse hohler Gefühle entstehen. Das Dritte Reich hat so funktioniert, der Wilhelminismus, und ich fürchte, daß auch der Pietismus eine zum Teil artifizielle Individualisierung des Religiösen anbot. Goethe ("Bekenntnisse einer schönen Seele") war er suspekt. Und man kann selbst Papageno als Zeugen für die Phrasenhaftigkeit des Bachschen Kantatentextes aufrufen:


    Nun wohlan, es bleibt dabei,
    weil mich nichts zurücke hält;
    gute Nacht, du falsche Welt!


    Die Individualisierung, die Du meinst, besteht in der emotionalen Affirmation von Dogmen und Normen - das Zutreffende der Religion wird zum persönlichen Drama. Was ich dagegen, in bezug auf Bachs Vertonung, meinte, ist die volle Wucht, mit der die Formel, daß das Maß voll sei, ihren Sinn behauptet - auch insofern, als es sich hier um ein individuelles Maß handelt.


    Natürlich ist auch Florestans Frömmigkeit pietistisch geprägt; und doch weist er, in der visionären Extase, voraus auf den Tristan des dritten Akts und damit auf Amfortas:


    Erbarmen! Erbarmen!
    Du Allerbarmer! Ach, Erbarmen!


    Bachs Kantate ist bereits ein Schritt in diese Richtung.


    :hello: