Beiträge von Gino_Poosch

    Hallo Markus, hallo Christian,


    alles Gesagte ist richtig. In der Tat ist die Bildregie eine Tragödie.
    Man darf jedoch die tatsächlich existenzielle Darstellung des Tannhäuser durch Peter Seifert nicht vergessen.


    Ich habe ihn bereits in vielen Rollen live erlebt, so auch als Tannhäuser. Im Vorhinein war ich äußerst skeptisch, das die in den Anlagen einst wirklich lyrische Stimme dieser Partie nicht gewachsen sein könnte. Und als ich ihn dann hier in Berlin an der DOB hörte, dachte ich, bei dieser Empase mit der er schon die ersten Worte ("Zu viel, zu viel! O, das ich nun erwachte") sang, er würde die nächsten beiden Akte nicht durchstehen. Trotz großartiger Ausladung bei "Erbarm dich mein" bot er eine wirklich gesungene (sic!) Romerzählung.


    Zugegeben sein Tannhäuser in Barenboims Studioproduktion klingt doch sehr sportlich und allzu "gesund".Aber in dieser Zürcher Aufführung ist er wirklich an seine Grenzen gegangen, hat alles gesetzt und alles gewonnen. Für mich, eine große Leistung.


    Der Rest der Sängerbesetzung ist eher enttäuschend oder Mittelmaß...


    Liebe Grüße aus Berlin


    Gino Poosch


    Hallo Karsten,


    die vorliegende Aufnahme konnte ich noch nicht hören, bin aber in Besitz eines höchst spannenden Livemitschnitts aus der Königlichen Oper Stockholm vom 13.03.2004, die sich lediglich durch NINA STEMME also Isolde anstelle von Hedwig Fassbender unterscheidet.



    Im Zuge dieser Tristan-Premiere hat Naxos die Aufnahamen in Stockholm gemacht. Eben jene Besetzung war ursprünglich auch für die Naxos-Produktion vorgesehen, was letztlich an der EMI scheiterte, die sich weigerte die exclusiv verpflichtete Nina Stemme freizugeben. Was im Kontext zum bald bei EMI erscheinenden Pappano-Tristan (mit Stemme und Domingo) nur allzu verständlich ist.


    Naxos ist übrigens auf dem Cover ein kleiner, aber unangenehmer Fehler unterlaufen. Der Name des Tristan lautet Wolfgang Millgramm (also mit doppel "m" anstatt einem).


    Zu dem Live-Mitschnitt: Der Höhepunkt ist unzweifelhaft die strahlende und tief empfindende Isolde der Nina Stemme. Ein bedeutendes Material mit stupender Höhe und etwas Metall. Im ersten Akt ist sie furios ("Wie lachend sie mir Lieder singen..."), wie selten eine Isolde unserer Tage, mit Ausnahme von Elizabeth Connell vielleicht. Elektrisierend ihr „Fluch dir Verruchter...“. In meinen Augen eine der Hoffnungsträgerinnen dieses Faches für die Zukunft.



    Der Tristan von Wolfgang Millgramm ist Geschmacksache aber nicht unrecht. Der mittlerweile recht guttural klingende Tenor, mit baritonalnachgedunkeltem Material mobilisiert für den Fieberwahn des dritten Aktes erstaunliche Kräfte und wirkt hierin durchaus überzeugend. Seine Emphase und die unforcierte Höhe begeistern („Isolde kommt, Isolde naht“). Die Stärke Millgramms war ohnehin immer seine sichere obere Quinte, die ihn für Partien des italienischen Faches prädestinierte. Das kontemplative Moment des zweiten Aktes („O König, das kann ich dir nicht sagen“) liegt ihm etwas weniger. Der mittlerweile 51 jährige Sänger überzeugt mich in dieser Partie mehr als Siegfried Jerusalem in seinen besten Jahren.


    Der Rest der Besetzung ist gutes Mittelmaß, abgesehen von dem doch deutlich intonationsgetrübten Gunnar Lundberg als Kurwenal.


    Segerstams Dirigat ist von überzeugendem Format, er setzt auf flotte Tempi und profitiert von dem wirklich achtsamen Spiel des Stockholmer Opernorchesters.


    Also sind sowohl die Naxos Aufnahme als auch der EMI-Tristan (wegen Nina Stemme) von Interesse.


    Herzliche Grüße


    Gino


    Hallo Alfred,


    Sie haben in der Tat recht! Es ist eine Frage des Ansatzes. Der ewige Streit: „Prima la musica, doppo le parole“ oder „Prima le parole, doppo la musica“. Oder wie es Yehudi Menuhin gesagt hat: „Der größte Feind der Technik ist die Interpretation.“


    Ich glaube, das eine gegen das andere auszuspielen, hieße sich mit der Hälfte zufrieden zu geben. Wenn gestattet, zitiere ich hier mal meinen Beverly Sills Thread, um mich nicht wiederholen zu müssen, da er meinen Ansatz relativ gut verdeutlicht.


    Zitat

    Die Musik dieses Repertoires, ist im besten Sinne des Wortes, Sängermusik. Wobei der gebrauchte Terminus weniger die Grenzen dieser Musik als vielmehr ihren Anspruch verdeutlicht. Musik also, die mit dem oft mißbrauchten, fehlgedeuteten Begriff »Belcanto« beschrieben wird. Im Gegensatz zu den dramatisch stärker eigenständigen Werken etwa Giuseppe Verdis oder Giacomo Puccinis, eine Musik die durch eine lebendige Wiedergabe durch den Sänger ihre Berechtigung erlangt und ihr erst dadurch (sic!) eine dramatische Dimension zuteil wird, die als »Wahrhaftig« beschrieben werden kann. Oder anders: Erst durch den agierenden und dadurch illuminierenden Künstler, vervollkomned sich die Kunst des Komponisten. Dies ist ein gewollter und notwendiger Bestandteil dieses Repertoires, wenn nicht gar seine raison d’être.


    Doch gerade diese Forderung wird, wenn nicht gar als unerheblich, so doch zumindest als Sekundär gerade von den Connaisseurs dieser Gattung immer wieder abgetan. Dramatische Authentizität geopfert auf dem Altar kühl-kalkulierter Perfektion. Hatte nicht Maria Callas in den fünfziger Jahren gelehrt wie man diese Musik frei von Effekten so doch mit einer unbedingten Wahrhaftigkeit gestalten kann? Waren nicht Sängerinnen wie Leyla Gencer oder Virignia Zeani weitere hoffnungkündende Exponenten dieses Gedanken? War nicht genau dies gemeint als die Callas ausgerufen haben soll, Joan Sutherland habe ihre Arbeit um Jahre zurückgeworfen? Die Sutherland, eine bedeutende Sängerin mit einem unüberbotenen Maß an vokaler Perfektion blieb diese Dimension nicht selten schuldig. Ihre musikalischen Erbinnen, Edita Gruberova etwa, reihten sich in diese Tradition ein. Nicht selten wurde Sängermusik mit «Nachtigallenmusik» gleichgesetzt. Was stets Degradierung statt Sublimierung bedeutet! Die Partien bekamen eine Stimme, kein Gesicht. Ein fataler Irrtum.


    Es ist unstrittig, dass eine adäquate technische Ausführung der musikalisch-technischen Anforderungen immer Voraussetzung sein muß, für eine darüber hinaus reichende identifikatorische Leistung. Zugegeben, nicht selten haben Künstler letzteres geschickt auszunutzen verstanden, um ihr Defizit bei ersterem zu kaschieren. Dies ist falsch und wirkt zuweilen lächerlich.


    Verstehen Sie meine Ausführungen also bitte nicht als ein Plädoyer für einen „Verismo-Belcanto“. Viel eher glaube ich, jenes Bemühen um dramatische Authentizität ist die einzige Möglichkeit, diese Musik, der nicht selten der Makel des antiquierten anhaftet, auch für die nächsten Generationen aktuell erscheinen zu lassen. Mir scheint, dies ist die deutlich bessere Strategie, als hypermoderne, die Intentionen des Komponisten karikierende Inszenierungen ohne Aussagewert.


    Sie selber schrieben ja:

    Zitat

    BelCanto ist derzeit leider nicht in Mode, weil das "Schöne" momentan generell "out" zu sein scheint


    Jene Gratwanderung zwischen technischem Finish und dramatischer Wahrhaftigkeit hat Maria Callas (in ihren besten Jahren) wie keine andere geschafft. Und auch das ist richtig, ihre Stimme wurde mindestens so kontrovers wie die der Sutherland beurteilt. Indes, von einer schönen Stimme zu sprechen, hieße am Thema vorbei zu diskutieren. Niemand hat dieses Phänomen besser in Worte gefasst als die große Ingeborg Bachmann:
    "Maria Callas ist kein »Stimmwunder«, sie ist weit davon entfernt, oder sehr nah davon, denn sie ist die einzige Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat.“


    Die Verdienste beider Sängerinnen sind so groß, dass eine Entscheidung für die eine oder andere nicht Not tut. Und was „La fille du régiment“ betrifft, bin ich ganz Ihrer Meinung. Mit ihrer Marie steht die Sutherland allein auf weiter Flur und disqualifiziert alle Sängerinnen vor und nach ihr, Edita Gruberova und Luciana Serra eingeschlossen. Auch wegen Pavarotti und Bonynge, eine bedeutende Aufnahme! Gerade hörte ich einen unautorisierten Mitschnitt von „Der Hölle Rache“ (London 1962). Wirklich großartig! Leider hat sie nur die erste Königin Arie im Studio aufgenommen. Und ob Sie es glauben, oder nicht: Ihre Turandot unter Mehta (live natürlich undenkbar) schätze ich sehr. Welche Sängerin ist schon als Königin der Nacht ebenso befriedigend, wie als Turandot?


    Herzliche Grüße


    Gino Poosch

    Zitat

    Original von Norbert
    Hallo Gino und Giselher,


    das klingt kaufanreizend... ;)


    Wie ist die Klangqualität (für eine Live-Aufnahme von 1975)?


    Hallo Norbert,


    die Klangqualität ist hervorragend! Nahezu keine Nebengeräusche. Die Stimmen sind sehr präsent. Selbst in Barenboims Studioproduktion (s.o.) kommen die Stimmen nicht so gut herraus, wie in diesem Mitschnitt. Für 18 euro also wirklich ein Schnäppchen. Zugreifen!


    Herzliche Grüße


    Gino Poosch

    Liebes Forum,


    seit langem beobachte ich die kritische Aufnahme von Beverly Sills unter den Gesangsethusiasten. Nicht selten bewegt bin ich von der zuweilen haßerfüllten Ablehnung der Sängerin - gerade in Europa.


    Ich versuche Anhand eines kleinen Artikel meine Sicht der Kunst Beverly Sills zu verdeutlichen.
    Mich interressiert sehr, was Sie über diese Sängerin denken die kürzlich ihren 75. Geburtstag gefeiert hat.



    Am 25.05.1929 wurde Berverly Sills unter dem Namen Miriam Silberstein als Tochter rumänisch-russischer Emigranten in New York geboren. Nach einer Kinderkarriere im Rundfunk debütierte sie 1946 als Frasquita in »Carmen« an der Oper von Philadelphia. Mit ihrem Engagement an der New York City Opera 1955 unterbrach sie schon bald gezeichnet von einem schweren Schicksalschlag ihre profesionelle Karriere. Nach ihrer Hochzeit mit dem Journalisten Peter Greenbough brachte sie zwei Kinder zur Welt, eines taub, das andere schwer körperbehindert. 1966 kehrte sie dann als Cleopatra in Händels «Giulio Cesare» triumphal an die New York City Opera zurück. Nach diesem Durchbruch begann ihre internationale Karriere, die sie an viele wichtige Häuser (London, Wien, Berlin und Venedig) führte. In ihren großen Rollen Lucia, Traviata, den drei Tudor-Queens, Norma und einige französiche Partien erreichte sie bald Weltgeltung und wurde besonders in den Vereinigten Staaten bis zu ihrem Abschied 1979 ein verehrtes Idol inklusive Titelstory in der «Times».


    Die Musikkritik der letzten Jahre hat mit Verrissen und Schmäschriften auf die Kunst Berverly Sills‘ nicht gespart. „Dünn wie ein Draht“ sei ihre Stimme, „Infantil“, und den Partien die sie sänge nicht gewachsen. Jürgen Kesting fühlte sich durch ihre Norma gar zum lachen gebracht und will keine zweite Sängerin kennen, die »mit bescheideneren Stimm-Mitteln so weit nach vorn gekommen ist«. Kesting folgt hier einer bestimmten Kunstästhetik und setzt sich so der Gefahr aus, Künstler die in dieser ideolgischen Kategorisierung keinen Platz haben, die Existenzberechtigung abzusprechen. Doch nicht nur Kesting hat abwehrend gar angeekelt von der Kunst Beverly Sills berichtet. Wo liegt also der Grund für den Ausnahmerang der Künstlerin in den USA einerseits und den vernichtenden Worten europäischer Musikkritik andererseits?


    Höchste Zeit also, durch ein Wiederhören die Argumente und Kritikpunkte an Gesang und Darstellung kritisch zu prüfen. Die CD-Wiederveröffentlichungen bei Westminster geben hierzu Anlaß.


    Zu Beginn sei Festgestellt: Die Stimme der Sills ist in der Tat relativ klein dimensioniert, der Umfang ist aber beachtlich. Das Klanggepräge erweist sich als sehr jugendlich, wenn nicht gar kindlich. Die Stimme wird von einem schnellen Vibrato gespeist und besitzt trotz des Größendefizits erstaunliche Durchschlagkraft und Stamina. Mittelstimme und obere Lage sind registertechnisch gut verbunden und farblich nicht defizitär. Die obere Quinte gewinnt noch an Intensität und hat, obwohl etwas härter, den Reiz einer brennenden Fackel. Nur der untere Bereich, namentlich beim Einsatz des Brustregisters, wirkt zuweilen forciert. Ein Phänomen welches, mit Ausnahme von Joan Sutherland vielleicht, bei nahezu allen Sängerin dieses Fachs auffällt.
    Desmond Shawe-Taylor weist darauf hin, dass bei Ihrem Triller »die zweite Note, die wir hören, nicht, wie es sein sollte einen ganzen oder halben Ton über der Hauptnote liegt, sondern einen ganzen Ton darunter«. Was der Kritiker hier feststellt ist durchaus richtig. Doch Fakt ist: Trotz dieses Fehlers in der Amplitude ist der Triller von Frau Sills fester, sicherer und vor allem ausgeglichener im Ansatz und Ausschwingen als etwa der flache Triller einer Edita Gruberova oder das schütteln des Tons einer Lucia Aliberti. Von dem intensivierten und forcierten Vibrato als Ersatz für den fehlenden Triller anderer Sängerinnen nicht zu reden. Auch hier also eine seltsam subjektivistisch geprägte Einschätzung des großen Shaw-Taylor. Wenn er dann noch nachsetzt: »Unsere Welt ist ja so verzweifelt arm an fähigen Kolortursängerinnen, daß der Erfolg von Miss Sills verständlich wird«, streift er den Bereich des boshaften.
    Doch all diese technischen Überlegungen vermögen das Phänomen nur ungenügend aufzuklären. Eine andere Dimension vermag die Eigenheiten der Kunst Berverly Sills besser zu beleuchten. Erneut Kesting: »Nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf Platte wirkt die Amerikanerin durch eine besondere Art gestischer Intensität, durch eine produktive Kraft visueller Veranschaulichung und eine differenzierte Wortartikulation«.
    Was der Autor hier über die Künstlerin sagt, trifft nicht nur erstaunlich genau ihre Meriten sondern beschreibt gleichsam den Zauber den die Sängerin auf einige ihrer Hörer - ich gestehe, auch auf mich - ausübt. Die Kunst der Sills ist weniger eine betörende, als vielmehr eine sensualistisch-theatralische.



    Ein kurzer Exkurs: Die Musik ihres Repertoires, Donizetti, Bellini und Rossini ist im besten Sinne des Wortes, Sängermusik. Wobei der gebrauchte Terminus weniger die Grenzen dieser Musik als vielmehr ihren Anspruch verdeutlicht. Musik also, die mit dem oft mißbrauchten, fehlgedeuteten Begriff »Belcanto« beschrieben wird. Im Gegensatz zu den dramatisch stärker eigenständigen Werken etwa Giuseppe Verdis oder Giacomo Puccinis, eine Musik die durch eine lebendige Wiedergabe durch den Sänger ihre Berechtigung erlangt und ihr erst dadurch (sic!) eine dramatische Dimension zuteil wird, die als »Wahrhaftig« beschrieben werden kann. Oder anders: Erst durch den agierenden und dadurch illuminierenden Künstler, vervollkomned sich die Kunst des Komponisten. Dies ist ein gewollter und notwendiger Bestandteil dieses Repertoires, wenn nicht gar seine raison d’être.


    Doch gerade diese Forderung wird, wenn nicht gar als unerheblich, so doch zumindest als Sekundär gerade von den Connaisseurs dieser Gattung immer wieder abgetan. Dramatische Authentizität geopfert auf dem Altar kühl-kalkulierter Perfektion. Hatte nicht Maria Callas in den fünfziger Jahren gelehrt wie man diese Musik frei von Effekten so doch mit einer unbedingten Wahrhaftigkeit gestalten kann? Waren nicht Sängerinnen wie Leyla Gencer oder Virignia Zeani weitere hoffnungkündende Exponenten dieses Gedanken? War nicht genau dies gemeint als die Callas ausgerufen haben soll, Joan Sutherland habe ihre Arbeit um Jahre zurückgeworfen? Die Sutherland, eine bedeutende Sängerin mit einem unüberbotenen Maß an vokaler Perfektion blieb diese Dimension nicht selten schuldig. Ihre musikalischen Erbinnen, Edita Gruberova etwa, reihten sich in diese Tradition ein. Nicht selten wurde Sängermusik mit «Nachtigallenmusik» gleichgesetzt. Was stets Degradierung statt Sublimierung bedeutet! Die Partien bekamen eine Stimme, kein Gesicht. Ein fataler Irrtum.


    Es ist unstrittig, dass eine adäquate technische Ausführung der musikalisch-technischen Anforderungen immer Voraussetzung sein muß, für eine darüber hinaus reichende identifikatorische Leistung. Zugegeben, nicht selten haben Künstler letzteres geschickt auszunutzen verstanden, um ihr Defizit bei ersterem zu kaschieren. Dies ist falsch und wirkt zuweilen lächerlich. Im Falle der Sills zielte dieser Verdacht jedoch ins Leere. Ihr rhythmisches Timing ist nahezu perfekt, die Intonation lupenrein. Die Auszierungen sind äußerst Eloquent, Ausflüge in die dreigestrichene Lage meistert sie mit beneidenswerter Souveränität. Ihre Acuti sind keine unangenehmen Kopfstimmen piani, wie häufig zu hören, sondern haben Körper und Substanz. Die Artikulation ist schneidend genau, denaturalisierte Vokale (Sutherland!) sucht man vergebens.



    Konkret: Sills‘ Lucia ist spannender und lebendiger vokalisiert und agiert als die von Joan Sutherland, Anna Moffo oder Edita Gruberova. Der kleine Ton ihrer Stimme ist hier ideal. In der trefflich dirigierten Thomas Schippers Aufnahme (Bergonzi ist ein Gott in Stil und Phrasierung, Capuccilli mit dröhnend-uncharmanten Organ leider im falschen Fach) ist sie zärtlich und vehement zugleich. Schon in «Ancor non giunse!» antizipiert sie Lucias Wahnsinn. Sie ist bereits hier in ihrer eigenen Welt. Im Duett mit Edgardo ist sie die anmutigste Lucia auf Platte. Überwältigend dann zu Beginn der Wahnsinnsszene. Die Worte «Edgardo! Io ti son resa» sind in ihrer zärtlichen Formung und melcholischen Farbe unerreicht! Wenn sie dann den Namen «Edgardo» wiederholt und ihn gegen den ersten absetzt, hat das wahre Größe. Allein dieser Moment lohnt die Anschaffung der Platte und deklassiert den größten Teil der riesigen Diskographie.


    Ihre drei Tudor-Queens überzeugen durch die Unbedingtheit ihrer Ausdrucksenergie, und das trotz der nicht unbedingt für die Partien prädestinierten Stimme. Man muß schon zu Maria Callas‘ Anna Bolena zurückkehren um ein vergleichbar imaginatives Porträt zu hören. In Annas Cavatina «Come innocente giovine» zeigt die Sills uns die herrschaftliche Königin und ebenso die leidende Frau. Linie und Legato sind von betörender Schönheit. In der Cabaletta intensiviert sie den Ton und gleichsam den Ausdrucksgestus was großen Reiz hat. Zu Beginn des Anna-Riccardo Duetts ist es wieder die Sanftheit der Formung des Namens »Riccardo!« die sofort einnimmt. Selten hat eine Sängerin in einem so schlichten Moment so viel Wirkung erzielt. Einzigartig ihr Ausruf »Mi abborre, è vero« (»Er haßt mich, es ist wahr«). Außerhalb aller Kategorien auch, wie sie in »Ah! Non sai« vier herrliche c‘‘‘ und daraufhin schwierigste Oktavfälle lupenrein ausführt. Das hat nicht einmal Joan Sutherland gewagt. Im Anna-Giovanna Duett fechten die Sills und Shirley Verrett ein Match aus, daß nicht seines gleichen hat. Wenn die Sills dann in »Al dolce giudami« feinste, innigste legatophrasen spinnt und mit »Coppia iniqua« bravourös schließt, ist das nicht nur das Ende einer unvergleichlichen tour de force, der Hörer findet sich vielmehr, wie es Margriet de Moor in ihrem Roman »Der Virtuose« treffend nennt »vereinsamt im Genuß«.



    Es ist unendlich mehr zu entdecken auf den Platten von Beverly Sills. Weitere Nennungen, Beobachtungen und Details sprengten den Rahmen ins unermeßliche. Meine Argumentation sollte nicht als Euphemismus mißverstanden werden, es geht vielmehr um eine gerechte Beurteilung der Stärken und Schwächen einer sängerischen Ausnahmeerscheinung. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, hat die Sills schlechte Platten gemacht, auf denen sie in den schlimmsten Momenten altjungfernhaft und affektiert klingt. All dies ist bekannt und da capo - artig Besprochen worden, einer Wiederholung nicht wert.


    „Ausdruck macht Eindruck“ hat schon Thomas Mann festgestellt. Nur gehört Mut dazu dies zu bekennen – erst recht im Falle von Beverly Sills.


    Was denken Sie?


    Herzliche Grüße aus Berlin


    Gino Poosch

    Hallo,


    nur ein kurzer Hinweis:


    Ein leider relativ unbekannter, bei KOCH erschienener Konzert-Mitschnitt vom 11.Januar 1975 aus Leipzig verdient Beachtung.


    Amfortas: Theo Adam
    Titurel: Fred Teschler
    Gurnemanz: Ulric Cold
    Parsifal: René Kollo
    Klingsor: Reid Bunger
    Kundry: Gisela Schröter


    Dir.: Herbert Kegel
    Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig


    Gisela Schröter als Kundry ist einfach unglaublich. Endlich mal eine Kundry mit wirklicher Alt-Charakteristik (zugegeben, bei etwas kurzer Höhe). Ich habe die Verführungsszene des 2. Aktes selten so erotisch-lockend und venusnah gehört wie von ihr. Die Schröter wird heute wie damals nicht ausreichend gewürdigt. Wegen ihrer korpulenten Figur blieb ihr der Zugang zu vielen Rollen verwehrt. Aber was für eine Stimme!


    Außerdem bietet die Aufnahme für Theo Adam Liebhaber die einzige Möglichkeit den Sänger einmal nicht als Gurnemanz sondern als Amforts zu hören, eine Partie die ihm für meine Begriffe deutlich eher liegt.


    Der Dirigent Herbert Kegel, übrigens der Ehemann von Celestina Casapietra, bevorzugt äußerst rasante Tempi, über die man durchaus streiten kann. Parsifal hier eher Oper als Bühnenweihfestspiel.


    Wegen der Schröter unbedingt habenswert!


    Grüße


    Gino Poosch

    Guten Tag,


    mein Verhältnis zu Joan Sutherland ist seit dem Tag an dem ich ihre Stimme das erste mal hörte, ein ambivalentes. In meinen Augen kann man dem "Phänomen Sutherland" weder mit Superlativen noch mit Ausdrücken wie "Zwischtermaschiene" gerecht werden. Die Wahrheit liegt wohl - wie so oft - in der Mitte.


    Sicher war sie nie eine Sängerin, die durch besondere gestische Intensität und unbedigtem Willen zum Ausdruck, wie etwa Renata Scotto und Leyla Gencer (beide zeitweise im gleichen Fach wie die Sutherland), beeindruckte. Aber Gleichgültigkeit dem was sie sang gegenüber, wie etwa zeitweilig von Gruberova oder Caballe praktiziert, kann ihr ebenso wenig vorgeworfen werden.


    Ihre ersten Platten waren und sind noch heute eine Wucht! Wie sie 1960 in "The Art of the Prima Donna" Marguerites Diamantenarie, oder Juliettes "Je veux vivre" sang, tat ihr bis heute niemand nach. Hier stimmte einfach alles. Leichtigkeit im Ansatz, große Agilität und ein traumhaftes rhythmisches Timing. Oder man höre aus 1959 "Ernani involami" unter Santi. Man muß schon zu Rosa Ponselle oder Maria Callas greifen, um eine ähnlich beeindruckende Ausführung zu erleben. Zu dieser Zeit war ihre Stimme zwar auch schon leicht verschattet (eine Eigenschaft die auch bei ihrer Clotilde neben Callas' Norma 1953 schon auffällt), sie hatte aber noch nicht den arg verhangenen Klang späterer Aufnahmen. Dieses Timbre war wohl immer Geschmacksache, man mochte es, oder eben nicht.


    Maßstäbe setzte sie sicher in Partien wie etwa Lucia, Amina oder Elvira. Ihre Sache nicht waren in meinen Augen Partien wie Norma und Trovatore-Leonora. Und dies nicht etwa, wegen mangelndem Volumen oder schwachem unteren Register. Viel eher konnte (oder wollte?!?) sie den dramatisch-expressiven Anforderungen dieser Partien nicht gerecht werden. Das sie durchaus zum lyrisch-dramatischen Sopran tendierte, beweist ihr Einsatz in den 50er Jahren als Amelia und Agathe. Und auch ein kürzlich veröffentlichter BBC-Mitschnitt von Euryanthe aus 1955 zeigt sie dieser anspruchsvollen Partie durchaus gewachsen (3. Akt: „Zu ihm, zu ihm! Oh weilet nicht!“).


    Noch heute wird ihre Norma hochgeschätzt, sicher nicht ohne Grund. Die melismatischen Passagen in „Casta Diva“ hat vielleicht mit Ausnahme der Caballe keine Sängerin vor und nach ihr in dieser Weise kultiviert. „Ah si, fa’ core, abbracciami“ im 2. Akt ist ein zärtliches Gedicht! Hört man jedoch zentrale Phrasen wie „Preghi alfine? Indegno, è tardi“ (3. Akt), braucht man nicht zur Callas zurückzukehren um diese Worte wirklich erfüllt zu hören. In solchen Momenten bleibt bei der Sutherland immer ein unerfüllter Rest. Norma ist mit purem Schönklang und dem detailverliebten ausformulieren kleiner und kleinster Notenwerte eben nicht beizukommen. Ich beziehe mich hier auf ihre erste Norma-Aufnahme, da man über die zweite wohl ebenso besser schweigt, ebenso wie über ihre sehr späte Anna Bolena.


    Ihr Verdienst für immer bleibt es, gemeinsam mit ihrem tatsächlich unterschätzten Ehemann, die von Maria Callas begonnene Rückführung vergessener „Belcanto-Opern“ ins Repertoire fortgesetzt zu haben. Trotz meiner Einwände, eine große Sängerin. Von mir hoch geschätzt, nicht geliebt!


    Herzliche Grüße


    Gino Poosch