Ich bin, was das 20. Jahrhundert betrifft, nicht so über-drüber-bewandert, aber Angst habe ich auf keinen Fall. Um Angst zu haben, habe ich mit der Musik dieser Epoche zu viele gute Erfahrungen gemacht. Lassen wir alle diese Spät- und Spätestromantiker wie Janácek, de Falla, Villa-Lobos, Strauss etc. weg und konzentrieren uns auf die wirklich neuen Dinge:
Schönberg: Ich kenne bislang von ihm nur "Erwartung", und es hat mir recht gut gefallen - es ist natürlich ein Werk, das sehr viel Konzentration benötigt. Ich müsste es aber wieder einmal hören - genau so wie seine CD-Kommilitonen
Rihm: "Schattenstück" (aufregende Klangfolgen, die allerdings keinen wirklichen Genuss bieten)
und Haas: "Konzert für Violine und Orchester" (ein Werk, das mir wenig zusagte und mir sehr zerfleddert vorkam, aber wie gesagt, ich müsste diese CD wieder einmal hören)
Bártok: "Herzog Blaubarts Burg" ist absolut genial! Kodály sagte darüber: "ein Vulkan, der mit dramatischer Intensität eine Stunde lang ausbricht." Wie die Türen nacheinander geöffnet werden, wie Judit immer tiefer in Blaubarts Seele eindringt... äußerlich geschieht nicht viel, keine Action auf der Bühne, aber innen geschieht so wahnsinnig viel, und das alles drückt die Musik aus. Es ist ein Werk, bei dem eine konzertante Aufführung den Vergleich mit der szenischen nicht scheuen muss. Sein "Konzert für Orchester" müsste ich wieder einmal hören, es hat mir, soweit ich mich erinnern kann, deutlich weniger gut gefallen als die Oper.
Britten: Gehört auf jeden Fall zu meinen Top 20 Komponisten, obwohl ich sehr viele Leute kenne, die ihn überhaupt nicht mögen. Ich finde, er ist der bedeutendste Opernkomponist nach dem zweiten Weltkrieg. "Peter Grimes", "The rape of Lucretia", "The turn of the screw" sind drei wunderschöne Opern, ganz bestimmt mit einigen unbequemen Stellen (insgesamt aber eher textlich als musikalisch gesehen), aber auch mit ausgesprochenen Ohrwürmern wie der Arie der Ellen "Embroidery in childhood was a luxury of idleness" (Peter Grimes, 3. Akt, 1. Szene) oder Miles' Lied "Malo" (The turn of the screw, 1. Akt, 6. Szene) o. a.
Allein sein War Requiem aber ist schon bewundernswert (eine der wenigen Kompositionen des 20. Jh. übrigens, die tatsächlich auch einen enormen kommerziellen Erfolg hatten - neben Ariel Ramírez' "Misa Criolla" und ein paar Werken von Mikis Theodorakis vielleicht). Es ist ein sehr bewegendes Werk, bei dem es - auch wenn die Wischnewskaja auf der Aufnahme wirklich sehr gut singt - vielleicht noch wichtiger als bei anderen Werken ist, dass man es live hört.
Poulenc: "Dialogues des Carmèlites" - sehr gute Oper, viel zu selten gespielt, mit vielen packenden Szenen (und damit meine ich jetzt nicht die sehr makabre Schlussszene, bei der ich mich frage, wie man als Zuhörer und -schauer danach applaudieren kann...).
"Gloria" und "Stabat mater" - auch formidable Stücke, besonders das "Domine Deus, Agnus Dei" aus dem Gloria gefällt mir ausnehmend gut. Sehr problematisch für mich als Altphilologie-Fan sind die bewusst falschen Lateindeklamationen, weniger die Musik.
Aus den "Quatre motets de la temps de pénitence" kenne ich nur "Vinea mea electa" (mit dem Kirchenchor gesungen), aber das ist ein hervorragendes kleines Chorwerk, zwar ebenfalls mit falscher Betonung, aber mit wunderschönen dissonanten Akkorden (wunderschön und dissonant ist kein Widerspruch!) und vor allem einer herrlichen Sopranmelodie: "Quomodo conversa est in amaritudinem...", beginnend am gis''.
Mein Griechischprofessor empfiehlt das Konzert für Orgel und Orchester, aber ich kenne es nicht.
Theodorakis: Klanglich kaum Probleme, wenn man sich erst einmal auf die archaischen Byzantinismen zumindest in seinem "Requiem" eingestellt hat, also gehört er eigentlich gar nicht hierher, oder?
Radulescu: Detto, nur dass die Archaismen westkirchlich sind und das Werk kein Requiem sondern eine Passion. ("Leiden und Tod unseres Herrn und Heilands Jesus Christus", uraufgeführt in Graz)
Kropfreiter: Noch eine moderne Motette haben wir im Kirchenchor gesungen: Die "Heilig-Geist-Motette" von Augustinus Franz Kropfreiter. Einige SängerInnen im Chor, insbesondere die vor-70er Jahrgänge konnten damit irgendwie reichlich wenig anfangen, aber mir hat es sehr sehr gut gefallen. Es beginnt und endet mit einem G-Dur-Akkord, dazwischen ist allerdings auch sehr viel Dissonanz, aber auch sehr viel Melodie. Ich finde allerdings, den heiligen Geist kann man nur durch Dissonanzen darstellen, und sowohl Musik als auch Text sind wirklich schön.
Wie ich bei dieser Rundschau bemerkte, habe ich mit den wirklich Hardcore-modernen allerdings kaum Erfahrungen. Ich mag eine gewisse Art von moderner Musik sehr gerne, die zwar eigentlich sehr dissonant ist, aber wo sich doch ein bestimmter tonaler Bezug wenigstens der Hauptmelodie herstellen lässt und die Dissonanzen dann im Gehirn des Zuhörers eher als zusätzliche Klangfarbe wahrgenommen wird, falls irgendwer diese kryptische Äußerung und meinen Versuch, meine Empfindungen beim Musik hören in Worte umzusetzen, verstehen kann.