Wir wollen ganz kurz beim Hintergrund der Oper verweilen: Die Geschichte der heiligen Thais von Alexandria (Gedenktag 8. Oktober) ist uns in mehreren Viten und Martyriologien überliefert. Ein Bischof namens Paphnutios, Serapion oder Bessarios bekehrte die reiche Kurtisane. Sie verbrannte all ihr Hab und Gut und ging ins Kloster, um sich in Hinkunft nur noch Gott hinzugeben. Sie ist (natürlich) Patronin der reuigen Dirnen.
Die deutsche Dichterin und Nonne Hrotsvit von Gandersheim schrieb sechs terentische Dramen, um die unmoralischen Terenz-Komödien im Schulgebrauch zu ersetzen. Eines dieser Stücke ist unter den Namen "Paphnutius" oder "Thais" bekannt und schildert die erwähnte Bekehrungsgeschichte. Hrotsvit zeigt Thais als eine Art "Taufscheinchristin", die zwar an Gott glaubt, sich aber ihrer Sünden nicht bewusst ist oder sich selbst belügt. Erst durch die Begegnung mit Paphnutius erkennt sie das Unglück ihres bisherigen Lebenswandels und wendet sich in der Wüste ganz Gott zu.
Eingewoben in das Stück finden sich philosophische Betrachtungen über die Einheit von Seele und Körper. Die Sünde der Thais ist es, dass ihre reine göttliche Seele nicht mit den Handlungen ihres Körpers im Einklang ist.
Nach Hrotsvit hat Anatole France im 19. Jh. seine Satire "Thais" gearbeitet, in der er die Liebesgeschichte zwischen Paphnuce und Thais einfügt. Massenet und sein Librettist Gallet nehmen diesen Roman als Vorlage, verzichten aber fast völlig auf die satirischen Elemente, versuchen stattdessen, Mitgefühl für die Protagonisten zu erwecken.
Ich möchte sodann mit den Charakteren der Oper fortfahren: Athanael ist selbst ein Bekehrter. In seiner Jugend (bei France im Alter von 15 Jahren) hat er selbst Thais aufsuchen wollen, doch als er schon vor ihrer Türe stand, scheiterte das Unterfangen an mangelndem Mut - und mangelndem Geld. Dann "spricht die Gnade zu seinem Herzen" und er wendet sich dem Christentum zu und tritt in die Gemeinschaft der Coenobiten ein (die ägyptischen Coenobiten waren die ersten Mönche im heutigen Sinne: zuvor gab es nur Einsiedler, die Coenobiten lebten gemeinsam, aßen gemeinsam, beteten gemeinsam in der Klostergemeinschaft). Doch eigentlich begehrt er Thais noch immer: und sein Entschluss, sie zu bekehren, resultiert effektiv aus dem Wunsch, dass sie wenigstens, wenn nicht er selbst, so doch kein anderer Mann verwende! Niedere Beweggründe! Und auch seine große Arie gegen Alexandria erklärt sich so: Er hasst die Schönheit, den Reichtum, das Wissen, das die Stadt verströmt, weil sie ihm selbst versagt sind.
Wir sehen in der ganzen Oper seine Lust, Macht über Thais auszuüben. Er kommt nie zu seinem eigentlichen, sublimierten sexuellen Ziel: aber er "besiegt" Thais, er quält sie in der Wüste, er versucht sogar, sie am Sterbebett noch mit Glaubenszweifeln zu überschütten, damit sie ungetröstet und nicht in Gott stirbt. Es ist auch nicht ohne Grund eine Baritonrolle: Athanael ist nicht der positive Held dieser Oper.
Nicias ist ebenso negativ gezeichnet: Wir hören aus dem Mund der Thais, und die muss es schließlich am besten wissen, dass er liebesunfähig ist und nur Befriedigung sucht. Er ist ein Jugendfreund von Athanael! Wir können uns diese Clique präpotenter Halbwüchsiger ungefähr vorstellen, nachdem uns zwei Mitglieder als erwachsene (aber nicht reife) Männer gezeigt werden... 
Die Heldin der Oper ist zweifellos die Titelfigur: Thais, die unermesslich reiche Kurtisane. Bei Hrotsvit ist es die Habgier, die sie ins Geschäft drängt, und sie erreicht ihr Ziel. Bei Massenet ist das nicht ganz so klar; aber wir dürfen vielen Aussagen der Thais keinen Glauben schenken: sie ist nicht wollüstig oder gar nymphoman, wenn sie im ersten Akt so fixiert daherredet: das gehört zum Job. Wir sehen am Beginn des zweiten Akts wohl ihr wahres Selbst; und dann, wenn Athanael erscheint, fällt sie wieder in die dirnenhafte Sprache. Und wenn sie bekehrt ist, spricht sie von der Nichtigkeit der Vergnügungen... worauf wir das immer beziehen wollen. Habgier oder Wollust? Vielleicht auch Streben nach Unabhängigkeit? Aber ich glaube, es überwiegen doch Habgier, Eitelkeit und Putzsucht!
Doch Thais ist sich klar, dass ihr Leben eigentlich leer ist: sie wird nicht geliebt, sie wird nur benutzt, und ihre gleißende Schönheit schwindet von Tag zu Tag, und damit ihre Lebensgrundlage. Ihre Midlife-Crisis-Arie "Dis-moi que je suis belle" zeigt die Ängste der Mittvierzigerin. (Zum Vergleich: Athanael ist wahrscheinlich noch keine Dreißig...) Thais ist unglücklich mit ihrem Leben (darum fürchtet sie auch den Tod). Sie hat niemanden, sie wird nie jemanden haben, der ihr Gutes will. Aber sie ist empfänglich für den Gott, den Athanael ihr brachial aufzwingt, und sie begreift diesen Gott viel tiefer und viel wahrer als ihr Bekehrer: wie modern ist die Theologie, die sie in der Arie "L'amour est une vertu rare" vertritt: "...Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen..." (Benedikt XVI., Deus caritas est, 5) Leider wird dieses schöne Bild von Athanael ziemlich brutal zerstört, und auch wenn Albine auf den ersten Blick sympathisch scheint, lässt sie zu, dass Thais ihren Körper mit Fasten und Schlafentzug komplett zerstört... (die reale heilige Thais kann das nicht so radikal vollzogen haben, denn die ist laut Viten erst nach über drei Jahren verstorben) Dennoch hat Thais in meinen Augen ihr persönliches Glück und Happy End gefunden: Sie stirbt ohne Angst und in der sicheren Gewissheit, des himmlischen Hochzeitsmahles teilhaftig zu sein.
Zuletzt noch eine Anmerkung zu Renée Fleming: In der Live-Übertragung habe ich schon einiges gehört, was stimmlich und interpretatorisch nicht ideal war, aber man muss bedenken, dass sie zum Zeitpunkt der CD-Aufnahme über zehn Jahre jünger war und sowieso auf Aufnahmen besser klingt als live. Und dass man weniger gelungene Passagen im Studio noch einmal aufnehmen kann, bei einer Live-Übertragung eben nicht. Ich muss mir die CD beizeiten zulegen, ebenso auch die DVD mit Eva Mei.
Aber ihr könnt ja schon einmal Bewertungen einstellen: TMOO - Thais
Liebe Grüße,
Martin