Gut, dann fange ich einmal an mit einem Vergleich Vergil-Berlioz, nur einmal den ersten Teil:
Bei Vergil ist der Fall Troias eine Rückblende, die Aeneas am Hof der Dido berichtet (darauf nimmt Berlioz noch raffiniert im vierten Akt Bezug, als er Didon das Schicksal der Andromaque erfragen lässt). Aeneas beginnt mit der List vom hölzernen Pferd, die er ganz zu Beginn erläutert; seine Zuhörer wissen also im weiteren Verlauf schon, was es mit dem Pferd auf sich hat. Bei Berlioz wird das nicht zu Beginn erläutert, Cassandre errät es erst im Finale des ersten Aktes, aber das Wissen darüber kann beim Publikum eh vorausgesetzt werden.
Ganz wesentlich erscheint mir, dass Cassandra bei Vergil nur in zwei Nebenbemerkungen vorkommt (Die erste: "Daraufhin [nach Laokoon] öffnet auch Cassandra den Mund zur Verkündigung der Zukunft, den Mund, dem auf Befehl eines Gottes die Trojaner nie glaubten."; die andere später am geeigneten Ort), bei Berlioz aber die Zentralgestalt geworden ist. Folglich ist auch das Duett Chorèbe-Cassandre (inspiriert vielleicht von der zweiten Nennung Cassandras, siehe unten) und sämtliche Solostellen der Cassandre reiner Berlioz. Laokoon, dem bei Vergil relativ breiter Raum gegeben wird ("Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes"), kommt dagegen bei Berlioz nur noch als Leiche vor.
Ein langer Einschub ist bei Vergil die Sinon-Szene (Ein Grieche behauptet, er wäre von den Griechen als Opfer vorgesehen gewesen, sei entflohen und habe sich bis jetzt verborgen. Nun, da die Griechen ja weg sind, will er in Troia bleiben und rät den Trojanern, das Pferd, eine Weihegabe an Pallas, in die Stadt zu ziehen, wodurch den Griechen Übles zustoße. Denn das Pferd sei absichtlich so groß, damit es nicht durch die Tore Troias passe. Der greise König Priamos ist schon so dement, dass er daraufhin die Mauern niederreißen lässt.). Berlioz hat diese Szene auch vertont, aber später gestrichen, weil der erste Akt als zu lang kritisiert wurde. Das Streichen hat aber nichts genützt, der Akt wurde trotzdem zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt... Meistens wird die Szene heute auch gestrichen, in der Dutoit-Aufnahme ist sie enthalten.
Der Schlussmonolog Cassandres existiert bei Vergil natürlich nicht. Interessant ist vielleicht, dass Berlioz aus dem viermaligen Waffenlärm im Bauch des Pferdes, verbunden mit einem viermaligen Stopp des Einzugs, ein einmaliges Ereignis macht. Der heilige Gesang von Knaben und Mädchen ("pueri circum innuptaeque puellae | sacra canunt") ist auch von Vergil vorgegeben und von Berlioz großartig umgesetzt.
Die erste Szene des zweiten Aktes ist fast wörtlicher Vergil. Aeneas spricht Hector im Traum an:
"o lux Dardaniae, spes o fidissima Teucrum,
quae tantae tenuere morae? quibus Hector ab oris
exspectate venis? ut te post multa tuorum
funera, post varios hominumque urbisque labores
defessi aspicimus! quae causa indigna serenos
foedavit vultus? aut cur haec vulnera cerno?"
("O Licht Dardaniens [=Troias], treueste Hoffnung der Teucrer [=Trojaner],
was verursachte dir so großen Aufschub? Von welchen Ufern, Hector,
Erwarteter, kommst du? Wie sehen wir Erschöpfte dich nach vielen Begräbnissen der Deinen,
nach vielen Mühen der Menschen und der Stadt wieder? Welche Schande
hat dir das heitere Gesicht verunstaltet? Oder warum nehme ich diese Wunden wahr?")
Und Hector antwortet:
"heu fuge, nate dea, teque his" ait "eripe flammis.
hostis habet muros; ruit alto a culmine Troia.
sat patriae Priamoque datum: si Pergama dextra
defendi possent, etiam hac defensa fuissent.
sacra suosque tibi commendat Troia penatis;
hos cape fatorum comites, his moenia quaere
magna pererrato statues quae denique ponto."
("Ach, flieh, Sohn der Göttin, und entreiß dich diesen Flammen.
Der Feind hält die Mauern; vom hohen Gipfel an stürzt Troia ein.
Genug ist dem Vaterland und dem Priamus gegeben worden: wenn Pergama [=Troia]
von einer rechten Hand verteidigt werden könnte, wäre es auch von dieser verteidigt worden.
Troia vertraut dir seine Heiligtümer und Penaten an;
nimm sie zu Begleitern deines Schicksals, such mit ihnen [oder: für sie] die großen Mauern,
die du endlich errichten wirst, nachdem du das Meer durchirrt hast.")
Interessant: Berlioz übernimmt den Text fast wörtlich, baut aber hier schon eine Vorhersage ein, dass Rom in der Zukunft die Welt beherrschen werde.
Dann kommt Panthus. Aeneas spricht ihn an:
"quo res summa loco, Panthu? quam prendimus arcem?"
("Wo ist das Hauptgeschehen, Panthus? Welche Burg sollen wir ergreifen?")
Das und die folgende, lange Erzählung des Panthus kürzt Berlioz bzw. gibt es sinngemäß wieder. Danach kommt Coroebus, der als Verlobter ("von ungesunder Liebe entbrannt") der Cassandra vorgestellt wird, der erst in den letzten Tagen nach Troia gekommen sei, um im Kampfe zu helfen, trotz des dringenden Abratens seiner Verlobten. Aus dieser kleinen Bemerkung hat Berlioz im ersten Akt ein ganzes Duett gestaltet!
Die Szene endet bei Berlioz mit der von Vergil übernommenen Sentenz des Aeneas:
"una salus victis nullam sperare salutem."
("Ein Heil gibt es für die Besiegten: kein Heil mehr zu erwarten."
"Le salut de vaincus est de n'en plus attendre.")
Was Aeneas Dido noch vom Fall Troias erzählt (z. B. von Astyanax, Priamos und Hekabe, Helena, die Erscheinungen von Venus und Kreusa), spielt bei Berlioz keine Rolle mehr. Dafür ist die zweite Szene des zweiten Aktes ohne Vorbild bei Vergil.
Liebe Grüße,
Martin