Auch ich bin erst aus dem Kino nach Hause gekommen, genauso brandheiß! Allerdings teile ich größtenteils nicht die Meinung der Feenkönigin (das ist sonst nicht so meine Art). Eigentlich stimmen wir nur hinsichtlich Dirigat und Inszenierung genau überein. Insgesamt hat mir die Aufführung gut gefallen, ich kritisiere im folgenden also auf hohem Niveau.
Hampson hat meiner Meinung nach die Partie zu dramatisch genommen - sie ist nicht ganz so dramatisch! - und war im dritten Akt, wo er endlich lyrisch war, stimmlich von der vielen Brüllerei vorher nicht mehr ganz frisch, leider! Ein bisschen mehr Zurückhaltung hätte dem asketischen Mönch durchaus gestanden, oder vielleicht besser gesagt: Hampson hat nicht das optimale Organ für die Rolle, kann nicht autoritär, aber dennoch (weitgehend) unangestrengt singen. (Ähnliches auch beim Palémon: für den hätte man eines Sarastro-Basses bedurft!)
Renée Fleming war eine sehr gute Thais. Diesbezüglich muss ich mein gestriges Posting teilweise revidieren, denn sie schafft es gut, die vielen Nuancen der Massenet'schen Musik gesanglich umzusetzen. Und sie braucht offensichtlich das Publikum, um zur vollen Hochform aufzulaufen. Dazu noch die sensationelle Optik und diese prachtvollen Gewänder (wobei das letzte, obwohl wunderwunderschön eigentlich overdressed war und überhaupt die Schlussszene eigentümlich inszeniert - Thais bei lebendigem Leibe aufgebahrt?!).
Aber: Eigentlich ist mir ihre Stimme schon zu schwer für die Thais. Das hat man etwa bei dem musikalisch zauberhaften "Qui te fait si sévère" gemerkt, dem es in ihrer Interpretation entschieden an Koketterie und Raffinesse mangelte (es war eher eine plumpe Anmache). Ihre Tiefe ist satt und volltönend (was mir prinzipiell gefiele), aber in der Klangfarbe zu sehr von ihren höheren Registern verschieden. Das macht bei dramatischen Stellen gar nichts, trübt aber den Genuss in den lyrischen Passagen schon ein bisschen, weil die Phrasierung dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Von einer Referenz-Thais ist sie leider auch weit entfernt (aber damit in guter Gesellschaft!), aber für eine ausgezeichnete Aufführung reicht es.
(Was für ein Organ muss Sybil Sanderson, für die Massenet Thais und Esclarmonde [!] komponiert hat, gehabt haben, falls sie den lyrischen und den dramatischen Passagen gleichermaßen gerecht wurde! Zeitgenössische Kritiken äußern sich allerdings im Gegensatz zu Monsieur Massenet und einigen anderen Franzosen meistens eher distanziert über sie. verwirrt )
Michael Schade als Nicias war darstellerisch und stimmlich absolut überzeugend (manchmal hätte auch er sich ein bisschen mehr zurücknehmen können). Seine Sklavinnen (@ FQ: die das Terzett sangen, das dir so gut gefallen hat und das ich dir übrigens vor längerer Zeit einmal zum Singen vorgeschlagen habe) haben mir auch ausgezeichnet gefallen.
Die Inszenierung war zum Vergessen. Entweder sie war fad, oder sie war eigenartig (Finale des ersten und dritten Aktes). Außerdem konnte sich der Regisseur nicht entscheiden, in welcher Zeit er die Oper eigentlich spielen lassen wollte... Eigentlich hat er sich überhaupt nicht viel überlegt. Aber das Bühnenbild und besonders die Kostüme waren sehr nett anzusehen.
Musikalisch gehört "Thais" m. E. zu Massenets besten Opern. Einen Mangel an potentiellen "Zug-Nummern" kann ich auch nicht konstatieren, nur sind halt nie welche daraus geworden. (Abgesehen von der Méditation, natürlich!) Aber Stücke wie "Qui te fait si sévère", das Duett in der Wüste und das erwähnte Sklavinnen-Terzett sind eigentlich ohrwurmhafter als alles, was die Manon so zu bieten hat. (Überhaupt kann ich die halbe Oper auswendig) Die große Arie der Thais "Dis-moi que je suis belle" ist wunderschön, aber muss sauschwer zu singen sein. Ich habe noch keine Sängerin gehört, die sie wirklich geknackt hätte.
Ich hoffe, dass die Übertragung von der Met dieser zu Unrecht unbekannten Oper eine größere Fangemeinde gewonnen hat.
Der Text, oder überhaupt die Handlung, ist ja auch sehr interessant: der Stoff stammt von Hrotsvit von Gandersheim, der ersten bekannten deutschen Dichterin (wenngleich sie lateinisch schrieb), die christliche Dramen schrieb, mit dem Ziel, die unzüchtigen antiken Komödien als Schullektüre zu ersetzen. Die unmittelbare Vorlage für Massenets Librettisten war dann Anatole Frances Satire, wobei Massenet die Geschichte eher im Sinne Hrotsvits ernst nimmt. Man sieht so schön die Diskrepanz im spirituellen Weg zweier Personen: während Thais sich zuerst ganz der Sünde hingegeben hat, gibt sie sich dann ganz Gott hin. Ihre Bekehrung, ihr Glaube ist ehrlich und tiefempfunden, und ihre Gefühle sind wahr. Anders Athanael: der glaubt nicht mit dem Herzen, sondern mit Geboten und Verboten, die er dann plötzlich über den Haufen werfen kann und als Lügen zur Seite wischen. Der ist immer nur an der Oberfläche, die ihm schon als Jugendlicher an Thais gefallen hat, geblieben.
Glücklicherweise wurde die Méditation in der Originalversion mit Summchor gespielt und das nachträglich dazukomponierte Ballett, das die zweite Szene des zweiten Aktes um eine Viertelstunde künstlich verlängert, weggelassen.
Liebe Grüße,
Martin