Beiträge von Dr. Holger Kaletha

    Ich hatte das Literatur-Thema nur wegen dieser für mich unklaren Anspielung aufgegriffen.

    Die Anspielung ergibt sich ja aus dem Titel Gaspard de la nuit: Trois poèmes pour piano d'après Aloysius Bertrand.


    Die Stücke sind demnach eine "Tondichtung" im Anschluss an Bertrand. Sie sind natürlich keine "Symphonische Dichtung", also Programmmusik im engeren Sinne. Selbst da ist die Beziehung ja so, dass die Musik nicht einfach einen Text "illustriert", sondern selbständig ist und aus dem Bezug von Musik und Text ein "Drittes" entsteht. Wenn man Gaspard de la nuit als "musikalischen Impressionismus" versteht, dann gibt die Musik sowas wie ein "Bild" von Bertrands Dichtung. Dann kann man fragen: Was aus Ravels sehr selektiver Lektüre dieser Dichtung geht in dieses musikalische Bild ein und was nicht? Er liest diese romantische Dichtung ja auch aus zeitlicher Distanz, rezipiert sie also nicht im Sinne eines Romantikers des 19. Jhd. Bei Le Gibet ist das noch deutlicher. Die Musik enthält anders als die Dichtung gar nichts von "Schauerromantik". So kommt man dem "poetischen Inhalt" dieses Klaviergedichts dann (vielleicht) näher. Einige Gedanken dazu werde ich noch äußern.


    Schöne Grüße

    Holger

    Gibt's in der Übersetzung von Reiner G. Schmidt ganz normal unter der ISBN 978-3935978071 zu bestellen. Habe ich mir im vergangenen Jahr zugelegt, als wir uns über ABM Spiel des Gaspard austauschten.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Danke, lieber Thomas. Ich weiß nicht, ob man das aber noch bekommen kann. Ich werde es mal versuchen! :) :hello:

    Mit Stockhausens Klavierstück IX verbindet sich einiges. Da gibt es am Anfang dieses quasi unendliche Decrescendo, ein Akkord, der schließlich im Nichts verschwindet. Ich hatte entdeckt, dass es bei Husserl eine theoretische Betrachtung des Verklingens gibt, die genau dem Klavierstück IX entspricht. Die Erörterung dazu findet sich in meinem PNM-Aufsatz:


    Decomposition of the Sound Continuum: Serialism and Development from a Genetic-Phenomenological Perspective. In: Perspectives of New Music. 42, no. 1 (Winter) 2004, S. 84–128.


    Das Klavierstück IX hatte Pollini auch in Salzburg gespielt - nach Brahms-Klavierstücken und vor der Hammerklaviersonate spielte er drei Stockhausen-Klavierstücke. Wer also gekommen war, um von ihm Beethoven zu hören, musste das "erdulden". :D Das habe ich aus den Radio mit dem Cassettenrecorder mitgeschnitten. Es ist schon bezeichnend, dass sich der Brahms und Beethoven aus diesem Konzert inzwischen bei Youtube findet, aber nicht der Stockhausen.


    Stockhausen persönlich hatte ich damals angeboten, ihm eine Kopie des Pollini-Mitschnitts zur Verfügung zu stellen. Er schätzte Pollini sehr. Für ihn war das interpretatorische Maß aller Dinge in Sachen Klavierstücke allerdings die niederländische Pianistin Ellen Corver. Pollini war ihm nicht präzise genug. ^^


    Ellen Corver – Wikipedia


    Es gab damals ein Konzert in der Messehalle in Köln, eine Aufführung der "Gruppen", wo - u.a. neben Eötvös - Stockhausen als Dirigent mitwirkte. Ellen Crover spielte da zusätzlich das Klavierstück IX. Damals habe ich auch bei besagter Passage zu Beginn die "Hüllkurve" gehört, eine großbogige Schwingung, die sich aufbaut. Sehr eindrucksvoll! Mit keiner CD-Wiedergabe über Lautsprecher konnte ich das bis jetzt nachvollziehen.


    Das Konzert ist für mich unvergessen. In der Pause diskutierten meine Frau und ich mit ihm u.a. über Heidegger (!). Stockhausen schon damals: "In Deutschland haben sie Heidegger kaputt gemacht!" Das Konzert wurde zweimal hintereinander gegeben wegen zu großer Nachfrage der Karten. Stockhausen bestand darauf, wir müssten die Aufführung unbedingt zweimal hintereinander hören. Darauf ich zu ihm: "Herr Stockhausen, wir haben aber für das zweite Konzert keine Karten!" Darauf hat er uns dann durch sein Künstlerzimmer "geschleust", so dass wir tatsächlich beide Konzerte hintereinander hören konnten auch ohne Karte für das zweite zu haben. :D


    Schöne Grüße

    Holger

    Nein, nein so habe ich das nicht verstanden! Diese Frage hat allerdings Christian B. hier gestellt und ich habe diese Idee ein wenig weiter entwickelt. Auch in dem von mir verlinkten Buch wurde Bertrands Geschichte teilweise analysiert, allerdings nicht die Sprache. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass ein Komponist nicht nur von dem Inhalt, sondern auch von der Form des literarischen Werkes inspiriert werden kann. Das ist ein wenig off the topic und erstmal nur ein Gedankenspiel…

    P.S. Habe mir übrigens Bertrands Buch auf deutsch und französisch bestellt. Konnte die Versuchung nicht wiedersehen.

    Das ist in der Tat auch eine interessante Betrachtung, der man natürlich nachgehen kann.


    Es gibt glaube ich nur eine deutsch-französische Ausgabe und die ist vergriffen. Wo hast Du sie denn bekommen? :hello:

    Es ist vor allem deshalb keine, weil die Vierer- bzw. Achtergruppen nicht aus Takten sondern aus 32steln bestehen. Die Einleitung ist eineinhalb Takte lang, das Thema fäng sechstaktig an (vier Vierer und zwei Dreiertakte), um dann in seinem zweiten Teil von 4/4 über 3/4 auf 2/4 zu verkürzen, was zusammen 19 Viertel ergibt. Bei so etwas wäre Riemann aller Voraussicht nach vom Stuhl gefallen.

    Vielleicht wäre es ratsam, wenn Du Dich mal bemühst einfach verstehend nachzuvollziehen, was der Andere gesagt bzw. gemeint hat. Natürlich ist das keine 8taktige Periode im Riemannschen Sinne, weil keine Phrase, keine Melodie. Nur hätte Ravel auch darauf verzichten können, durch die Notierung von Balken Gruppen so (Phrasen analog!) symmetrisch zusammenzufassen, die in der Ausführung als Triller in dieser Weise sowieso nicht mehr hörbar sind. Das zeigt, dass er eben noch in solchen Kategorien denkt bzw. diese Jahrhunderte alte Tradition der musikalischen Rhetorik auch bei ihm noch wirksam ist.


    Die Wahl der Analysemethode ist Methodendenken. Dabei konstruktive Substruktionen zu vermeiden, und die Maßstäbe der Beschreibung allein aus dem Gegebenen zu entnehmen, also dem, was man beschreibt (hier: dem tatsächlich Hörbaren), ist die Methode der Phänomenologie und keine Selbstverständlichkeit. Sonst hätte man das als Methodenprinzip nicht eigens formulieren müssen.

    Nein, man kann keineswegs alles begründen, weil die 32stel irregulär (also nicht in der Logik der notierten Vierergruppen) zwischen Akkorden und Einzeltönen wechseln. Das ermöglicht bestimmte Strukturen, aber nicht "so ziemlich alles" (anders als z.B. bei Stockhausens Klavierstück 9). Und "konstruktiv" ist es nicht, über die möglichen Strukturen nachzudenken, sondern wäre es, eine von diesen Strukturen durch Akzentuierung zu betonen. Die Kunst besteht darin, den Hörern alle Möglichkeiten offen zu lassen. Nicht das, was "man" hört, ist durch die Musik determiniert, sondern die Uneindeutigkeit verschiedener, aber definierter Möglichkeiten. Dass auch tatsächlich verschiedene Hörer bei dieser Einleitung verschiedene Strukturen hören, hat ja u.a. die Diskussion hier gezeigt.

    Auch das geht wieder an dem, was ich meine, vorbei. Mir ging es darum, verschiedene Beschreibungsebenen zu unterscheiden und gerade nicht, Mehrdeutigkeiten in der Wahrnehmung zu bestreiten. Ich hatte ausdrücklich begründet, dass der Notentext hier nichts (!) determiniert, nur muss man das nur gelesen und zur Kenntnis genommen haben. Zweifellos war meine Begründung komplex und man muss selbstverständlich in der Lage sein, solch einer komplexen Begründung auch zu folgen, was natürlich nicht selbstverständlich ist.


    Diese Diskussion führe ich jetzt auch nicht weiter, denn sie ist unfruchtbar. Da hat Helmut Hofmann zu Recht eingewendet, dass dies nichts mehr zum Sinnverständnis beiträgt. Analysen haben nur Sinn, wenn man dadurch besser versteht, was man hört und einen Gewinn davon hat. Hier ist schließlich kein Seminar für Musikwissenschaft, sondern Liebhaber von Ravels Musik wollen sich diese besser verständlich machen.

    Ich empfinde die Aufnahme der leider sehr jung an einer Hirnblutung verstorbenen außergewöhnlichen Pianistin als ein klangliches Wunder. Sehr individuell gelingt ihr IMO eine eher melodiöse Formulierung der 32tel Figuren der rechten Hand.

    Lieber Siamak,


    schön, dass Du auch nochmals nachhörst. Pogorelich werde ich mir mit Ondine auch nochmals anhören.


    Das ist wirklich tragisch! Die Aufnahme wollte ich mir schon länger besorgen. Das muss ich wohl endlich tun.


    Eigentlich muss man um diese strukturellen Gegebenheiten der Faktur doch gar nicht wissen, und ich habe auch starke Zweifel, ob das Operieren mit Kategorien der literaturwissenschaftlichen Metrik für das Verständnis der Musik etwas zu erbringen vermag.

    Lieber Helmut,


    das hat mit der Geschichte der Musiktheorie zu tun. Musikalische Rhetorik, Musik ist "Klangrede und Tonsprache" (Mattheson). Dann überträgt man die sprachliche Rhythmisierung auf die Musik, orientiert sich am Sprechtonfall. Ravels Ondine ist ein typisches Beispiel, wie stark Komponisten von dieser Denkweise noch um 1900 geprägt sind - obwohl sich die rhetorische Tradition eigentlich weitgehend aufgelöst hat. Er denkt nach wie vor Phrasen, obwohl das hier ja gar keine wirklichen Phrasen (= Melodien) sind. Man kann das was er da schreibt ja in (2+2) = 4 und (4 + 4) = 8 einteilen. Dann hat man die Struktur einer Riemannschen 8taktigen Periode, obwohl das keine ist. ^^ Die Frage ist, ob das für das Hören noch eine Rolle spielt. Michelangeli spielt einen "dynamischen" Rhythmus, so habe ich das immer gehört. Da ist dann der Versuch, das tatsächlich Gehörte (!) als eine einfache Betonungsrhythmik darzustellen, schon ziemlich konstruktiv um nicht zu sagen Krampf. Man kann es - je nach Analysestandpunkt kann man so ziemlich alles begründen - nur entspricht das dann nicht mehr dem, was man tatsächlich auch hört.

    Eigentlich muss man um diese strukturellen Gegebenheiten der Faktur doch gar nicht wissen, und ich habe auch starke Zweifel, ob das Operieren mit Kategorien der literaturwissenschaftlichen Metrik für das Verständnis der Musik etwas zu erbringen vermag. Es genügt, meint ein einem professionellen Pianisten wohl ziemlich dümmlich erscheinender Laie wie ich, die Zweiunddreißigstel-Figuren im Anschlag möglichst egalitär, also absolut gleichförmig zu behandeln, dies in einem ausgeprägten Legato und dreifachen Piano, dabei stets die Anweisung "très doux et très expressif" beachtend, um Ravels aus der dem Stück zugrundeliegenden literarischen Quelle hergeleiteten Aussage-Intention gerecht zu werden.

    Deswegen hatte ich in meiner rhythmischen Analyse den Anapäst herausgestellt, weil dieser jambisch-einheitliche Rhythmus dieses Bemühen, einen gleichförmigen Triller zu spielen, durch seine Homogenität unterstützt. Was ist die "Aussage-Intention"? - klar, das ist die entscheidende Frage. Das herauszubekommen gestaltet sich dann aber natürlich etwas umständlicher... ;)


    Schöne Grüße

    Holger

    Problematisch daran erscheint mir aber nicht nur dieses, sondern vor allem das Sich-Verbohren in diesen Aspekt, was die Gefahr beinhaltet, dass der für diesen Thread relevante Fragenkomplex, nämlich die vom Komponisten intendierte musikalische Aussage-Intention, völlig aus dem Blick gerät und nicht die gebotene Beachtung findet.

    Der Einwand ist völlig berechtigt, lieber Helmut.


    Analysen haben die Schwäche, dass sie sich zu verselbständigen drohen und dann sowohl mit dem, was man tatsächlich hört, reichlich wenig zu tun haben, als auch wenig zur eigentlich Sinnerschließung beitragen. Sich in der Analyse an dem zu orientieren, was man tatsächlich hört, ist eine kritische Forderung an die Analyse und ein "phänomenologisches" Prinzip. Formuliert hat das etwa der russische Musiktheoretiker und Komponist Boris Assafjew, was ich als Phänomenologe natürlich in meinem Buch zitiert habe. :)

    Und da findet er nun zu "Ondine" Kommentare wie diesen:

    "Je acht Zweiunddreißigstel bilden eine Gruppe; man kann sie metrisch als 3 + 3 + 2 auffassen oder die zweite Hälfte als manuelle Umkehrung der ersten. Für den Interpreten, der diese motivische Spielfigur in der Tonstärke ppp mir absoluter Egalität auszuführen weiß, ist alles weitere schon gewonnen, sofern er der Versuchung widersteht, das Poème zur Etüde zu machen - die ältere französische Klaviertradition neigt dazu - und das Tempo "Lent" in "Animé" zu verzerren. "

    Jetzt ist es mir klar, dass die Diskussion hier großenteils ein Aneinander-Vorbeireden war. Die Alternative Dreiergruppen oder Vierergruppen ist nämlich gar keine der rhythmischen, sondern eine der motivisch metrischen Analyse.


    Die Motivspiegelung orientiert sich am Metrum, weil Ravel zwei Viergruppen zu einer Quasi-Phrase durch einen Balken zusammengefasst hat: (((-) (´--)) ((´) (-- ´))). Da ist dann die Quasi-Phrase 4 + 4. Die komplette Phrase (also bezogen auf die 8, Ravels durchgezogenen Balken) kann man dann auch motivisch aufteilen in 3 + 3 + 2. Dann ist das Metrum ebenso symmetrisch 8 + 8 (die 4/4-Taktgruppen metrisch unterteilt in zweimal 2/4).


    Meine Analyse war nicht metrisch-motivisch, sondern rhythmisch mit dem Anapäst. Dann ist die Bezugsgröße auch die 8er Gruppe und man erhält 2 + 3 + 3. Im Rhythmus-Kapitel bei Jankelevich steht, dass sich der Rhythmus bei Ravel vom Metrum emanzipiert. In der Diskussion wurde einfach beides (Rhythmus und Metrum) nicht klar auseinandergehalten. Wenn man das unterscheidet, dann hat man - Analysekomplexität - drei Einteilungen.


    Die Frage ist nun tatsächlich, was man davon hört. Die Analyse kann natürlich auch das Hören beeinflussen. Wenn man sich eher am durchlaufenden Triller orientiert, hört man gar keine Gruppen. Was man hört, liegt letztlich auch am Hörer.


    Und natürlich ist es ein Unterschied, ob man sich der Sache als Spieler oder als Hörer nähert. Wenn man das übt, dann muss man diese komplexe Struktur erst einmal in den Kopf kriegen. Und dann sucht man primär nach Gruppen, was man als Hörer eher weniger braucht. :hello: :)


    Dazu später mehr!


    Schöne Grüße

    Holger

    Die Frage, ob Ravel den Rhythmus aus der literarischen Quelle übernommen haben könnte, habe ich mir auch gestellt. Aloyisius Bertrands Buch ist bekanntlich als Prosagedicht verfasst worden und dort ist kein eindeutiges Anapäst zu erwarten, und nichtsdestotrotz…

    Provence


    Deinen schönen Beitrag will ich doch nicht unkommentiert lassen. Wenn ich die Quelle des Missverständnisses gewesen sein sollte, dass Ravel in der Musik den jambischen Rhythmus (Anapäst) aus Bertrands Dichtung haben sollte, dann muss ich bekennen, dass ich das natürlich nicht gemeint habe. Warum das gar nicht gehen kann, hast Du auch selbst bemerkt:

    Die Prosagedichte sind zwar per Definition nicht klassisch gereimt und haben keine Metrik, weisen jedoch eine ausgeprägte Prosodik auf, die man durchaus unter die Lupe nehmen könnte, um Ravels Komposition zu analysieren.

    Der Schweizer Musikwissenschaftler Theo Hirsbrunner...


    Theo Hirsbrunner – Wikipedia


    hat einen sehr lesenswerten Analysetext mit Interpretation zu Gaspard de la nuit geschrieben. Dort spricht er von einem "Theoriedifizit" der französischen Musik um 1900. Der Interpret hat also bei Ravel das Problem, das geeignete Analysehandwerkszeug zu finden, anders als z.B. in der Musik des 18. Jhd. Da hat man dann die zeitgenössische musikalische Rhetorik (J. N. Forkel etwa), um damit zu verstehen, warum Komponisten was und warum so aufschreiben. Hirsbrunner greift deshalb auf Olivier Messiaen zurück. Es gelingt ihm damit finde ich sehr gut, Ravel zu interpretieren. Darauf hatte ich 2005 und 2008 hier schon mal hingewiesen - 2008 in einer Antwort auf Karl:


    was Du da beim Hören entdeckt hast, hat Olivier Messiaen als den Rhythmus von „anacrouse – accent – désistence“ bezeichnet, den Ravel in „Ondine“ geradezu exemplarisch verwirklicht. „Anacrouse“ ist das langsame Anwachsen der Spannung, „accent“ ist der dynamische Höhepunkt, wohin die rhythmische Steigerungsbewegung hintreibt und „désistence“ ist die darauf folgende Entspannung.

    Damit klärt sich in gewissem Sinne auch diese Frage - besten Dank für den Hinweis auf das Buch, das werde ich mir besorgen:


    aus dem Buch „Ravels Klaviermusik“ von Siglind Bruhn, die man auf „Edition Gorz“ lesen kann. (Der Text und die Überzeugung sind auch aus diesem Buch genommen worden.) Die Autorin untersucht auch das literarische Werk, allerdings vor allem inhaltlich. Und — es tut mir leid das wieder hoch zu bringen — unterteilt „Ondine“ in 3-3-2…

    Als Jemand, der sich mit Musiktheorie beschäftigt, weiß ich natürlich, dass sich gerade auf dem Feld der rhythmisch-metrischen Analyse die Muwis eigentlich immer schon gestritten haben wie die Kesselflicker. ^^ Grundsätzlich verdeckt die Diskussion, wie der Rhythmus bei Ravel nun notiert ist, das eigentliche Problem. Ich habe gestern vergeblich versucht, bei Michelangeli (mehrere Mitschnitte gehört) am Notentext zu verifizieren, wie er die Struktur da rhythmisiert. Und bei Monique Haas und Vlado Perlemuter ist mir das auch nicht gelungen. Dadurch, dass dieser Rhythmus als Triller gespielt wird, wird er "verschmolzen", d.h. die Ordnung löst sich tendentiell auf. Was da passiert, kann man eigentlich nur mit der modernen Chaos-Theorie ("Ungleichgewichtsthermodynamik") erklären: es kommt zu einer Strukturbildung durch Selbstorganisation. D.h. der Spieler erzeugt rhythmische Strukturen, die im Notentext gar nicht mehr direkt ausweisbar sind. Es macht deshalb auch keinen Sinn, sie da auszuweisen zu wollen. Der französische Philosoph und Musikwissenschaftler Vladimir Jankelevich, der das finde ich beste und tiefschürfendste Buch über Ravel geschrieben hat, weist auf Ravels Eigenart hin, dass er zwar ständig Doppel- und Mehrdeutigkeiten gerade auch im Rhythmus komponiert (was von seinem Lehrer Gabriel Faure herkommt, der "Gegenrhythmus" etwa), zugleich aber eine panische Angst vor Unordnung und Chaos hatte und nichts so sehr fürchtete wie den Verlust von Kontrolle und Selbstkontrolle. Deshalb war er auch so ein großer Liebhaber von Uhren (hat sogar eine Uhrenoper geschrieben!), weil da alles so schön perfekt regelmäßig tickt. Der Notentext von Ondine ist für diese merkwürdige Natur Ravels ein exemplarisches Beispiel: Ravel schreibt einen traditionellen Notentext mit pseudo-präzisen und pseudo-eindeutigen Angaben, obwohl in der Realisierung durch den Spieler und auch in den Ohren des Hörers von dieser Eindeutigkeit so gut wie nichts mehr übrig bleibt. Das ist ein typisch Ravelsches Paradox. Was nun sehr bedeutend ist: Wegen dieses Paradoxes verliert hier bei Ondine der Notentext seine Funktion, die er traditionell hat, dass man anhand des Notierten überprüfen kann, ob der Interpret etwas richtig oder falsch macht. (Gegen diesen Versuch von Christian Köhn habe ich Einspruch erhoben, wenn man sich nur bemüht hätte, mich zu verstehen.) Solche Interpretationsfragen kann man deshalb letztlich nur auf einer nicht mehr grammatikalischen, der semantischen und musikhermeneutischen Ebene nämlich, angehen und wenn möglich entscheiden. Und da kommt dann der Text von Bertrand ins Spiel. Ravel hat ja ein "Klaviergedicht" komponiert, das sollte man auch Ernst nehmen. Ravels Notierungen sind paradox in vielerlei Hinsicht. Es macht ja gar keinen Sinn, bei einem durchgehenden Triller, der einem liegenden Ton ("Orgelpunkt") am nächsten kommt, eine metrische Einteilung zu notieren, wie Ravel das tut. Da ist von vornherein klar, dass sie beim Spielen verschwindet.


    Es ist also kein Widerspruch, im Notentext bei Ravel eine Eindeutigkeit analytisch auszuweisen, wenn man diese Paradoxie berücksichtigt. Das widerspricht der Mehrdeutigkeit, die beim Spielen und Hören der Musik dann notwendig entsteht, überhaupt nicht. Kommen wir nun auf den Anapäst zurück:


    Hirsbrunner bemerkt nicht zufällig, dass der Rhythmus bei Messiaen „anacrouse – accent" ein Jambus ist, also jambischen Charakter hat. Damit kann man offenbar Ondine strukturieren - nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Hier liegt eine Art "Selbstähnlichkeit" von Teilaspekt und Ganzem vor (Beispiel der Birnbaum. Der Baum als Ganzes hat dieselbe Form wie die einzelne Birne). Wo man das wirklich sehr eindrucksvoll nachvollziehen kann, ist bei Michelangeli. Er spielt Ondine wirklich nach diesem Messiaen-Rhythmus. (Was Du glaube ich als "Wellenbewegung" richtig erkannt hast.) Es ist also nicht abwegig, zu Beginn da einen jambischen Rhythmus wie den Anapäst zu analysieren. Und ich habe doch ein wenig Genugtuung empfunden, als ich den großen Claudio Arrau mit Ondine hörte: Er spielt tatsächlich zu Beginn den Anapäst deutlich heraus! :P Allerdings verschwindet das wegen des angedeuteten Selbstorganisationsphänomens auch bei Arrau sehr schnell - das Eindeutige wird schon nach zwei Takten uneindeutig.


    Bei Ravel verliert wegen des angedeutenden Paradoxes der Notentext die Funktion einer kritischen Instanz, wo man im Sinne der Wahrheit als Entsprechung einer Vorstellung und Meinung mit einer Sache sagen könnte: Notentext beachtet oder nicht beachtet, richtig oder falsch. Es gibt Interpreten, die noch weiter gehen als Hamelin, d.h. den Rhythmus völlig in einen Triller auflösen. Das sind etwa Lazar Berman und Khatia Buniatishvili. Abgesehen von der Gesamtinterpretation (Berman finde ich großartig, Buniatishvili finde ich geht an Ravel vorbei) kann man eben nicht sagen, dass das "falsch" ist. Was Buniatishvili macht, ist klaviertechnisch fabelhaft und auch sehr poetisch. Mit Blick auf den Text von Bertrand kann man das als "Impressionismus" rechtfertigen. Sie denkt offenbar so, dass man da gar keinen Rhythmus hören soll, sondern nur ein Flimmern wie das sanfte Mondlicht in der stillen Nacht, was auf den See fällt, wo wegen der Windstille sich das Wasser nur leise kräuselt. Das ist dann der Gesang von Ondine, den man durch das murmelnde Wasser (chanson murmurée) hört wie es im Text ja auch steht. Der Notentext sagt eben nicht, ob man den notierten Rhythmus auch als Rhythmus spielen und hören soll. Wenn man das meint, dann vergisst man die ästhetische und musikhermeneutische Dimension, dass das hier bei Ravel eben "musikalischer Impressionismus" ist. Ich finde wie gesagt die Rhythmisierung von Perlemuter, Monique Haas, Michelangeli usw. schlüssiger als Interpretationsansatz, nur fällt die Begründung dafür eben sehr komplex aus. Die Antwort kann nicht so simpel gegeben werden: steht in den Noten oder steht nicht in den Noten!


    Lazar Berman plays Ravel "Ondine" (youtube.com)


    Khatia Buniatishvili - Ravel - Gaspard de la nuit - YouTube


    Schöne Grüße

    Holger

    Die Diskussion ist für mich beendet. Hier geht es längst nicht mehr ums Verstehenwollen, sondern statt dessen nur um das gezielte Missverständen um dem Anderen (in diesem Falle mir) zu demonstrieren und ihn bloßzustellen, wie blöd, ignorant, widersprüchlich er ist, nur um sich selber damit zu profilieren und zu zeigen, wie toll man ist. Auf diesem Niveau diskutiere ich nicht. Wer mit mir diskutieren möchte, muss sich anders verhalten und ein anderes Niveau zeigen.

    Wie man sehen kann, beginnen alle drei Gruppen mit dem Akkord, gefolgt von einem Halbtonschritt in der Oberstimme; die letzte Gruppe ist um ein Element verkürzt. Das ist eindeutig und problemlos als "dasselbe Grundelement" zu hören, nicht anders als beim Finale aus "Scaramouche".

    Die Frage ist eben: Was für ein Grundelement und was für eine Gruppe? Das hier ist eine motivische Analyse und keine rhythmische. Der Rhythmus war aber das Thema und nicht die Motivstruktur. Bei der Komplexität dieser Musik sollte man eben klar definieren, was man analysieren will und was nicht. Sonst redet man aneinander vorbei.


    Und der "Trick" von Christian Köhn ist immer wieder, in seinen Grafiken die von Ravel notierten Balken (die eben die Vierergruppen betonen) einfach wegzulassen.


    :!:

    Das ist einfach falsch. Die drei Elemente sind nicht "inkompatibel" sondern haben, wie man auf einen Blick erkennen kann, dieselbe Grundstruktur, lediglich ein Element ist um einen Baustein gekürzt (nicht anders übrigens als bei Deiner jüngsten Lieblingsfolge). Wenn das nicht ohne Probleme als zusammenhängender Rhythmus erkennbar ist, dann müsstest Du schon erklären, warum das bei der Folge 2-3-3 anders sein soll. Dass Du diese nach 1-3-3-1 von heute morgen jetzt plötzlich als einzig richtige entdeckt hast, zeigt immerhin sehr schön die Pluralität an Möglichkeiten. Vielleicht kommt ja morgen noch 3-2-2 als weitere hinzu, dann hätten wir die schönste Einigkeit erzielt.

    Zu Deiner privaten Rhythmus-Definition ist zu sagen, dass nach ihr nicht nur der zweite Satz aus Tschaikowskys Pathétique und das Finale aus Milhauds Scaramouche sondern z.B. auch "Sacre du Printemps" und weite Teile der Neuen Musik Werke ohne Rhythmus wären, von variablen Metren, Polyrhythmik oder Illusionsrhythmik ganz zu schweigen. Was für ein Schmarrn...

    Das ist mal wieder billige Polemik und geht völlig an der Sache vorbei. Und da ich mich hier nicht so einfach frech als inkompetent vorführen lasse, meine Richtigstellung.


    Bei einer "Analyse" geht es um die Zerlegung eines Ganzen in seine Elemente, aus denen es sich aufbaut (Ernst Kurth benutzt deshalb den Ausdruck "Aufbau-Analyse"). Entscheidend ist das Ziel der Analyse, was man mit der Zerlegung in Elemente aufzeigen will. Hier geht es darum, einen einheitlichen Rhythmus aufzuzeigen, also dass in allen Einzelrhythmen dasselbe rhythmische Grundelement nachweisbar ist. Das aber so, dass dies auch sinnvoll ist, d.h. bei einem Wahrnehmungsphänomen wie dem Rhythmus, dass es auch so wahrgenommen werden kann (sonst ist die Analyse eine willkürlich Konstruktion).


    Man kann analytisch zeigen, dass sich der Anapäst aus einem Jambus ableitet, also jambischen Charakter hat, also den Jambus als Element enthält. Man kann nämlich analysiert den Anapäst als Jambus mit einer unbetonten Silbe als Auftakt auffassen:


    Aus (- ´) wird ((-) (- ´))


    Bei Ravel:


    (- ´) ((-) (- ´)) ((-) (- ´))


    Die Analyse zeigt, dass der Jambus als Grundelement überall enthalten ist und das also ein einheitlicher jambischer Rhythmus ist (einmal Jambus plus zweimal Anapäst).


    Als Dreierrhythmus aufgefasst (3 + 3 + 2) sähe das bei Ravel so aus:


    Zweimal wiederholt wäre das Element: ( - ´ - )


    Analysiert ergibt das einen Trochäus (´ - ) mit unbetontem Auftakt, also:


    ((-) (´ -))


    Man kann aber nun bezeichnend nicht Ravels Rhythmus von Ondine als einheitlich trochäisch auffassen. Dann müsste er nämlich so aussehen:


    ((-) (´ -)) ((-) (´ -)) (´ -)


    Bei Ravel steht nämlich am Schluss (so als 3 + 3 + 2 analysiert) kein Trochäus, sondern ein Jambus:


    ((-) (´ -)) ((-) (´ -)) (- ´)


    D.h. die ersten beiden rhythmischen Elemente hätten jambischen Charakter und das letzte wäre ein Trochäus. Damit ist dieser Analysevorschlag damit gescheitert, eine einheitliche rhythmische Grundstruktur aufzuweisen. Mein Analysevorschlag dagegen kann das.


    Und damit ist für mich hier endgültig Schluss!

    Ich finde theoretische Diskussionen in der Musikrezeption immer dann interessant, wenn sie einen neuen Blick auf ein Werk oder eine Aufnahme eröffnen. Aber das scheint hier gar nicht der Fall zu sein und ich verstehe die Anfeindungen einmal mehr nicht.


    Mich würde aber schon noch interessieren, lieber Holger, was für literarische Hinweise Du in der Partitur gefunden hast, die auf einen Daktylus deuten? Für mich ist das für einen Daktylus viel zu schnell und ich vermag ihn beim besten Willen auch nicht zu hören. Allerdings war das Erkennen von Versmaßen trotz großer Liebe zur Lyrik noch nie meine Stärke und ich bin im Studium dem Thema konsequent aus dem Weg gegangen ;-)

    Weil Du es bist ausnahmsweise meine Antwort. Danach bin ich raus aus der Diskussion.


    Es geht um die Frage, was die grundlegende Struktur ist 4 + 4 oder 3 + 3 + 2. Ich habe gesagt, die Dreierstruktur ist kein Rhythmus. Das hat nur Unverständnis und Polemik ausgelöst - aber das habe ich nun nicht so daher gesagt, sondern es hat einen theoretischen Hintergrund: Hugo Riemann. Riemann sagt, es gibt keinen dreiteiligen Rhythmus, nur einen zweiteiligen. Damit meinte er nun nicht, dass es keine komplexen rhythmischen Formen gibt, sondern dass der zweiteilige Rhythmus die grundlegende rhythmische Struktur ist und alle anderen Formen als Erweiterungen oder Verkürzungen darauf zurückführbar sein müssen. Der theoretische Ansatz hat natürlich auch einen musikpsychologischen Grund: Der Rhythmus muss ja als einheitlicher Rhythmus erfasst werden können und nicht nur als bloße Summierung von unterschiedlichen rhythmischen Elementen. Genau das ist bei 3 + 3 + 2 hier bei Ondine nicht möglich - expliziert in die rhythmische Struktur Senkung-Hebung, betont-unbetont ( - = unbetont, ´ = betont) heißt das nämlich:


    (- ´ -) (- ´ -) ( - ´)


    Das ist nun die bloße Aufsummierung zweier inkompatibler rhythmischer Elemente (einer Dreier- und einer Zweierstruktur) und kein einheitlicher, alle Elemente durchziehender Rhythmus. Die Erfahrung "Einheit in der Mannigfaltigkeit" stellt sich so auch nicht ein.


    Um das besser zu verstehen ein kleiner Ausflug in die griechische Verslehre:


    Jambus (Zweierrhythmus): (- ´)


    Trochäus (Zweierrhythmus) (´ -)


    Von diesen beiden Grundrhythmen sind der Daktylus und Anapäst die Erweiterungen, in denen eben die Zweier-Grundstruktur unbetont/betont bzw. betont/unbetont das grundlegende Element bleibt.


    Jambus ( - ´) - Anapäst ( - - ´) Der Anapäst (Dreierrhythmus) ist nur die Erweiterung des Jambus als Zweierrhythmus ( - ´). Beide Male ist der Grundrhythmus unbetont/betont - also der Zweierrhythmus. Man kann den Anapäst entsprechend als gedehnten Jambus und den Jambus als verkürzten Anapäst auffassen (mit der Elision (= Auslassung) einer unbetonten Silbe)


    Trochäus (Zweierrhythmus) (´ -) - Daktylus (Dreierrhythmus) (´ --) Auch hier dieselbe rhythmische Grundstruktur (Zweierrhythmus) betont/unbetont beim Daktylus lediglich erweitert um eine Senkung.


    Bei Ondine ist der Rhythmus nun ein Anapäst (und natürlich kein Daktylus, bezeichnend hat keiner meinen Fehler, den ich morgens um 6 Uhr noch unausgeschlafen gemacht habe, bemerkt ^^ )


    ((- ´) (- - ´) ( - - ´)) ((- ´) (- - ´) ( - - ´))


    Damit ist die Vorgabe der metrischen Analyse Riemanns erfüllt. In allen rhythmischen Silben ist dieselbe Grundstruktur ausgewiesen und damit ein einheitlicher Rhythmus, der alles durchzieht. Denn der (auftaktige) Jambus zu Beginn ist aufzufassen als ein Anapäst mit Elision einer unbetonten Silbe bzw. der Anapäst als ein gedehnter Jambus: Einheit in der Mannigfaltigkeit statt bloß summativer Aufreihung. Überall ist derselbe (zweiteilige) Rhythmus vorhanden: unbetont/betont.


    Genau so spiele ich das übrigens auch ganz intuitiv!


    Nur mit dieser meiner Interpretation lässt sich auch verständlich machen, warum diese rhythmische Struktur den Triller rhythmisieren kann ohne ihn zu atomisieren. Es ist nämlich ein Unterschied, ob ein solcher rhythmischer Vers eine melodische Phrase begründet oder eine Trillerkette rhythmisiert. Bei einer melodischen Phrase gibt es (das ist die Sprachanalogie) ein Einatmen und Ausatmen, d.h. am Ende der Phrase kann man eine (rhythmische) Atempause machen, die entsteht eben in der Folge 3 + 3 + 2 durch das heterogene Element am Schluss. Man muss dann nach einer Atempause in der nächsten Figur neu ansetzen. Der Anapäst als einheitliche Rhythmisierung leicht/schwer in allen rhythmischen Einzelsilben unterstützt dagegen auch rhythmisch die bruchlose Kontinuität des Trillers. Da gibt es keine Atempausen.


    Nun ist es so, dass der Spieler ja in jedem Fall einen durchlaufenden Triller spielen muss. Hier gibt es letztlich den Ermessensspielraum, inwieweit er die rhythmischen Akzente zugunsten der Wirkungen eines gleichförmigen Trillers egalisiert. Diese Egalisierung führt auch dazu, dass Fluktuationen und Ambiguitäten in der Wahrnehmung der rhythmischen Struktur entstehen. Der Grundrhythmus bleibt jedoch der Anapäst, sonst lässt sich einfach kein durchlaufender Triller gestalten.


    Die eigentlich interessante Frage ist damit aber noch nicht gestellt. Was ist denn die Bedeutung dieses rhythmisierten Trillers? Welche (ästhetische) Wirkung soll damit erzielt werden? Wie weit soll und darf die Egalisierung der rhythmischen Hebungen und Senkungen gehen? Das ist eben dann keine musikalisch-grammatikalische Frage mehr (auf dieser Ebene ist sie schlicht unentscheidbar), sondern eine musikhermeneutische nach der Bedeutung. Hier gibt es bei den Interpreten zwei Gruppen - die Rhythmisierer und die Egalisierer. Diese Frage werde ich hier aber nicht beantworten und sage statt dessen: Tschüss!

    Hier bei Ravel sind nunmal Vierergruppen notiert und keine Dreiergruppen (was er ja auch hätte tun können, warum hat er es denn nicht getan?). Also ist der Hinweis auf Messiaen usw. zwar interessant (in anderer Hinsicht passt er schon, wenn man den Thread nur durchliest, wird man finden, dass ich da vor 15 Jahren auf Messiaen hingewiesen hatte) aber hier unangebracht. Hermeneutisches Prinzip: Die naheliegende Erklärung ist erst einmal besser als die weit hergeholte, wenn sie ihre Erklärungsfunktion erfüllt. Und das tut sie hier.


    Bei der Sprache geht es letztlich auch um die leichte und mühelose Ausführbarkeit. Sprachwissenschaftler kennen das - Gesetze der Lautassimilation aus psychologisch-denkökonomischen Gründen. Der Daktylus, so wie er notiert ist, ist einfach als fließender Rhythmus viel leichter auszuführen als 3-3-2. Auch das ist Fakt. Das kann jeder ja mal versuchen, der ein bisschen Klavier spielen kann und sollte es eigentlich merken.


    Man kann bei - ´ - - ´ - - ´ auch einfach die Notierung nach Takt/Auftakt weglassen. Dann bleibt es trotzdem ein Daktylus. So ist die Notierung (durchgezogener Strich). Bei dem Tempo und der Tremolo-Dichte relativiert sich sowieso der Betonungsakzent.


    Bei Ravels G-Dur-Konzert gibt es eine Sinnwidrigkeit von Walzerrhythmus und rhythmischer Notierung. Darauf machen Ravel-Experten aufmerksam. Hier bei Ondine liegt eine solche Sinnwidrigkeit schlicht nicht vor, wenn man den Daktylus auch rhythmisch so herausspielt. Insofern ist der Vergleich unangebracht und mir damit wieder mal "beweisen" zu wollen, dass ich dumm bin, einfach nur töricht und nur Ausdruck von Eitelkeit, demonstrieren zu müssen, dass man alles besser weiß.


    Und damit Punkt und Ende. Ich sage nichts mehr zu dem Thema.

    Die Aufteilung 3-3-2 ist z.B. in osteuropäischer Volksmusik und im Jazz elementar. Das ist dann nach Deiner Defitinion also alles "Musik ohne Rhythmus". Nach Platon ist Rhythmus "die Ordnung der Bewegung". Heutzutage bezeichnet man damit einfach generell die Struktur bzw. den Ablauf der musikalischen Zeit. Der Satz "Die Aufteilung 3-3-2 ergibt auch gar keinen Rhythmus" widerspricht offensichtlich beidem. In Bezug auf die Balkensetzung hattest Du übrigens im Falle des langsamen Satzes des G-Dur-Konzertes genau umgekehrt argumentiert und behauptet, Ravel habe dort einen Walzer-Rhythmus gemeint und nur "aus Pedanterie" Zweier-Gruppen geschrieben.

    Hier geht es aber nicht um osteuropäische Musik und um Jazz, sondern um Ravel. Die Notentextnotierung spricht nun mal eindeutig dafür, dass Ravel hier einen Daktylus komponiert hat. Er ist offenbar gebildet genug, dass er weiß, was so ein Versmaß ist. Das darf man unterstellen. Vierergruppen sind nunmal eindeutig notiert und nicht Dreiergruppen. Mit Bezug auf die Pedanterie ist das hier genau so ein Fall. Wenn man der Auffassung ist wie viele Interpreten, dass man hier eigentlich gar keinen Betonungsrhythmus hören soll, sondern eine homogene, flirrende Klangfläche, ist Ravels rhythmische Notierung auch hier Pedanterie.

    Warum das? Natürlich kann man das. Das ist doch gerade der Witz der Stelle: Man kann beide rhyhthmische Strukturen denken, spielen und hören.

    Ich kann das jedenfalls nicht - ich verlängere automatisch die "2" und dann holpert es. Der Interpret sollte sich beim Einstudieren tunlichst am Daktylus orientieren, so wie er notiert ist, die eventuellen Doppeldeutigkeiten ergeben sich dann durch die Ausführung und das Hören von selbst. Von vornherein in Dreiergruppen denken sollte man also nicht. Das sagt nunmal der Notentext.

    Warum "muss" sie das? Weil Dr. Kaletha das verlangt?

    Das ist mal wieder der typische Pöbel-Stil von Christian Köhn. :cursing: Das war ein Versuchsballon von mir. Genau das passiert, was ich erwartet habe. Deshalb beende ich hiermit die Diskussion. Und auch in Zukunft gibt es keine Diskussionsbeiträge mehr von mir. Wie das hier zeigt, war meine Entscheidung in dieser Frage genau richtig. Und die Polemik ist natürlich pure Ignoranz in böswilliger, rein polemischer Absicht. Denn die Musik steht hier in Verbindung mit der Textdichtung, die im Notentext (den ich natürlich habe, die Originalausgabe von Durant/Paris) ja auch abgedruckt ist. Es ist also keine Marotte von mir, diesen hermeneutischen Bezug herzustellen. Aber natürlich geht es von Dir hier wieder mal einzig und allein darum - absolut respektlos - mich für dumm zu verkaufen.


    Hinweis an die Moderation. Wenn das Tamino-Forum möchte, dass ich hier Beiträge schreibe, sollte sie sich um einen den Maßstäben des Respekts und der Anständigkeit genügenden Diskussionsstil bemühen. Wenn das nicht der Fall ist, dann ziehe ich mich eben zurück. Punkt. Das war mein letztes Wort! :cursing: :cursing: :cursing: :cursing: :cursing: :cursing:

    Der Rhythmus von Ondine


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    P.S. Es muss natürlich klassischer Anapäst heißen! :!:


    Richtigstellungen hier (und genauere Analyse):


    Ravel: Gaspard de la Nuit


    Ravel: Gaspard de la Nuit


    Der Rhythmus, den Ravel hier notiert, ist eigentlich klar erkennbar. Es ist ziemlich eindeutig und unzweideutig ein klassischer Daktylus. (Anapäst, s.u.!)


    Beispiel Stefan George Das Jahr der Seele


    Es lacht in dem steigenden jahr dir

    Der duft aus dem garten noch leis.


    Die zweite Zeile enthält genau den Rhythmus von Ondine:


    - ´- - ´ - - ´


    Mit Auftakt den Rhythmus geschrieben:


    ( - ´) ( - - ´ ) (- - ´ )


    Dass das von Ravel auch genau so und nicht anders gemeint ist, zeigt der Notentext. Zwei Vierergruppen sind jeweils mit einem Balken zusammengefasst, was genau eine daktylische Zeile ergibt und davon im Takt dann zwei hintereinander:


    (( - ´ ) (- - ´) ( - - ´)) (( - ´) (- - ´) ( - - ´ ))


    Die Aufteilung 3 - 3 - 2 widerspricht erst einmal der Notentextnotierung und sie ergibt auch gar keinen Rhythmus. Zum Rhythmus gehört das Fließen (griech. rhythmos kommt von rhei = "fließen"). So aufgeteilt kann man nämlich wenn man es versucht nicht durchgehend 32tel spielen. Eine andere Frage ist natürlich, wie man das hören kann. Durch die Dichte der Tremolos kommt es zu einer Verschleierung und Verschmelzung der rhythmischen Struktur, und da kann die Gestaltwahrnehmung auch andere Gruppierungen herausgliedern wie eben 3 - 3 - 2.


    Der Beginn von Ondine lässt allerdings die Frage offen, ob man einen Rhythmus überhaupt hören soll. Es gibt eine Gruppe von Interpreten, die hier (und das kann man durch den Text der Dichtung begründen) nur ein leises "Flimmern" ohne rhythmische Akzente hören will: der sanft von Mondstrahlen beschienene fast stille See im Mondlicht, wo das Licht auf der Wasseroberfläche nur leise flimmert. Dafür spricht, dass die "rhythmisierende Interpretation" unmöglich ein ppp realisieren kann und Akzente setzt, die gar nicht notiert sind. Aber eindeutig ist das eben nicht zu beantworten, welche Sicht "richtig" ist. Ich bin auch für die "rhythmisierende" Lesart von Michelangeli. Die Begründung dafür sieht allerdings komplizierter aus. Allein durch eine "positivistische" Analyse der Struktur des Notentextes kann man das m. E. nicht begründen, da muss dann die semantische, musikhermeneutische Ebene hinzukommen.


    Schöne Grüße

    Holger

    Mit dieser ABM-Aufnahme des Gaspard könnte ich noch aufwarten, sie stammt allerindgs aus London:



    Bemerkenswert, dass diese Serien einstmals an italienischen Kiosken zu kaufen war, in Deutschland wohl eher undenkbar sowas.

    ... die LP habe ich auch noch, glaube ich, lieber Thomas! :)

    Obwohl klanglich bescheiden, ist der Anfang von ONDINE aus Helsinki beeindruckend (ab 1:14:53)!

    Hier sind die beiden "grundverschiedenen metrischen Modelle" (Ch.Köhn) sehr gut zu hören.

    Obwohl ich das von ihm in und auswendig kenne, raubt mir das mal wieder den Atem. :hail: Ein toller Mitschnitt - würde ich auf CD haben wollen. Technisch zusammengestückelt - Scarbo ist deutlich klarer als Ondine und Le Gibet. Die ersten beiden Teile mit Hintergrundgeräuschen - ist das mit mäßiger Übersprechdämpfung aus dem Radio aufgenommen? Aber die Klangqualität ist durchaus passabel - die ästhetischen Qualitäten von ABMs Spiel kann dieser Mitschnitt trotz Mängeln sehr gut vermitteln. Es gibt kleine aber merkliche Unterschiede zu Lugano, ansonsten derselbe Interpretationsansatz. Le Gibet hat mich bei diesem Mitschnitt am tiefsten beeindruckt - so und nicht anders denke ich da nur... (Eine bemerkenswerte harmonische Linie bei den Akkordverschmelzungen am Schluss kommt allerdings nur in Lugano heraus.) ABM liebte Finnland und die Finnen, weil sie so nett zu ihm waren. Dort soll er auch krank gespielt haben, um kein Konzert absagen zu müssen. Man merkt irgendwie, dass er sich da sehr wohl fühlt. ^^


    Die Nuova-Era CD (Nr. 2218) mit dem Lugano-Mitschnitt ist bei mir verfärbt und weist auf der Rückseite gefährliche Auflösungsspuren auf. Vielleicht lässt sie sich gar nicht mehr abspielen. Ich habe sie auch schon ewig nicht mehr gehört, weil von minderer Qualität der Überspielung (wohl eine schlechte Kopie). Die HUNT-CD dagegen ist tadellos.


    Zum Rhythmus sage ich morgen noch etwas.

    ABM ist hier qualitativ so weit entfernt von Gavrilov, und der ist ja wirklich kein Durchschnittspianist.

    Da stimme ich Dir voll zu, lieber Karl! :)


    Schöne Grüße

    Holger

    Arturo Benedetti Michelangeli - Piano recital - Lugano, 1968 - YouTube


    Nochmals dazu:


    Damals in Düsseldorf spielte ABM vor der Pause wie in diesem Mitschnitt zu Beginn die Chopin-Sonate. Darauf folgten beide Hefte der Images von Debussy. Nach der Pause war das Programm Ravel: erst Valses nobles et sentimentales und dann Gaspard de la nuit.


    1968 in Lugano hat er nach dem Chopin den Schumann gespielt - Faschingsschwank aus Wien. Das ist eine Konzerthälfte. Dann, für das Programm nach der Pause, kommt in diesem Mitschnitt nur noch Childrens Corner. Da fehlt das "Hauptstück" sozusagen, das reicht offenkundig nicht für eine Konzerthälfte. Childrens Corner entspricht von Anforderungen und Ausmaßen in etwa den Valses nobles... und da würde dann Gaspard de la nuit passen. Darüber könnte natürlich Jemand Auskunft geben, der im Archiv des Rundfunks in Lugano beschäftigt ist. ^^

    Was bedeuten würde, dass auf der von mir genannten RoCoCo-Platte der Lugano-Mitschnitt ist?

    Christian hat diese Frage vielleicht gelöst, lieber Thomas.

    Der obige youtube-Mitschnitt des Helsinki-Konzerts ist ohne Bild und somit kein Beweis.


    Wie bereits von Karl verlinkt, wird auf https://pianistdiscography.com…cinfoSENT=7252&PIANIST=31 für dieses Konzert ein Programm mit dem Gaspard angeführt.

    Und genau für dieses Konzert mit diesem Programm (also mit Gaspard) findet sich auch ein youtube-Video:

    Interessant, lieber Christian! Da diese Einstellung vom ABM-Document-Center ist, wird das auch stimmen. Interessant ist das folgende Youtube-Video, wo sich der, der das eingestellt hat, des Aufnahmedatums nicht ganz sicher ist:


    Arturo Benedetti Michelangeli - Piano recital - Lugano, 1968 (youtube.com)


    Da fehlt nun ausgerechnet Gaspard de la nuit. Aber wenn man dies mit dem Helsinki-Programm von 1969 vergleicht, gibt es eine gewisse Deckung, wenn man Gaspard de la nuit ergänzt (den Schumann). Vielleicht wurde das volle Programm unvollständig aus dem Radio mitgeschnitten, was hier bei Youtube erscheint? So gehe ich davon aus (jedenfalls spricht viel dafür), dass er in beiden Fällen ein ähnlich gewichtetes Programm gespielt hat, also wohl doch zwei Aufnahmen existieren aus Lugano und Helsinki 1968 und 1969. Aufnahmetechnisch unterscheiden sich die Mitschnitte aus Helsinki aber deutlich von denen aus Lugano. In Lugano sind das qualitativ sehr hochwertige Aufnahmen des Rundfunks der italienischen Schweiz. Die aus Helsinki sind da aufnahmetechnisch deutlich schwächer, jedenfalls nach den bei AURA veröffentlichten Mitschnitten zu urteilen. Insofern glaube ich nicht, dass man sie verwechseln kann (dazu kenne ich sie auch im Detail zu gut, jedenfalls die Lugano-Aufnahme - die aus Helsinki habe ich nicht, die muss ich mir nachher zuhause bei Youtube anhören, dann bin ich schlauer!). ^^ :)

    Das Dumme ist, dass die Nuova Era CD (wo noch Scarlatti, Debussy draufgepackt ist von ganz anderen Aufnahmen) keinerlei Daten hat, auch keine Produktionsziffer. Auch Bilder habe ich keine im Netz gefunden. Vielleicht gelingt es mir ja noch, was ausfindig zu machen ... ^^


    Schöne Grüße

    Holger

    Lieber Karl,


    gerade beim Durchsehen entdeckt:


    Ravel: Gaspard de la Nuit


    Da hast Du die Bilder der Arcadia-CD eingestellt, die mit der HUNT-CD wohl identisch ist. Auch da steht fälschlich "Lugano 1969" (statt richtig "1968"). Da wurden die fehlerhaften Daten offenbar übernommen, weil man keine genauen Angaben hatte (typisches Problem von "Raubkopien" ^^ ) .


    Schöne Grüße

    Holger

    Die von Holger gezeigte HuntCD beinhaltet anscheinend eine Aufnahme aus Helsinki, die Luganoaufzeichnung ist auf der Memories Doppel CD.

    Lieber Karl,


    die Verwirrung haben die fehlerhaften Angaben auf diesen Mitschnitten gestiftet. Die Hunt-CD ist definitiv identisch mit der LP und der Nuova Era-CD. Es ist die Aufnahme aus Lugano. Nur sind da - ich habe gerade geschaut - die Angaben verwirrend falsch: HUNT CD 904, es steht im Klappentext Lugano (!) 1969. Die Jahreszahl ist falsch, das muss natürlich 1968 heißen. (Bei Nuova Era steht richtig "Lugano 1968") Die Aufnahme aus Helsinki habe ich gar nicht und auch nicht die aus New York. Bei der Discographie haben sie dann gedacht, wenn die Jahreszahl "1969" ist, muss das die Aufnahme aus Helsinki sein. Ist sie aber nicht! ^^


    Schöne Grüße

    Holger

    Sehr verdienstvolle Seite. Bei mir in der Sammlung steht "ABM Vol. 5" von Rococo-Records, eine Aufnahme -wie ich dank dieser Seite jetzt weiß- vom 22.03.1969 aus Helsinki. Die Aufnahme aus Lugano ist ganz gut beschaffbar (für Plattenliebhaber jedenfalls). Ist der Unterschied zwischen den beiden Recitals eklatant?

    Lieber Thomas,


    das kanadische Rococo-Label ist ja das, wogegen ABM mal wegen der Verbreitung von Raubkopien prozessierte. Das ist allerdings Geschichte, denn all diese Mitschnitte sind heute legal verbreitet (das ABM-Document-Center in ABMs Geburtsstadt Brescia sorgt auch dafür). Das Helsinki-Konzert (ist in der Aura-Box enthalten) enthält die Kuriosität, dass ABM zu Beginn von Reflets dans l´eau einen dicken Fehler macht. Ausgerechnet - wo er das Stück tausend mal gespielt hat und diese Stelle absolut harmlos ist. Wohl war er irgendwie kurz abgelenkt. Eine Konzentrationsschwäche. Er selbst sagte mal (Humor hatte ABM!): "Man wäre ein großer Esel zu glauben, im Konzert könne nicht etwas Schreckliches passieren." Dagegen die Lugano-Aufnahme ist absolut fehlerlos (wohlgemerkt ist das ein Konzertmitschnitt!) und von einer schier unglaublichen Perfektion und Ausgefeiltheit. Ein Wunder von Konzentrationsfähigkeit und Selbstkontrolle bei diesem immens schwierigen Stück! Dazu noch klangtechnisch hervorragend. Ich verstehe nicht, warum sie kaum veröffentlich wird. Der Vatikan-Mitschnitt dagegen ist doch aufnahmetechnisch sehr mäßig, es gibt ihn aber in zahlreichen CD-Ausgaben. Was natürlich sehr schade ist. Noch bedauerlicher ist, dass ABM nicht Gaspard de la nuit zusammen mit den Debussy-Preludes Heft II in Bielefeld damals für die DGG aufgenommen hat. Aber da wurmt man sich über seine Skrupel genau so wie bei Krystian Zimerman, den ABM sehr hoch schätzte und der ihm in dieser Hinsicht (leider!) sehr ähnlich ist. Wenn Du die LP bekommen kannst, besorge sie Dir unbedingt! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

    Sehr verdienstvolle Seite. Bei mir in der Sammlung steht "ABM Vol. 5" von Rococo-Records, eine Aufnahme -wie ich dank dieser Seite jetzt weiß- vom 22.03.1969 aus Helsinki. Die Aufnahme aus Lugano ist ganz gut beschaffbar (für Plattenliebhaber jedenfalls). Ist der Unterschied zwischen den beiden Recitals eklatant?

    Lieber Thomas,


    das kanadische Rococo-Label ist ja das, wogegen ABM mal wegen der Verbreitung von Raubkopien prozessierte. Das ist allerdings Geschichte, denn all diese Mitschnitte sind heute legal verbreitet (das ABM-Document-Center in ABMs Geburtsstadt Brescia sorgt auch dafür). Das Helsinki-Konzert (ist in der Aura-Box enthalten) enthält die Kuriosität, dass ABM zu Beginn von Reflets dans l´eau einen dicken Fehler macht. Ausgerechnet - wo er das Stück tausend mal gespielt hat und diese Stelle absolut harmlos ist. Wohl war er irgendwie kurz abgelenkt. Eine Konzentrationsschwäche. Er selbst sagte mal (Humor hatte ABM!): "Man wäre ein großer Esel zu glauben, im Konzert könne nicht etwas Schreckliches passieren." Dagegen die Lugano-Aufnahme ist absolut fehlerlos (wohlgemerkt ist das ein Konzertmitschnitt!) und von einer schier unglaublichen Perfektion und Ausgefeiltheit. Ein Wunder von Konzentrationsfähigkeit und Selbstkontrolle bei diesem immens schwierigen Stück! Dazu noch klangtechnisch hervorragend. Ich verstehe nicht, warum sie kaum veröffentlich wird. Der Vatikan-Mitschnitt dagegen ist doch aufnahmetechnisch sehr mäßig, es gibt ihn aber in zahlreichen CD-Ausgaben. Was natürlich sehr schade ist. Noch bedauerlicher ist, dass ABM nicht Gaspard de la nuit zusammen mit den Debussy-Preludes Heft II in Bielefeld damals für die DGG aufgenommen hat. Aber da wurmt man sich über seine Skrupel genau so wie bei Krystian Zimerman, den ABM sehr hoch schätzte und der ihm in dieser Hinsicht (leider!) sehr ähnlich ist. Wenn Du die LP bekommen kannst, besorge sie Dir unbedingt! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

    Ich mache mir das als Laie, aber immerhin doch engagierter Hörer, etwas einfacher. Es gibt Einspielungen, die mich überzeugen, manchmal kürzer, manchmal länger. Wenn mir etwas über dreißig oder sogar fünfzig Jahre bei regelmäßigem Hören gefällt, gehe ich davon aus, dass etwas dran sein muss. Es kann sein, dass mir irgendwelche Interpretationen nach einiger Zeit dann doch zu oberflächlich vorkommen ....

    Das wirklich Gute bewährt sich. Selbst wenn man sich von den Aufnahmen entfernt, mit denen man die Werke kennenlernte durch das Kennenlernen von immer wieder neuen, so kommt man letztlich immer wieder auf die alten prägenden - wenn sie denn überragend waren - zurück. So jedenfalls meine Erfahrung.

    Bei Hamelin habe ich nun trotz der technischen Fehler, von denen einer sogr in der Interpretation angelegt sein mag, neue und überraschende Linien gehört. So etwas gefällt mir beim ersten Hören fast immer. Selbstverständlich höre ich die eiserne Klarheit bei Michelangeli. Ich habe allerdings keine Idee im Hinterkopf, dass es nur eine einzige Interpretation geben müsste, die dem Werk gerecht würde, bin also ein Verfechter von mehreren Interpretaionen, denen ich etwas abgewinnen kann.

    Ich kenne wahrscheinlich zu viele - und darunter auch viele sehr gute - Interpretationen von dem Werk, dass mir da bei Hamelin etwas überraschend Neues aufgefallen wäre. ^^ Insgesamt ist das eine sehr geschlossene Darstellung, die aber Ravel irgendwo im Kontext der Spätromantik verortet, was ja auch Hamelins spezielles Repertoire ist, womit er sich profiliert hat. Er ist auch immer verbindlich und nie flach - poetisch und einnehmend empfindsam gespielt ist das unzweifelhaft. Insofern ärgert mich diese Interpretation in keiner Weise, wie es etwa die von Ivo Pogorelich tut. "Dem Werk gerecht werden" ist schon ein weiteres Streufeld, wo man dann die Frage nach dem "mehr oder weniger" stellen kann bei der Berücksichtigung aller Aspekte. Letztlich finde ich z.B. Martha Argerichs Interpretation wesentlich bedeutender als die von Hamelin. Sie tappt eben nicht in die Falle der Romantisierung, wohl bedingt durch ihren Lehrer Friedrich Gulda, der auch ganz ausgezeichnet ist bei Gaspard de la nuit - in etlichen Aspekten ABM nicht unähnlich. Martha Argerich macht aus Gaspard de la nuit ein impressionistisches Fest von Valeurs. Das ist musikalisch und pianistisch einfach märchenhaft gut, so dass ich mir eigentlich jeden ihrer Mitschnitte immer gerne und mit großer Neugier anhöre - ich habe nicht nur die Studioaufnahme bei der DGG, sondern (fast) alle Konzertmitschnitte. Natürlich kann man sich da fragen, ob das nicht in tieferem Sinne an Ravel vorbei geht und auf einem ästhetischen Missverständnis beruht. Nur sind die Qualitäten so überragend (und das ist eben letztlich kein rückwärts gewandter, sondern auch ein sehr "moderner" Ravel) und sie setzt ihr Konzept so konsequent und mit einem so großen Können um, dass die Argerich-Interpretation allein deshalb unverzichtbar ist. Gerade weil die Umsetzung so überragend ist, führt so eine interpretatorische Auffassung dann dazu, dass man sich die tieferen Interpretationsfragen überhaupt stellt und stellen kann. Und das spricht für sich.


    Schöne Grüße

    Holger

    Ich mache mir das als Laie, aber immerhin doch engagierter Hörer, etwas einfacher. Es gibt Einspielungen, die mich überzeugen, manchmal kürzer, manchmal länger. Wenn mir etwas über dreißig oder sogar fünfzig Jahre bei regelmäßigem Hören gefällt, gehe ich davon aus, dass etwas dran sein muss. Es kann sein, dass mir irgendwelche Interpretationen nach einiger Zeit dann doch zu oberflächlich vorkommen ....

    Das wirklich Gute bewährt sich. Selbst wenn man sich von den Aufnahmen entfernt, mit denen man die Werke kennenlernte durch das Kennenlernen von immer wieder neuen, so kommt man letztlich immer wieder auf die alten prägenden - wenn sie denn überragend waren - zurück. So jedenfalls meine Erfahrung.

    Bei Hamelin habe ich nun trotz der technischen Fehler, von denen einer sogr in der Interpretation angelegt sein mag, neue und überraschende Linien gehört. So etwas gefällt mir beim ersten Hören fast immer. Selbstverständlich höre ich die eiserne Klarheit bei Michelangeli. Ich habe allerdings keine Idee im Hinterkopf, dass es nur eine einzige Interpretation geben müsste, die dem Werk gerecht würde, bin also ein Verfechter von mehreren Interpretaionen, denen ich etwas abgewinnen kann.

    Ich kenne wahrscheinlich zu viele - und darunter auch viele sehr gute - Interpretationen von dem Werk, dass mir da bei Hamelin etwas überraschend Neues aufgefallen wäre. ^^ Insgesamt ist das eine sehr geschlossene Darstellung, die aber Ravel irgendwo im Kontext der Spätromantik verortet, was ja auch Hamelins spezielles Repertoire ist, womit er sich profiliert hat. Er ist auch immer verbindlich und nie flach - poetisch und einnehmend empfindsam gespielt ist das unzweifelhaft. Insofern ärgert mich diese Interpretation in keiner Weise, wie es etwa die von Ivo Pogorelich tut. "Dem Werk gerecht werden" ist schon ein weiteres Streufeld, wo man dann die Frage nach dem "mehr oder weniger" stellen kann bei der Berücksichtigung aller Aspekte. Letztlich finde ich z.B. Martha Argerichs Interpretation wesentlich bedeutender als die von Hamelin. Sie tappt eben nicht in die Falle der Romantisierung, wohl bedingt durch ihren Lehrer Friedrich Gulda, der auch ganz ausgezeichnet ist bei Gaspard de la nuit - in etlichen Aspekten ABM nicht unähnlich. Martha Argerich macht aus Gaspard de la nuit ein impressionistisches Fest von Valeurs. Das ist musikalisch und pianistisch einfach märchenhaft gut, so dass ich mir eigentlich jeden ihrer Mitschnitte immer gerne und mit großer Neugier anhöre - ich habe nicht nur die Studioaufnahme bei der DGG, sondern (fast) alle Konzertmitschnitte. Natürlich kann man sich da fragen, ob das nicht in tieferem Sinne an Ravel vorbei geht und auf einem ästhetischen Missverständnis beruht. Nur sind die Qualitäten so überragend (und das ist eben letztlich kein rückwärts gewandter, sondern auch ein sehr "moderner" Ravel) und sie setzt ihr Konzept so konsequent und mit einem so großen Können um, dass die Argerich-Interpretation allein deshalb unverzichtbar ist. Gerade weil die Umsetzung so überragend ist, führt so eine interpretatorische Auffassung dann dazu, dass man sich die tieferen Interpretationsfragen überhaupt stellt und stellen kann. Und das spricht für sich.


    Schöne Grüße

    Holger

    Trotzdem kann ich mich des Charmes der Einspielung von Hamelin nicht entziehen. Ich bitte da um Entschuldigung.

    Dafür brauchst Du Dich nicht zu entschuldigen. ^^ Hamelin ist ja nicht der Einzige, der Ondine so "schön romantisch" spielt. Zweifellos hat das "Charme". Aber ob das dem Stück wirklich gerecht wird, ist eben eine tiefer gehende, ziemlich komplexe Interpretationsfrage. Selbst Cord Garben, ABMs ehemaliger Schüler und Produzent, hat seinen Lehrer hier überhaupt nicht verstanden, warum er es so macht wie er es macht. ^^ Da Gaspard de la nuit mein Lieblingsstück ist, seit mich der Beginn von Ondine "in den Bann schlug", als ich es in einem Radio-Portrait über ABM als Jugendlicher hörte und mir daraufhin dann 1980 die oben abgebildete Schallplatte kaufte, hätte ich dazu sehr viel zu sagen. Das tue ich vielleicht, wenn ich demnächst die Aufnahme von Yevgeny Sudbin bespreche auf meiner Kolumnenseite. Ansonsten gibt es zu Gaspard de la nuit einen Thread, wo ich auch einiges dazu geschrieben habe. ;)

    ChKöhn und Dr. Holger Kaletha wie findet ihr denn den Chamayou?

    Das höre ich mir noch an. Bin gestern dazu nicht mehr gekommen.


    Schöne Grüße

    Holger

    Trotzdem kann ich mich des Charmes der Einspielung von Hamelin nicht entziehen. Ich bitte da um Entschuldigung.

    Dafür brauchst Du Dich nicht zu entschuldigen. ^^ Hamelin ist ja nicht der Einzige, der Ondine so "schön romantisch" spielt. Zweifellos hat das "Charme". Aber ob das dem Stück wirklich gerecht wird, ist eben eine tiefer gehende, ziemlich komplexe Interpretationsfrage. Selbst Cord Garben, ABMs ehemaliger Schüler und Produzent, hat seinen Lehrer hier überhaupt nicht verstanden, warum er es so macht wie er es macht. ^^ Da Gaspard de la nuit mein Lieblingsstück ist, seit mich der Beginn von Ondine "in den Bann schlug", als ich es in einem Radio-Portrait über ABM als Jugendlicher hörte und mir daraufhin dann 1980 die oben abgebildete Schallplatte kaufte, hätte ich dazu sehr viel zu sagen. Das tue ich vielleicht, wenn ich demnächst die Aufnahme von Yevgeny Sudbin bespreche auf meiner Kolumnenseite. Ansonsten gibt es zu Gaspard de la nuit einen Thread, wo ich auch einiges dazu geschrieben habe. ;)

    ChKöhn und Dr. Holger Kaletha wie findet ihr denn den Chamayou?

    Das höre ich mir noch an. Bin gestern dazu nicht mehr gekommen.


    Schöne Grüße

    Holger

    Die Schallplatte war diese hier:


    Michelangeli-RR404_BIG.jpg


    Discocorp : Michelangeli - Brahms, Ravel (pianistdiscography.com)


    Auf dieser Seite ist auch das Aufnahmedatum vermerkt:


    "June 4, 1968 in Lugano, Teatro Kursaal" - auf der LP selbst steht "1968".


    Auf meiner LP ist noch ein Aufkleber "Import" drauf. Erscheinungsjahr der LP war 1980. :)


    Ich habe die Aufnahme noch auf einer anderen CD vom Label Nuova Era - leider ist die Qualität dieser CD-Überspielung nicht optimal, die bei der oben abgebildeten von HUNT dagegen ist es. :)

    Die Schallplatte war diese hier:


    Michelangeli-RR404_BIG.jpg


    Discocorp : Michelangeli - Brahms, Ravel (pianistdiscography.com)


    Auf dieser Seite ist auch das Aufnahmedatum vermerkt:


    "June 4, 1968 in Lugano, Teatro Kursaal" - auf der LP selbst steht "1968".


    Auf meiner LP ist noch ein Aufkleber "Import" drauf. Erscheinungsjahr der LP war 1980. :)


    Ich habe die Aufnahme noch auf einer anderen CD vom Label Nuova Era - leider ist die Qualität dieser CD-Überspielung nicht optimal, die bei der oben abgebildeten von HUNT dagegen ist es. :)