Die Frage, ob Ravel den Rhythmus aus der literarischen Quelle übernommen haben könnte, habe ich mir auch gestellt. Aloyisius Bertrands Buch ist bekanntlich als Prosagedicht verfasst worden und dort ist kein eindeutiges Anapäst zu erwarten, und nichtsdestotrotz…
Provence
Deinen schönen Beitrag will ich doch nicht unkommentiert lassen. Wenn ich die Quelle des Missverständnisses gewesen sein sollte, dass Ravel in der Musik den jambischen Rhythmus (Anapäst) aus Bertrands Dichtung haben sollte, dann muss ich bekennen, dass ich das natürlich nicht gemeint habe. Warum das gar nicht gehen kann, hast Du auch selbst bemerkt:
Die Prosagedichte sind zwar per Definition nicht klassisch gereimt und haben keine Metrik, weisen jedoch eine ausgeprägte Prosodik auf, die man durchaus unter die Lupe nehmen könnte, um Ravels Komposition zu analysieren.
Der Schweizer Musikwissenschaftler Theo Hirsbrunner...
Theo Hirsbrunner – Wikipedia
hat einen sehr lesenswerten Analysetext mit Interpretation zu Gaspard de la nuit geschrieben. Dort spricht er von einem "Theoriedifizit" der französischen Musik um 1900. Der Interpret hat also bei Ravel das Problem, das geeignete Analysehandwerkszeug zu finden, anders als z.B. in der Musik des 18. Jhd. Da hat man dann die zeitgenössische musikalische Rhetorik (J. N. Forkel etwa), um damit zu verstehen, warum Komponisten was und warum so aufschreiben. Hirsbrunner greift deshalb auf Olivier Messiaen zurück. Es gelingt ihm damit finde ich sehr gut, Ravel zu interpretieren. Darauf hatte ich 2005 und 2008 hier schon mal hingewiesen - 2008 in einer Antwort auf Karl:
was Du da beim Hören entdeckt hast, hat Olivier Messiaen als den Rhythmus von „anacrouse – accent – désistence“ bezeichnet, den Ravel in „Ondine“ geradezu exemplarisch verwirklicht. „Anacrouse“ ist das langsame Anwachsen der Spannung, „accent“ ist der dynamische Höhepunkt, wohin die rhythmische Steigerungsbewegung hintreibt und „désistence“ ist die darauf folgende Entspannung.
Damit klärt sich in gewissem Sinne auch diese Frage - besten Dank für den Hinweis auf das Buch, das werde ich mir besorgen:
aus dem Buch „Ravels Klaviermusik“ von Siglind Bruhn, die man auf „Edition Gorz“ lesen kann. (Der Text und die Überzeugung sind auch aus diesem Buch genommen worden.) Die Autorin untersucht auch das literarische Werk, allerdings vor allem inhaltlich. Und — es tut mir leid das wieder hoch zu bringen — unterteilt „Ondine“ in 3-3-2…
Als Jemand, der sich mit Musiktheorie beschäftigt, weiß ich natürlich, dass sich gerade auf dem Feld der rhythmisch-metrischen Analyse die Muwis eigentlich immer schon gestritten haben wie die Kesselflicker. Grundsätzlich verdeckt die Diskussion, wie der Rhythmus bei Ravel nun notiert ist, das eigentliche Problem. Ich habe gestern vergeblich versucht, bei Michelangeli (mehrere Mitschnitte gehört) am Notentext zu verifizieren, wie er die Struktur da rhythmisiert. Und bei Monique Haas und Vlado Perlemuter ist mir das auch nicht gelungen. Dadurch, dass dieser Rhythmus als Triller gespielt wird, wird er "verschmolzen", d.h. die Ordnung löst sich tendentiell auf. Was da passiert, kann man eigentlich nur mit der modernen Chaos-Theorie ("Ungleichgewichtsthermodynamik") erklären: es kommt zu einer Strukturbildung durch Selbstorganisation. D.h. der Spieler erzeugt rhythmische Strukturen, die im Notentext gar nicht mehr direkt ausweisbar sind. Es macht deshalb auch keinen Sinn, sie da auszuweisen zu wollen. Der französische Philosoph und Musikwissenschaftler Vladimir Jankelevich, der das finde ich beste und tiefschürfendste Buch über Ravel geschrieben hat, weist auf Ravels Eigenart hin, dass er zwar ständig Doppel- und Mehrdeutigkeiten gerade auch im Rhythmus komponiert (was von seinem Lehrer Gabriel Faure herkommt, der "Gegenrhythmus" etwa), zugleich aber eine panische Angst vor Unordnung und Chaos hatte und nichts so sehr fürchtete wie den Verlust von Kontrolle und Selbstkontrolle. Deshalb war er auch so ein großer Liebhaber von Uhren (hat sogar eine Uhrenoper geschrieben!), weil da alles so schön perfekt regelmäßig tickt. Der Notentext von Ondine ist für diese merkwürdige Natur Ravels ein exemplarisches Beispiel: Ravel schreibt einen traditionellen Notentext mit pseudo-präzisen und pseudo-eindeutigen Angaben, obwohl in der Realisierung durch den Spieler und auch in den Ohren des Hörers von dieser Eindeutigkeit so gut wie nichts mehr übrig bleibt. Das ist ein typisch Ravelsches Paradox. Was nun sehr bedeutend ist: Wegen dieses Paradoxes verliert hier bei Ondine der Notentext seine Funktion, die er traditionell hat, dass man anhand des Notierten überprüfen kann, ob der Interpret etwas richtig oder falsch macht. (Gegen diesen Versuch von Christian Köhn habe ich Einspruch erhoben, wenn man sich nur bemüht hätte, mich zu verstehen.) Solche Interpretationsfragen kann man deshalb letztlich nur auf einer nicht mehr grammatikalischen, der semantischen und musikhermeneutischen Ebene nämlich, angehen und wenn möglich entscheiden. Und da kommt dann der Text von Bertrand ins Spiel. Ravel hat ja ein "Klaviergedicht" komponiert, das sollte man auch Ernst nehmen. Ravels Notierungen sind paradox in vielerlei Hinsicht. Es macht ja gar keinen Sinn, bei einem durchgehenden Triller, der einem liegenden Ton ("Orgelpunkt") am nächsten kommt, eine metrische Einteilung zu notieren, wie Ravel das tut. Da ist von vornherein klar, dass sie beim Spielen verschwindet.
Es ist also kein Widerspruch, im Notentext bei Ravel eine Eindeutigkeit analytisch auszuweisen, wenn man diese Paradoxie berücksichtigt. Das widerspricht der Mehrdeutigkeit, die beim Spielen und Hören der Musik dann notwendig entsteht, überhaupt nicht. Kommen wir nun auf den Anapäst zurück:
Hirsbrunner bemerkt nicht zufällig, dass der Rhythmus bei Messiaen „anacrouse – accent" ein Jambus ist, also jambischen Charakter hat. Damit kann man offenbar Ondine strukturieren - nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Hier liegt eine Art "Selbstähnlichkeit" von Teilaspekt und Ganzem vor (Beispiel der Birnbaum. Der Baum als Ganzes hat dieselbe Form wie die einzelne Birne). Wo man das wirklich sehr eindrucksvoll nachvollziehen kann, ist bei Michelangeli. Er spielt Ondine wirklich nach diesem Messiaen-Rhythmus. (Was Du glaube ich als "Wellenbewegung" richtig erkannt hast.) Es ist also nicht abwegig, zu Beginn da einen jambischen Rhythmus wie den Anapäst zu analysieren. Und ich habe doch ein wenig Genugtuung empfunden, als ich den großen Claudio Arrau mit Ondine hörte: Er spielt tatsächlich zu Beginn den Anapäst deutlich heraus! Allerdings verschwindet das wegen des angedeuteten Selbstorganisationsphänomens auch bei Arrau sehr schnell - das Eindeutige wird schon nach zwei Takten uneindeutig.
Bei Ravel verliert wegen des angedeutenden Paradoxes der Notentext die Funktion einer kritischen Instanz, wo man im Sinne der Wahrheit als Entsprechung einer Vorstellung und Meinung mit einer Sache sagen könnte: Notentext beachtet oder nicht beachtet, richtig oder falsch. Es gibt Interpreten, die noch weiter gehen als Hamelin, d.h. den Rhythmus völlig in einen Triller auflösen. Das sind etwa Lazar Berman und Khatia Buniatishvili. Abgesehen von der Gesamtinterpretation (Berman finde ich großartig, Buniatishvili finde ich geht an Ravel vorbei) kann man eben nicht sagen, dass das "falsch" ist. Was Buniatishvili macht, ist klaviertechnisch fabelhaft und auch sehr poetisch. Mit Blick auf den Text von Bertrand kann man das als "Impressionismus" rechtfertigen. Sie denkt offenbar so, dass man da gar keinen Rhythmus hören soll, sondern nur ein Flimmern wie das sanfte Mondlicht in der stillen Nacht, was auf den See fällt, wo wegen der Windstille sich das Wasser nur leise kräuselt. Das ist dann der Gesang von Ondine, den man durch das murmelnde Wasser (chanson murmurée) hört wie es im Text ja auch steht. Der Notentext sagt eben nicht, ob man den notierten Rhythmus auch als Rhythmus spielen und hören soll. Wenn man das meint, dann vergisst man die ästhetische und musikhermeneutische Dimension, dass das hier bei Ravel eben "musikalischer Impressionismus" ist. Ich finde wie gesagt die Rhythmisierung von Perlemuter, Monique Haas, Michelangeli usw. schlüssiger als Interpretationsansatz, nur fällt die Begründung dafür eben sehr komplex aus. Die Antwort kann nicht so simpel gegeben werden: steht in den Noten oder steht nicht in den Noten!
Lazar Berman plays Ravel "Ondine" (youtube.com)
Khatia Buniatishvili - Ravel - Gaspard de la nuit - YouTube
Schöne Grüße
Holger