»Im feinen taktilen Ausbalancieren der Musik, im Einfangen der allerleisesten Klänge, die den erotischen Hauch körperlichen Begehrens verströmen, im Erschaffen eines betäubenden Zustandes, eines schwerelosen Nirwanas liegen die Qualitäten von Vogts Chopin-Interpretationen.« (Fono-Forum 2015)
Eigentlich widerstrebt es mir, mich auf Kritiken in Magazinen einzulassen. Hier ist es aber ausnahmsweise angebracht, weil die Kritik hier in fragwürdiger Weise versucht, etwas durch große, schöne Worte mit Bedeutung aufzuladen. Lars Vogts Chopin-Platte passt freilich in den Zeitgeist, eine Tendenz, die ich „neuer Sensualismus“ nennen würde. Dieser zeichnet sich aus durch ein Auskosten des Sinnlichen des Moments – entweder narzistisch-selbstverliebt wie beim Medienstar Lang Lang, oder aber in gewissen Tendenzen zur lyrischen Verweichlichung, zuletzt zu vernehmen bei Anna Gourari, die Prokofieffs Visions fugitives allzu empfindsam moderne, kristalline Klarheit raubt, oder bei Olga Scheps. Bei Lars Vogt kommt ein modisches Element der „Entschleunigung“ hinzu – Musik wird ihres dramatischen Impetus beraubt, Langsamkeit so zum Ausleben von Gefühligkeit, die von wirklicher Erotik allerdings so weit entfernt ist wie das Poesiealbum eines Jungmädchens von der furiosen Leidenschaftlichkeit der Zigeunerin Carmen. Was sich da auslebt, ist nicht großes, erschütterndes Gefühl, sondern eben bloße Empfindlichkeit, Gefühligkeit, welche sich gefällt in ach so delikaten Klangsäuseleien. Zum wirklich Erotischen gehört der Drang, der Durst, die Dämonie unerbittlichen Begehrens: also Bewegung. Der neue Sensualismus jedoch begehrt nicht – er genießt statt dessen, nimmt in heimlicher Ruhe und Stille, behaglich im Lehnstuhl sitzend, das ein oder andere hübsche Zückerchen aus der Keksdose. Sensibel ist das freilich – aber keine Sensibilität eines über den Sinnengeschmack hinausgehenden Geschmacks mit Geist und „Fassung“, die Sinn für die Balance und die klassischen Konturen hat. Für Chopin braucht man Stilempfinden und zugleich ein Sensorium für die innere Dramatik dieser Musik, die freilich von jeglicher Theatralik und wirkungsrhetorischem Bombast freizuhalten ist. Eine Chopin-Ballade wie die so vielgespielte in g-moll ist nun mal so etwas wie ein musikalisches Drama. Und da ist der Abstand von Lars Vogt zu den wirklich ganz Großen erheblich. Michelangelis Hyper-Sensibilität versteht es, in aufs Höchste gesteigerter lyrischer Konzentration das Dramatische um so deutlicher herausbrechen zu lassen, verleiht dabei dem Stück mit italienischem Formsinn nicht nur glasklare Klassizität und stilistische Balance, sondern auch glühende Dämonie. In der Entschleunigung von Lars Vogt dagegen verschwindet jeglicher dramatische Antrieb – und das musikalische Drama vergeht entsprechend im Nirwana von Langatmigkeit und Langeweile. Besonders schlecht bekommt diese Reduktion von Chopins Musik auf ihre sensualistische Reizqualität den Nocturnes. Das grundlegende Missverständnis vieler Interpreten ist hier, die gleichsam verinnerlichte Dramatik, die in Klangereignisse gebannte innere Unruhe und drängende Bewegung zu überhören und Chopins Nocturnes statt dessen zu biedermeierlichen Stimmungsbildern der Beruhigung, zu romantizistisch entspannten, sentimentalen Nachtphantasien zu verklären. Hier kann man wirklich sehr viel von Maurizio Pollinis Einspielung lernen, welcher den Nocturnes ihre pulsierende Bewegung zurückgegeben hat. Lars Vogt dagegen treibt gerade hier die sensualistische Reduktion von Bewegungsdynamik auf die Spitze.
Keine guten Voraussetzungen sind das also für einen Zugang zur hochdramatischen Sonate op. 35. Lars Vogts Kardinalfehler (Aufnahme CAvi 2013) zeigt sich gleich zu Beginn: Die „Logik“ dieses Sonatensatz-Dramas besteht in der thematischen Kontrastierung und Kontraststeigerung, dem Aufeinanderprallen unversöhnlicher Gegensätze und der dadurch freigesetzten destruktiven Energie. Davon jedoch ist bei Lars Vogt von Anfang bis Ende dieser existentiell so tiefschürfenden Sonate rein gar nichts zu spüren. Das zeigt schon die Grave-Einleitung, die Lars Vogt sensualistisch domestiziert zu einem gemäßigten Mezzoforte: kein dramatischer Kontrast als Auftakt zu einem Drama, sondern statt dessen moderates Mittelmaß: kontrollierte Belanglosigkeit. Das Hauptthema hat zwar rhythmische Struktur, aber keinerlei dramatische Kraft, weder so etwas wie fatalistischen Drang noch klassische Klarheit des Aufbaus und dynamische „Entwicklung“. Die Keilakzente Takt 25 wirken nicht organisch, sondern manieriert. Dem Seitenthema, was bei Vogt durchaus männliche Züge behält, also keineswegs rücksichtslos verzärtelt wird, mangelt es wiederum an organischer, dramatischer Entwicklung. In der Reprise wirkt der „Einfall“, das Sforzato im Bass Takt 5 ultrakurz anzureißen, auch nicht schlüssig. Es fehlt der Exposition überhaupt der Blick für das große Ganze, einen groß angelegten kontinuierlichen Spannungsauf- und abbau. So nimmt sich die – zudem klaviertechnische Schwächen verratende – Schlussgruppe einfach nur schwach aus.
Vogts Darstellung der Durchführung ist geradezu ein exemplarisches Beispiel für musikalisches Unverständnis, für die Sinnwidrigkeit einer kapitalen Fehlinterpretation. Ins Unendliche zerdehnt wird der dramatische Höhepunkt dieses Satzes zur Ruheinsel, wo sich rein gar nichts mehr fortbewegt. Statt die atomisierten Themenreste in ihrer Kontrastwirkung bis hin zum expressiven Extrem zu schärfen, löst sich das Geschehen auf in isolierte, pseudometaphysische Einzelereignisse von Ton und Stille – zersprengt zwischen gähnender Pausenleere, so dass sich die einzelnen musikalischen Fäden zu einem Band nicht mehr verknüpfen. Die technisch anspruchsvolle Passage Takt 138 wirkt – im langsamen Gang – nicht wirklich souverän bewältigt. Da diese Durchführung keinerlei dynamische Intensität hat, verliert so auch die Reprise ihren Sinn: als Haltepunkt und Ruhepunkt kann sie sich vom vorherigen Geschehen gar nicht absetzen.
Das Scherzo „Presto, ma non troppo“ wirkt bei Vogt wiederum sensualistisch gemäßigt – klaviertechnisch mit seiner fehlenden Präzision und Schlagkraft ist das eher biederes Mittelmaß. Das Trio-Thema gestaltet sich bei Vogt als harmlose Naivität – ohne jeglichen Schmerz und einer irgendwie morbiden Sinnlichkeit entbehrend, die Zauber und Dämonie entfalten könnte. Hier wäre Sensibilität angebracht mit dem Resultat feiner Differenzierung der Töne und Farben – die merkwürdiger Weise aber ausbleibt. Die kontrapunktische Passage Takt 134 wirkt banal und das Sich-Zurücknehmen am Schluss – mit der ahnungsvollen Vorerinnerung an den Trauermarsch –, wenig eindringlich. Auch bei diesem Satz vermisst man einmal mehr die sinntragenden, dramatisierende Kontraste.
Beim Trauermarsch lehrt die Aufnahme von Lars Vogt, wie man es auf jeden Fall nicht machen sollte. Chopins Sonate op. 35 gehörte zum Repertoire des Schumann-Wettbewerbs în Düsseldorf von 1994, den Anna Gourari gewann. Als Zuhörer konnte ich dort das „Problem“ der Teilnehmer erleben, dass sie den dynamischen Aufbau – eine organische Steigerung nie nachlassender Spannung zum Forte und Fortissimo-Höhepunkt hin –, nicht zu entwickeln vermochten. Lars Vogt verschleppt wie nicht anders zu erwarten entschleunigend das Tempo (das hört sich fast schon wie eine Parodie vom späten Ivo Pogorelich an, allerdings auch nur das, denn Vogts Vortrag ist im Unterschied zu Pogorelich völlig unexzentrisch), raubt diesem Marsch zudem den ihm tragische Würde verleihenden festen Schritt, so dass das musikalische Geschehen nur immer wieder auf der Stelle tritt. Bei solch sensualistischer Verweichlichung wirken die Forte-Massen schließlich um so klobiger und unschöner. Das lyrische Intermezzo setzt sich durch eine flüssigere Gangart vom Gewicht des Trauermarsches ab, bleibt aber unschuldig harmlos. Dieser Trauermarsch hat weder etwas Aufrüttelndes, noch Beklemmendes, noch irgendwelche Dämonie. Die Reprise des Trauermarsches bekommt zumindest zu Beginn den Anflug des Gespenstigen, der sich aber gleich wieder verliert, weil es Vogt einfach nicht gelingt, aus diesem Beginn eine dramatische Klimax zu entfalten. Im Presto-Finale (1.36 Min.) bemüht sich Vogt, das „sotto voce“ zu realisieren und auch um rhythmische Differenzierung. Gleichwohl vermag das den Hörer in keiner Weise zu erschüttern. „Ich weiß nicht was soll es bedeuten...“ könnte man mit Heinrich Heine über Vogts Interpretation dieses Satzes schreiben. Aus musikalischer Aporetik wird Ratlosigkeit der Interpretation. Die Aufnahme gehört zu den Schlusslichtern des Feldes. Wertung: 1 Stern

Josef Bulvas Aufnahme der Sonate op. 35 aus Frankfurt a. M. von 1987 ist nicht nur schlecht, sie ist katastrophal schlecht, überschreitet an vielen Stellen die Grenze vom Musikalischen zum Unmusikalischen. Nachdem der Pianist einer Handverletzung wegen zunächst seine Karriere beenden musste, hat er sie nun genesen wieder aufgenommen und diese dramatische Sonate zusammen mit Beethovens „Appassionata“ erneut eingespielt (RCA, Augsburg Jan. und Nov. 2013). Mehr als 25 Jahre später wirkt nun doch vieles gediegener – so spielt er die Grave-Einleitung deutlich disziplinierter, ohne die grotesken Zerdehnungen der alten Aufnahme. Der Grundcharakter einer durchgängigen, eigenwilligen Rhythmisierung ist geblieben, jedoch insgesamt mit weicherem Ton und größerer Homogenität. Gleichwohl fehlt dieser Rhythmik Bulvas der tiefere Sinn – die Bewegung dieses Hauptthemas reduziert sich auf einen rhythmischen Charakter, der aber letztlich ausdrucksleer keinerlei Dramatik entfaltet. Das Seitenthema wirkt ähnlich wie früher unsensibel und holzschnittartig, die Schlussgruppe ist einigermaßen akzeptabel. Bulva spart sich die Expositionswiederholung und begibt sich direkt in das Durchführungsgeschehen. Dort lässt er die Rhythmen zwar kräftig poltern, ohne dass aber eine dynamische und dramatisierende Kontrastschärfung damit verbunden wäre. Die eher langweilig gespielte Passage Takt 138 ff., der Kulminationspunkt der Durchführung, zeigt technische Probleme – was natürlich nach einer solch gravierenden Handverletzung, die sich niemals mehr vollständig auskurieren lässt, auch verständlich (und verzeihlich) ist. Das Scherzo entbehrt wiederum klaviertechnisch der letzten Präzision, bleibt aber stets rhythmisch bewegt, ohne jemals klebrig zu wirken. Beim Trio kann man nur den Kopf schütteln! Unwirsch und unsensibel präsentiert sich hier Chopins Musik wie abgespult von einer Musikmaschine, einer Drehorgel. Der Trauermarsch, mit sattem Ton gespielt, erscheint annehmbar, ist aber auch nicht überragend gespielt. Das lyrische Intermezzo gerät einfach zu vordergründig, nie realisiert Bulva auch nur annähernd ein Pianissimo. Interpretatorisch bleibt das völlig nichtssagend. Das Forte des Trauermarsches wirkt wiederum etwas weich, was wohl auf die Handverletzung zurückzuführen ist. Das Presto-Finale (1.36 Min.) liegt tempomäßig im Mittelfeld. Bulva nimmt es im trockenen
sotto voce, wiederum rhythmisch, doch entfaltet diese Rhythmik einfach keine Bewegung, tritt eher auf der Stelle, als zum stürmischen Rauschen und Bewegungsrausch zu werden. Nein – eine neue Dimension erschließt auch diese Aufnahme nicht, wenn auch einige der eklatanten Schwächen der älteren deutlich abgemildert werden. Die
Bewertung bleibt so auch die für ein Schlusslicht: 1 Stern.
Schöne Grüße
Holger