Beiträge von Dr. Holger Kaletha

    Die Winterreise wird gleichsam zur Dokumentation des Konflikts von Individuum und Gesellschaft in der Epoche der Restauration in den verschiedensten Facetten subjektiver Verzweiflung: von der Klage über einen Verlust über das Aufbegehren bis hin zur Resignation. Der Gestus des Aufbegehrens, er dokumentiert sich in der Liedfolge „Im Dorfe“ (Nr. 17), „Der stürmische Morgen“ (Nr. 18) – fortgesetzt durch „Mut!“ (Nr. 22).


    Die von allen Neuerungen und Veränderungen geschichtlicher Entwicklung scheinbar abgeschottete dörfliche Lebenswelt in ihrer Ruhe scheinbar zeitlosen Verharrens – nichts könnte besser das hoffnungslos Veraltete und Erstarrte einer Gesellschaft, die sich überlebt hat, trefflicher ins Bild setzen. Und es ist bei Müller und Schubert sicher nicht die Biedermeier-Apotheose einer gemütlich-geborgenen Heimwelt, welche evoziert wird, wie sie Eduard Mörike Wolfgang Amadeus Mozart in den Mund legt: „Ein Gütchen wenn du hättest, ein kleines Haus bei einem Dorf in schöner Gegend, du solltest wahrlich neu aufleben!“ Was hier sprachlich wie musikalisch geschildert wird ist die in sich erstarrte Welt von schlafenden und ihren illusionären Träumen ergebenen Spießern und Philistern mit all ihrer Engstirnigkeit, die ihren kläglichen Besitz mit Zäunen und Ketten rasselnden Hunden abschotten gegenüber der für sie bedrohlichen „Bewegung“ des Wanderers, der von der Moderne und ihrer Tendenz zur Veränderung kündet.


    Wunschbilder entstehen in der Identifikation mit dem Objekt des Begehrens. Die Begegnung der dörflichen Lebenswelt in der Winterreise zeichnet sich dem entgegen nachweislich durch eine mehrfache, Identifikation unterbindende Distanznahme aus – sowohl auf sprachlicher als auch musikalischer Ebene, was sich in einer detaillierten Analyse zeigen ließe. Die Bedeutung der Bilder lässt sich jedoch dem ungeachtet allein schon aus der semantischen Verklammerung in der unmittelbaren Aufeinanderfolge von „Im Dorfe“ und „Der stürmische Morgen“ entnehmen:


    Der stürmische Morgen


    Wie hat der Sturm zerrissen
    des Himmels graues Kleid!
    Die Wolkenfetzen flattern
    Umher im matten Streit.


    Und rote Feuerflammen
    ziehn zwischen ihnen hin:
    Das nenn´ ich einen Morgen
    so recht nach meinem Sinn!


    Mein Herz sieht an dem Himmel
    gemalt sein eignes Bild –
    es ist nichts als der Winter
    der Winter kalt und wild!


    Das semantische Beziehungsgeflecht fokussiert sich im wesentlichen um das genannte thematischen Zentrum „Morgen“ als Brücke ( „Und morgen früh ist alles zerflossen“ („Im Dorfe“, Strophe 2) – „Das nenn´ ich einen Morgen/so recht nach meinem Sinn! („Der stürmische Morgen“, Strophe 2)), mit den komplementären Gegensätzen: Dunkel (Nacht) und Helle, Schlaf und Weckung, erstarrte Ruhe und auflebende Bewegung, Distanznahme und Identifikation, Objektivität und Emphase der Subjektivität. Die Ruhe der Schläfer und Träumer, der Friedhofsfrieden menschlicher Wohnlichkeit aus „Im Dorfe“, das ironische Zerrbild statuarischer Ordnung in der Nacht der Restauration, wird in „Der stürmische Morgen“ von aufrührerischer Bewegung, dem von der aufgehenden Sonne morgendlich frisch Geweckten, einem zur Feuersbrunst aufbrausenden Wintersturm, hinweggefegt in den Orkus des Gewesenen und Vergessenen.


    War die Haltung des Subjekts in „Im Dorfe“ durch eine sprachliche wie musikalische Semantik umfassende Distanznahme geprägt, so wird sie hier zur vollständigen Identifikation: Im Wintersturm, dem Vergehen der Nachtgespenster des Gewesenen in den Feuerflammen der aufgehenden Morgensonne als Bild des Aufbruchs in eine neue Zukunft, erblickt der Wanderer nicht zuletzt sein eigenes Bild des Aufbegehrens. In „Mut!“ verfestigt sich dieser innere Aufruhr schließlich zum revolutionären Habitus eines Subjekts (in seinem trotzig-aufrührerischen Gestus kongenial umgesetzt durch Dietrich Fischer-Dieskau und Maurizio Pollini), das sich in heroisch-prometheischer Heiterkeit zum Gott – zum Herrn seiner selbst – aufschwingt und erhaben allen Gewalten und Widerständen durch seinen starken Willen trotzt:


    Lustig in die Welt hinein
    gegen Wind und Wetter!
    Will kein Gott auf Erden sein,
    sind wir selber Götter!


    Auch der Leiermann ist eine Wandererfigur, doch eine, welche die Fremdheit in sich aufhebt, indem sie – aufgehend in der Musik – die fatale Bindung an die menschliche Welt los zu werden trachtet.


    Der Leiermann


    Drüben hinterm Dorfe
    Steht ein Leiermann
    Und mit starren Fingern
    Dreht er was er kann.
    Barfuß auf dem Eise
    Wankt er hin und her
    Und sein kleiner Teller
    Bleibt ihm immer leer.
    Keiner mag ihn hören,
    Keiner sieht ihn an,
    Und die Hunde knurren
    Um den alten Mann.
    Und er läßt es gehen,
    Alles wie es will,
    Dreht, und seine Leier
    Steht ihm nimmer still.


    Das barfüßige Sich-Bewegen auf blankem Eise bedeutet zunächst stechenden Schmerz und dann Empfindungslosigkeit, Taubheit: Der Eiswanderer kehrt sich von außen ganz nach innen, nimmt statt der Außenwelt schließlich nur noch sich selber wahr, wird mehr und mehr zum Gefangenen seiner Vorstellungs- und Empfindungswelt. Auf diese Weise mögen ihn die Menschen weder hören noch sehen – er ist der Welt mit einem der Rückert-Lieder Gustav Mahlers gesprochen „abhanden gekommen“, lebt nur noch in seinem eintönigen Lied. Schuberts Musik vollzieht diese Bewegung einer Fatalität kontinuierlichen In-sich-Zurückziehens auf wahrlich erschütternde Weise: „Leiernde“ Kreisbewegungen, die sich in sich selber verschließen, gewissermaßen in sich eindrehen – die Singstimme kreist unaufhörlich um das Klavier, das Klavier immer wieder um die Singstimme, beide sich verbindend zu einem ewigen Kreisel, um schließlich im Grenzenlosen zu verhallen.


    Die Bewegung des Wanderers, sie ist in der „alten Leier“, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, gleichsam in sich erstarrt, hat sich verwandelt von einer Vorwärtsbewegung des Ausgangs in die Welt zum unaufhörlichen Eingang in die Tiefen des eigenen Selbst. Der hochfliegende „Mut“, der mit den Stürmen und Wettern heiter durch die Welt zieht, er ist wie Caspar David Friedrichs stolzer Segler über die Meere festgefroren im Eismeer der Resignation.




    Caspar David Friedrich Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung) (1823/1824)


    „Einsamkeit“ – das Schlusslied des ersten Teils der Winterreise, endet noch mit der lauten Klage des Subjekts: „Auch, daß die Luft so ruhig!/Ach, daß die Welt so licht.“ Dem ist im Leiermann das Leise und still Verstummende absoluter Trauer und Resignation gewichen, eines Subjektes, das sich voll und ganz zurücknimmt zur Gleichgültigkeit vollständigen Ergebenseins in das eigene Schicksal.


    Die Musik selber setzt gleichsam den Schlussakkord der Winterreise, indem sie sich als letzten Rückzugs- und Zufluchtsort der ganzen Reise anbietet. Die Lösung der Aporie der Wanderschaft liegt dabei im Umschlag von Verzweiflung in Resignation: Die Bewegung des Wanderers schwankt zwischen Mut und Mutlosigkeit unentscheidbar hin und her – der „Mut!“ des Winterreisenden, bezeichnend bedarf er des bekräftigenden Ausrufezeichens, entspringt also einer besonderen Willensanstrengung in Form einer Aufmunterungsgeste, zeigt sich nicht als etwas wirklich Dauerhaftes, eine Tugend der constantia, unterliegt vielmehr dem Wechsel der Affekte, schwankenden Stimmungen. Die Resignation des Leierkastens löst scheinbar diesen gordischen Knoten, indem sie den grundlegenden Zwiespalt dieser Verzweiflung auflöst durch den Weltverlust. Behält also die Musik das letzte Wort? Ist das Subjekt dieser Winterreise am Ende das resignierte und damit endgültig Gescheiterte?


    Es sind die Lieder – also die Musik selbst – welche dem Wanderer ganz zuletzt die Gefolgschaft des Leiermanns und damit den Austritts aus der Welt und Eintritt in die klaglose Resignation, die Welt der Musik, anbietet. Doch das letzte Wort behält hier die Sprache und nicht die Musik, indem sie solche Gefolgschaft modalisierend als Frage stehen lässt. Resignation als Ausweg aus der Verzweiflung bleibt eben eine noch unergriffene Möglichkeit, die dem Wanderer offen steht und offen bleibt neben dem Wechsel von Mutlosigkeit und Aufraffen des Muts in unaufhebbarer Verzweiflung. Die alles durchziehende Grunderfahrung von Fremdheit, sie hält dem Wanderer der Winterreise schließlich auch den Leiermann, diesen „wunderlichen“, befremdlichen Alten, auf Distanz. Von der Welt und Weltbeziehung kann der Fremde letztlich nur dann wirklich lassen, wenn er kein Leben mehr vor sich hat, auf seiner langen Lebensreise im Stande des Alters angekommen dem Tode nahe existiert, welcher endendem und nicht anfangendem Leben die Zukunftsperspektive raubt, statt voraus- nur noch zurückblickt auf das gelebte Leben. Für den Winterreisenden erscheint von daher nicht Resignation, sondern Mut in der Verzweiflung als der plausiblere Ausweg. Auch wenn die Musik voll und ganz dem Schicksal des Leiermanns in tiefster Trauer und unendlichem Schmerz nachsinnt: Statt mit der Resignation als endgültiger abzuschließen, bleibt die Winterreise aporetisch offen auch in ihrem Schluss.

    Ich gestehe, bis heute keine einzige Aufnahme mit Perl in meiner Sammlung zu haben. Geliebäugelt mit den Beethoven-Klaviersonaten in seiner Interpretation habe ich indes schon seit Jahren.


    Die ist wirklich Spitze, lieber Alfred! Einer der wenigen Fälle, wo mich ein Interpret wirklich eingenommen hat (höre mal op. 10 Nr. 3!). Zu Recht zählt ihn Joachim Kaiser zu den 10 besten Beethoven-Interpreten! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Die Winterreise mit Josef Greindls sonorer Bassstimme mit der sehr akkuraten, immer aufmerksamen und nie langweiligen Begleitung von Hertha Klust – wunderbar! Zwar bekommt die tiefe Stimme gleich zu Beginn in „Gute Nacht“ sehr viel Schwergewicht, was insgesamt leicht zur Eintönigkeit neigt, das Strophenlied noch etwas strophenhafter erscheinen lässt, als es ist. Doch Greindls Stimme ist alles andere als undifferenziert – er setzt die dramatischen Akzente klug dosiert, ohne jemals theatralisch zu wirken. Besonders eindrucksvoll ist „Frühlingstraum“. Zwar wirkt der Traum zu Beginn etwas erdenschwer, doch das Krähen der Hähne ist überwältigend gestaltet – nicht einfach nur laut, schrill, sondern mit treffsicherer Binnendramatik, die den Kulminationspunkt zielsicher heraushebt. Die leise Trauer und Verzweiflung, die in der folgenden Strophe zum Vorschein kommt, ist sehr berührend gesungen. „Einsamkeit“ zu Beginn nimmt er sehr fließend, vielleicht etwas zu wenig insistierend. Auch er singt wie Hans Hotter „Ach, daß die Luft so ruhig!“ als durchgehende Periode. Sehr beeindruckt hat mich auch „Im Dorfe“. Keine Indifferenz in der Objektivität, sondern ein leiser Ton des Aufbegehrens, eine leichte „Spitze“ angedeutet in einer Geste, ohne aufdringlich ironisch oder spöttisch zu werden. Greindl ist ein Sänger, der seinen runden, volltönenden Bass sehr flexibel zu gestalten weiß mit großer Ausdruckskraft und trefflichem Gestaltungsvermögen mit einer hervorragenden Hertha Klust am Klavier – so gut gespielt hört man etwa die rasselnden Ketten aus „Im Dorfe“ selten.


    Schöne Grüße
    Holger

    Was ist nur mit Ashkenazy los? - dachte ich beim Hören von Scriabins Etüden op. 42 von obiger CD. Langweilig, lustlos agiert er, die immensen dynamischen Kontraste von ppp bis ff werden auf ein laues Mittelmaß eingeebnet. Dazu passend scheint mir der Steinway-Flügel auch nur Mittelmaß zu sein - im Hochtonbereich klingt er einfach undifferenziert. Auf gut deutsch ein sch.... Instrument. Das Klangbild ist schön gefällig rund und warm - ja. Aber eben völlig undifferenziert. Die späten Stücke sind dann wieder deutlich besser. Ich bin noch nicht zuende - wohl nächste Woche werde ich mir den Rest zu Gemüte führen.


    Schöne Grüße
    Holger

    Glücklicherweise hat die Bedeutung Adornos und seiner Urteile (und somit auch Fehlurteile) in den letzten ca. 25 Jahren ja doch spürbar abgenommen.


    Weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Was er über Tschaikowsky, Strawinsky, Schostakowitsch, Rachmaninow, Sibelius usw. geschrieben hat, war glaube ich immer umstritten, um es vorsichtig auszudrücken. Die Auseinandersetzung mit diesen Komponisten sind einfach sehr ideologisch besetzt bei ihm. Ich fand das immer schon ungenießbar. Anders ist das mit seiner Philisophie der Neuen Musik, der Berg-Monographie oder dem unvergleichlichen Mahler-Buch, was bis heute einen unverändert immensen Einfluß hat. Da ist Adorno wirklich auf der Höhe - mit anderen kleinen Schriften auch. Man muß halt die Spreu vom Weizen trennen bei ihm. Es gibt bei ihm ein großes Gefälle zwischen absolut Herausragendem und anderem, wo er sich - leider - dem Niveau schlechten Feuilletons nähert. Er fordert so einen kritisch aufmerksamen und keinen "ehrerbietigen" Leser. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Ich finde, Tschaikowsky ist ein Komponist, der sich durch wenige Werke als unverwechselbar und unverzichtbar einprägt, so dass er zum eigenen Musikerleben unverzichtbar gehört. Vor allem sind es die Symphonien Nr. 4-6 mit ihrer Mischung aus Klassizität, Schönheit und einem ins Elementare gehenden Expressionismus, die im Gedächtnis bleiben. Tschaikowsky ist ein großer Dramatiker und seine Musik hat keine Angst vor der Exaltiertheit, der Extase, kennt keine vornehme Zurückhaltung. Man sollte das nicht als Lärm mißverstehen - das grenzenlose Ausleben von Leidenschaften gehört zur "russischen Seele", wie es etwa bei Gogol geschildert wird. "Die" Aufnahme der Symphonien ist für mich Mrawinsky, weil er Tschaikowsky ungeschminkt und frei von Ästhetisierungen und auch nur den entferntesten Anflug von Kitsch als beunruhigende Ausdrucksmusik vorträgt. Ob Adorno diese Aufnahmen kannte? Wohl kaum! Sonst hätte er nicht so abwertend über Tschaikowsky schreiben können, wie er geschrieben hat. Das 1. Klavierkonzert gehört zum Unverzichtbaren. Sehr liebe ich auch die lyrischen, bewußt antivirtuosen kleinen Klavierstücke, die ein Svjatoslav Richter mit unvergleichlichem Ernst, großer Schlichtheit und zugleich lyrischer Kraft vorzutragen weiß. Über die Ballette braucht man nicht zu reden - sie sind der Inbegriff des klassischen Balletts. Und seine symphonischen Dichtungen sind von großer poetischer Kraft. Eine sehr beeindruckende Klavierkomposition ist auch "Dumka" - gespielt u.a. von Vladimir Horowitz und Vladimir Ashkenazy.


    Schöne Grüße
    Holger

    Emil Gilels hat hier m. E. eine überragende Interpretation vorgelegt.

    Ja, lieber Willi!


    Beim Wiederhören bin ich beglückt. Die Sonate op. 2 Nr. 2 mit Emil Gilels ist ein Ideal: Klassische Entspanntheit und Gelöstheit, ein glasklares, feinsinniges und „schönes“ Klavierspiel, was die dynamische Spannweite des Flügels voll ausnutzt, ohne je gewaltsam zu wirken. Im Largo gelingt ihm das Kunststück, mit einem leicht marschierenden Tempo die Musik wie einen Bachlauf von selber fließen zu lassen und zugleich den Portato-„Tropfen“ Gewicht zu geben. Ausgefeilter kann man das nicht spielen – aber auch nicht zugleich natürlicher, unaufdringlicher. Das Scherzo federleicht und das Rondo mit Anmut und feinsinniger Zurückhaltung gespielt. Das gehört auf den Olymp – ganz großes Klavierspiel, wo der Meister sein ganze überragende Gestaltungskraft einsetzt und trotzdem demütig hinter der Musik zurücktritt, die er aus sich selbst sprechen lässt. Einmal mehr wird man in seiner Bewunderung für den großen Emil Gilels bestätigt! :)


    Herzlich grüßend
    Holger

    Wie dann aber Der Mönch am Meer zu verstehen ist, darüber habe ich mir noch kein Urteil gebildet.


    Deine Interpretation von "Die Abtei im Eichwald" leuchtet mir ein, lieber Lynkeus. Die Deutung von "Der Mönch am Meer" finde ich auch etwas schwieriger. Bemerkenswert ist ja, dass das Meer fast schwarz ist (sonst bei C.D. Friedrich Sinnbild der lichten Unendlichkeit mit den Schiffen mit dänischen Flaggen, die eine bessere Zukunft versprechen). Der Lichtpunkt ist hier der Himmel. Das scheint mir der wesentliche Aspekt - das Aufleuchten des Jenseitigen (?). :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Liebe Freunde,


    es ist ja schön , dass wir so leidenschaftlich über das Thema Hammerklavier streiten. :D Ich finde aber, wir sollten uns nicht allzu sehr auf eine "Weltanschauungsdebatte" in Sachen Hammerklavier versteifen! Ich persönlich überlasse mich immer gerne der Musik und ihrer Interpretation. Kann der Interpret mein Interesse wecken? Wenn mich eine Aufnahme "packt" oder überzeugt auf welche Art auch immer, dann lasse ich dies gern geschehen und sage auch warum. Das gilt natürlich auch für Aufnahmen mit Hammerklavier. Also: Wenn mir jemand nahebringen kann, was der Gewinn so einer Aufnahme ist, dann nehme ich das dankbar auf. In diesen beiden Fällen muß ich einfach sagen, dass mich Elsacker/Beghins Vortrag gar nicht überzeugen konnte - nicht nur wegen des Hammerklaviers, sondern wegen der für meinen Geschmack verfehlten "Barockisierung" von Schubert. Geraerts/Remy gefällt mir viel besser, wobei ich (ich bin eben ein Liebhaber von Klaviermusik und Freund aller Pianisten, die wirklich gut sind!) dem Pianisten bescheinige, dass er äußerst intelligent mit den Möglichkeiten seines Instruments umgeht.


    Generell bin ich auf der Linie von Glockenton, würde nur noch ergänzen: Wir sollten das Thema für und wider solcher Aufnahmen mit Hammerklavier am Einzelfall diskutieren, damit wir auch Dieter als Freund dieses Instruments mitnehmen. Kritisch bin und bleibe ich solchen Auffassungen gegenüber, die sagen, das Hammerklavier allein sei authentisch und adäquat in Sachen Schubert im Sinne historischer Gerechtigkeit. Dies kann man aber ruhig rauslassen aus der Diskussion.


    Die Aufnahme Pregardien/Staier kenne ich auch nur aus Hörschnipseln, lieber Willi!


    Zugelegt habe ich mir diese Aufnahme und gerade reingehört:



    Weil ich mir demnächst Gerhahers Aufnahme der Winterreise vornehmen werde, wollte ich ihn etwas besser kennenlernen als bisher. Aus Erfahrung weiß ich, dass es immer besser ist, einen Interpreten nicht allein nur von einer Aufnahme her zu beurteilen, sondern aus dem Kontext seines Schaffens. Er ist schon ein sehr, sehr guter Sänger... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Deine Meinung. Ich lese dagegen eher – auch von Leuten, von denen ich annehmen muss, dass auch sie wissen, wovon sie reden –, dass ein Hammerklavier eben kein »unfertiges« modernes Klavier ist, sondern ein eigenständiges Instrument, mit ganz eigenen Eigenschaften und Stärken, die ein heutiges Klavier nicht hat, und dass es eigentlich zwei völlig verschiedene Instrumente sind, die man so wenig miteinander vergleichen kann wie eine Block- oder eine Querflöte oder wie eine Gambe und ein Violoncello.

    Deinen Einspruch habe ich natürlich erwartet, lieber Dieter! :D :D :D Nur glaube ich davon kein einziges Wort. Das sind Mythen der Originalklang-Bewegung, die unter Musikhistorikern absolut nicht konsensfähig sind und von der überwältigenden Mehrheit nicht geteilt werden. Objektiv gesehen ist das alles widerlegbar - musikhistorisch und durch physikalische Messungen. Eine Geige oder ein Cello wird seit Jahrhunderten in unveränderter Form gebaut. Die Entwicklung des Flügelbaus dagegen ist bis heute nicht abgeschlossen. Auch ein Steinway-Flügel hat seine deutlichen Schwächen. Das weiß z.B. ein Alfred Brendel sehr genau, der ihn entsprechend präpariert.


    Dazu kommt ja noch, dass ein Schubert oder Chopin nur die Instrumente seiner Zeit im Ohr hatte. Und natürlich wird ein Komponist seine Werke in der Regel so geschrieben haben, dass sie für die Instrumente seiner Zeit »passen«. Ein Hammerklavierspieler wird Dir eben sagen, dass er vieles auf dem modernen Klavier nicht adäquat darstellen kann. Und das gilt erst recht für das Ensemblespiel, wo etwa beim Klaviertrio ein moderner Flügel beim Forte immer in Gefahr ist, die Streicher zuzudecken, wenn man nicht mit etwas angezogener Handbremse spielt. Da stimmt die Balance auf den historischen Instrumenten bzw. deren Nachbauten einfach besser.

    Auch das alles ist nicht haltbar. Die Kompositionen des 18. Jhd. haben überhaupt nicht für ein bestimmtes Tasteninstrument komponiert. Mozart spielte sowohl auf dem Klavier als auch dem Cembalo. Und wenn man behauptet, es ließe sich etwas auf dem modernen Klavier nicht adäquat darstellen, muß man es hieb und stichfest beweisen. Die Wahrheit ist: Das moderne Klavier kann alles, was ein Hammerklavier auch kann, nur erheblich besser: Tonfülle, Ausgewogenheit, Nachschwingverhalten, Obertonsprektrum, mechanische Präzision. Die technischen Daten dieser historischen Instrumente liegen im Niveau noch unter dem, was Billiginstrumente aus Fernost auf der Messe heute bieten. Und auch beim Ensemblespiel ist der moderne Flügel überlegen. Man kann auf ihm nämlich leise spielen bzw. ein kleineres Instrument verwenden - nicht den Steinway D für große Säle, sondern einen B oder C-Flügel.


    Ob einem der Klang – der je nach Instrument für heutige ungewohnte Ohren manchmal »topfig« klingen mag – nun gefällt oder nicht, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Er ist weder falsch noch richtig, weder schlechter noch besser, sondern einfach anders. Man muss auch die Schalmei nicht mögen, aber zu ihrer Zeit war das eben normal.

    Ein "topfiger" Klang ist ein ästhetischer Mangel. Welcher Spitzengeiger würde auf einer Geige spielen, die spitz, scharf und gläsern klingt? Beethoven hat übrigens über die Instrumente, die er zur Verfügung hatte, regelmäßig geflucht. Er war nie zufrieden damit. Was Du sagst, trifft auf das Cembalo zu, aber nicht das Hammerklavier.


    Andererseitss glaube ich auch nicht, dass ein Hammerklavier ein "unausgereiftes Instrument" ist, wie Holger sagt. Meiner Ansicht nach klang der Brodmann-Flügel, auf dem András Schiff vor einigen Jahren einen fabelhaften Schubert-Abend beim Klavierfestival Ruhr gespielt hat (u. a. D.960), sehr ausgereift.
    Das Problem ist, so glaube ich, ein anderes. Der Brodmann-Flügel stammt aus dem Jahr 1820.

    Wenn Du in die Aufnahme Pregardien/Staier reinhörst, lieber Wili, wirst Du auch sagen: Dieser Hammerflügel klingt von allen drei Aufnahmen am besten und einem modernen Instrument schon relativ ähnlich. Der Grund dafür ist derselbe wie bei Schiff: Er hat in Wahrheit gar kein Instrument von 1820 gespielt, sondern einen Nachbau von heute. Der hat aber eine moderne Saitenbespannung, die es damals noch gar nicht gab. Auch das ist schon eine klangliche "Modernisierung", die von Originalklang-Verfechtern einfach vornehm verschwiegen wird. Würde ein Andreas Staier, ein Spezialist auf diesem Gebiet, auf solchen historischen Instrumenten spielen wie sie in der Aufnahme Elsacker/Beghin verwendet werden, dann müßte er zwei Drittel seiner Konzerte oder mehr regelmäßig absagen wegen technischer Probleme.


    :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Ich frage mich manchmal, was aus einer eigentlich einst sehr segensreichen und Impulse setzenden Bewegung wie der historisch informierten Aufführungspraxis noch werden soll, wenn man sie offensichtlich um ihrer selbst willen betreibt. Hörerseitig habe ich von Leuten gehört und gelesen, die z.B. den Schubert (und die anderen "alten" Komponisten) mit einem mittelmäßigen oder sogar schlechtem Klavierspieler am Hammerflügel trotzdem einer hochmusikalischen Version eines Top-Pianisten auf einem Steinway vorziehen, und das auch noch sehr..... :no:

    Ich meine auch, lieber Glockenton, dass man an die Sache ganz sachlich und "musikalisch" herangehen sollte, ohne ideologische Konstrukte. Man muß das Hammerklavier ja keineswegs verteufeln. Wie mir zu Ohren kam, hat Andras Schiff mal beim Klavierfestival Rhein-Ruhr Schubert auf einem Hammerflügel gespielt und die Hörer regelrecht verzaubert. Meine Erfahrung mit Aufnahmen dieser Instrumente: Ihre Stärke sind die tonmalerischen Effekte, ihre Schwäche ist die Unausgewogenheit, dass man nicht leise spielen kann und vor allem der Diskant nicht trägt. Wenn z.B. bei Chopin die Melodie über dem Baß "schweben" soll, dann ist dieser hierarchische Tonsatz auf dem Instrument einfach unreallsierbar. Da greifen dann die - hervorragenden - Musiker, die mit solchen Instrumenten wirklich umzugehen wissen, zu kreativen Lösungen, die aber der Semantik der Komposition und dem Notentext ganz offensichtlich widersprechen. Das sollte man einfach ohne Verklärung so sehen wie es ist, finde ich. Anders als eine historische Geige ist ein Hammerklavier nun mal ein unausgereiftes Instrument, wo bestimmte maßgebliche bautechnische Entwicklungen wie die Duplex-Skala einfach noch fehlten. Als Farbtupfer sind solche Aufnahmen eine Bereicherung, aber natürlich nicht als Alternative zu den großen Tastenkünstlern auf dem modernen Flügel. Letztlich neigen diese Instrumente zu einer eindimensionalen "naturalistischen" Ästhetik. Chopin klingt dann aufgewühlt und bizarr wie Berlioz´ fantastische Symphonie - und das ist auch historisch nicht gerade unbedenklich. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Ich träumte von bunten Blumen,
    So wie sie wohl blühen im Mai;
    Ich träumte von grünen Wiesen,
    Von lustigem Vogelgeschrei.


    Und als die Hähne krähten,
    Da ward mein Auge wach;
    Da war es kalt und finster,
    Es schrien die Raben vom Dach.


    Doch an den Fensterscheiben,
    Wer malte die Blätter da ?
    Ihr lacht wohl über den Träumer,
    Der Blumen im Winter sah ?


    Ich träumte von Lieb um Liebe,
    Von einer schönen Maid,
    Von Herzen und von Küssen,
    Von Wonne und Seligkeit.


    Und als die Hähne krähten,
    Da ward mein Herze wach;
    Nun sitz' ich hier alleine
    Und denke dem Traume nach.


    Die Augen schließ' ich wieder,
    Noch schlägt das herz so warm.
    Wann grünt ihr Blätter am Fenster ?
    Wann halt' ich mein Liebchen im Arm ?


    Vom Frühling muss man eigentlich nicht träumen, wenn er denn – wie jetzt allerdings etwas zu früh im wechselhaften April – schon da ist.


    Im „Frühlingstraum“ sieht jemand der Zeit voraus – aber wie? Der Wechsel der Jahreszeiten, er kommt in der Natur so sicher wie der Tag auf die Nacht folgt. Aber davon, dass der Wanderer hier frohen Mutes in die Zukunft schaut, kann keine Rede sein. Der Mai mit seinen blühenden Blumen ist einfach nur fern – die Frage am Schluss sagt es: „Wann grünt ihr Blumen am Fenster?/Wann halt ich mein Liebchen im Arm?“ Die Zukunft und damit der sich in der Zeit vollziehende Eintritt dieses Frühlings ist ein ganz und gar unbestimmter. Der Wechsel der Jahreszeiten, das Naturerlebnis, kongruiert hier mit dem Inneren – Sehnsucht und unerfüllter Liebe. Wie soll man das interpretieren? Überlässt sich der Wanderer dem Schicksal wie die alten Griechen dem Losglück der Schicksalsgöttin, der Moira, vertrauten: Wie irgendwann einmal der Winter seine Zeit gehabt hat, kommt der Mai mit seinen Blumen bestimmt? Ich glaube dies eher weniger. Das Herz dieses Wanderers schlägt noch warm – in der Kälte des Winters hat das an seiner Einsamkeit leidende Subjekt die Sehnsucht des Frühlings in sich bewahrt, trägt sie in sich, in seinen Träumen. Es gibt keine Gewissheit, was die Zukunft angeht. Ob der Traum wahr wird? Vielleicht nie! Das Wachen, das Weckungserlebnis, hat hier anders als in „Der stürmische Morgen“ nichts Positives, Aufrührerisches, sondern lässt den schönen Traum zerplatzen und damit die Situation der Verlassenheit um so drastischer gewahr werden – was die Musik mit garstigen, stachligen Sforzati zum Ausdruck bringt. Der Traum jedenfalls wird hier zum Zufluchtsort, wo die empfindsame Seele sich hinüberrettet, um nicht von der klirrenden Kälte des Winters getötet zu werden. Sein Sinn ist also nicht, das Subjekt mit irgendwelchen Illusionen mit der Welt zu versöhnen, wie dies für die Schläfer bzw. Schnarcher aus „Im Dorfe“ gilt. Letztlich geht es nicht mehr oder weniger darum, das eigene Selbst angesichts des Scheiterns und Versagens nicht zu verlieren, ein Unzerstörbares in sich zu behalten, wie Franz Kafka es mal ausdrückte.


    So sehe ich es – oder wer möchte es anders oder ähnlich sehen? Wie immer bringt einen die Aporetik der Winterreise zum Nachdenken, das wohl – zum Glück – nie aufhören wird.


    Ich werde demnächst noch einige Interpretationen bekommen. Heute habe ich – zwischen meiner Arbeit – eher unsystematisch gehört, weiteres Nachhören wird also folgen:


    Fischer-Dieskau/Demus
    Geraerts/Rémy
    Elsacker/Beghin
    Pears/Britten (die Decca-CD, nicht die DVD, auf die Moderato dankenswerter Weise hingewiesen hat und die ich leider nicht besitze)


    Fischer Dieskau singt das einfach trefflich – wie er die Stimmungswechsel charakterisiert, einmal mehr die “Charaktere” äußerst präzise und einfühlsam nachzeichnet. Ihn begleitet Jörg Demus sehr souverän.


    Geraerts gestaltet das Lied aus einer fließenden Bewegung heraus. Die sehr kluge Liedbegleitung von Rémy hebt eine tänzelnde, beschwingte Bewegung, die alles trägt, hervor. Die Trockenheit des Hammerflügels kaschiert er nicht durch ein Pedalspiel, was den modernen Flügel nur unzulänglich imitieren würde und unvorteilhaft wirken könnte. Der Akzent fällt so auf eine Rhythmisierung. Sicher ist der Vortrag von Geraerts einem Fischer-Dieskau gegenüber eindimensionaler, der Stimme fehlt etwas Fülle und der Akzent ist auch hart an der Grenze zum Störenden. Aber das Wesentliche, was zu sagen ist, wird doch getroffen und man kann sich diesen Vortrag anhören.


    Leider kann man das von Elsacker/Beghin nicht sagen! Das wirkt wie ein betont „barockisierender“ Gesang mit der sehr manierierten Imitation eines barocken Schwelltons auf jeder Silbe – was Geraerts, der wie Elsacker auch ein Spezialist für Alte Musik ist, wohltuend vermeidet. So etwas kann man bei einem Romantiker wie Schubert einfach nicht machen! Und über den Zustand des Hammerflügels vermag man nur den Kopf zu schütteln. Da klirren und scheppern die Saiten, als ob das Instrument defekt wäre. Hätte man dieses nicht besser präparieren oder ein anderes wählen können? Wie man das Hammerklavier klug so einsetzen kann, dass es zeigt was es am besten kann und nicht nicht kann, hat Rémy überzeugend vorgeführt.


    Wirklich sehr bemerkenswert ist die Interpretation von Peter Pears und Benjamin Britten. Britten beginnt sehr bedächtig langsam und Pears hebt an mit schönem Stimmton, einem Gesang, der wirklich so etwas wie Anmut und Zauber beim Traum von der Maiblüte zu vermitteln vermag. Beeindruckend auch, wie er in der zweiten Strophe durch feine Stimmungswechsel die beiden mittleren Zeilen durch einen weicheren Ton abhebt und so den Wechsel von der Außen- in die Innenperspektive (und zurück nach außen) verdeutlicht. Gegen jede Eintönigkeit werden die „Raben vom Dach“ mit einem bohrenden Akzent versehen, bevor sich der Gesang ins traurige Träumen begibt. Ein wirklich sehr berührender Vortrag, der auf andere Weise als Fischer-Dieskau das Seelische als einen Spiegel verschiedenster Schatten und Farben erscheinen lässt.


    Schöne Grüße
    Holger

    Er ist zumindest diskographisch präsenter, jedenfalls wenn man die Zahl der angebotenen CDs beim Werbepartner abfragt. Was natürlich auch an dem umtriebigen Dirigenten in eigener Sache liegt.

    ... die wäre im Falle Stockhausen sicher auch höher, wenn es nicht den Stockhausen-Verlag in Kürten gäbe, der die wichtigsten Stockhausen-CDs ausschließlich selber vertreibt (darunter die Aufnahmen mit Kathinka Pasveer und Suzanne Stephens). :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Zweifellos hat die Sistema in der Vergangenheit -zumindest in Venezuela - Immenses geleistet.


    Eben, lieber Woka! Und warum soll man das alles über den Haufen werfen, nur weil ein Regime das für sich vereinnahmt? In diesem Teil der Welt geht nun mal so gut wie nichts "sauber" zu. Ohne einen Schmutzfleck auf der reinen Weste kommt da niemand davon. So etwas kennen wir schließlich aus der eigenen Geschichte - gerade die Berliner Philharmoniker wissen das: Stichwort Karajan und Furtwängler.


    Schöne Grüße
    Holger

    Spätestens beim hervorgehobenen Wort "mindestens" kann ich, der mein Lieblingsorchester ja das BPO ist, nicht mehr so ganz einig sein, lieber Holger... :)
    Aber ich habe mit dem CSO tatsächlich auch vom Orchester her wirklich gute Aufnahmen, wie etwa Mozart mit Uchida.

    Lieber Glockenton,


    das war natürlich eine etwas humoristische Stichelei! ;) Jeder lobt das Eigene immer besonders. :D Die Londoner werden entsprechend ihre Orchester für die besten der Welt erklären. Die Briten gehören objektiv gesehen nun mal auch zu den besten Orchestern der Welt. Ich habe die Chicagoer ja in Chicago gehört mit Bernhard Haitink und der 2. und 3. Beethoven. Das Orchester ist in jeder Hinsicht perfekt - eine schier unglaubliche Homogenität, Präzision, Virtuosität und wohl durch die Ära Haitink hinzugekommen eine erlesene Klangkultur. Haitink, der große Altmeister, braucht einfach nichts Manieriert-Interessantes zu "machen", er muß einfach dieses unglaubliche Orchester nur spielen lassen. Ich behaupte mal: Kein Orchester der Welt kann da besser sein, höchstens anders. Orchester lassen sich finde ich jedenfalls nicht so bewerten. Es gibt Klangkörper, die eine große Tradition und Bedeutung für das Kulturleben haben und allein deshalb einen Sonderstatus genießen. Die musikalische Qaulität wird sicher von den Dirigenten, die mit den Orchestern arbeiten wieder anders beurteilt als von den Hörern in aller Welt. Und die Orchester erleben auch Umbrüche, Generationswechsel. Ich finde z.B., dass die Wiener Philharmoniker in den 70igern eine Tendenz zum langweiligen Akademismus hatten. In der Zeit hat sich Bernstein mit ihnen in der Probe gefetzt: "Ich weiß ja, ihr könnt das Spielen. Aber das ist kein Mahler!" Heute, wenn ich Pollinis selbstdirigierte Aufahmen der Mozart-Konzerte höre, ist das eine ganz andere Welt: ein sehr engagagiertes, sprechendes Musizieren. Jedes Orchester hat seine Stärken - und auch Schwächen. Als Mahler-Orchester können für meinen Geschmack weder die Berliner noch die Wiener dem Amsterdamer Concertgebouw-Orkest das Wasser reichen. Und die Wiener kommen an ihre Grenzen, wenn sie Strawinsky spielen sollen. Beim Sacre scheiterten sie auch mit einem Rhythmiker wie Ozawa komplett. Da ist ihnen die Tschechische Philharmonie haushoch überlegen - man höre nur die Aufnahmen mit Karel Ancerl. Die spielen die vertracktesten rhythmischen Stellen, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. (Nach 1989 hatte das Orchester das Problem, dass viele Musiker aus der 2. und 3. Reihe in den Westen abhauten, weil man da selbst bei einem Provinzorchester mehr Geld verdiente als in Prag. Das Orchester mußte sich so erst einmal völlig neu sortieren. Das merkt man natürlich in den Aufnahmen der Zeit.) Ich mag die Wiener im übrigen auch sehr - Abbados Platte mit den Webern-Aphorismen und Schönberg "Ein Überlebender aus Warschau" ist nicht nur gut, sondern unglaublich gut. Besser kann man das nicht machen! Und die Berliner sind in ihren besten Aufnahmen auch toll - man darf sie bloß nicht immer nur mit Karajan hören!



    Das, was die Wiener und Berliner vom Rest der Orchesterwelt in meinen Ohren unterscheidet, ist ihr hauseigenes Klangbild, dass sie trotz Hinzunahme von Orchestermitgliedern aus aller Welt (sie holen sich immer nur die Besten, und dann müssen sie noch vom Klang her dazupassen) geschafft haben, zu erhalten und weiterhin zu kultivieren.

    Gilt das nicht auch oder in sehr viel stärkerem Maße etwa für die Tschechische Philharmonie (die böhmischen Bläser erkennt man sofort) oder das Gewandhausorchester oder die russischen Orchester?


    Worum es eigentlich geht bei Rankings ist etwas ganz anders - das zeigt in trauriger Weise das Finanzierungsproblem des Concertgebouw Orkest. Besonders amerikanische Orchester, die anders als die europäischen nicht staatlich subventioniert werden, sondern komplett von Spenden aus der Wirtschaft und von vermögenden Privatleuten leben, brauchen solche Rankings zur Eigenwerbung. Wenn man als eines der besten Orchester der Welt geführt wird, hat man eben bei solchen Gala-Veranstaltungen, wo Geld eingetrieben wird, einen guten Stand. Selbst ein Sir Georg Solti mußte ja sowas in Chicago mitmachen, um Geld zu sammeln für seine Musiker. :hello:



    P.S. Auch die tschechische Philharmonie in ihren besten Tagen konnte sich perfekt auf die Klangvorstellungen des Dirigenten einstellen. Sie haben mal die Wiener in Salzburg vertreten (beide Orchester verbinden wohl freundschaftliche Beziehungen) und unter Szell gespielt. Das Orchester hat plötzlich den typischen Szell-Klang, klingt fast so wie das übrigens auch exzellente Cleveland Orchestra!



    Schöne Grüße
    Holger

    Der Begriff "Neue Musik" ist revolutionär in dem Sinne, dass er nicht mehr nur sagt: das ist ein neues Kapitel in der Geschichte der Musik wie in der Folge Renaissance, Barock, Klassik, Romantik usw. Der Anspruch ist ja, mit der ganzen bisherigen Tradition zu brechen, eben "alter" Musik als herkömmlicher Musik. Wenn man Penderecki nachfragen würde, dann könnte er das wohl so erläutern: normale Musik ist Musik wie sie traditionelle Musik bisher war, deren Normalität in der Tonalität liegt als das "Natürliche" von Musik- was "natürlich" ein grundlegender Irrtum ist. ;) Die Dur-Moll-Tonalität ist eben keine "Normalität" der Musik und die Behauptung, sie verkörpere die Natur, hält einer kritischen Betrachtung nicht stand. Jeder Komponist hat natürlich das Recht, sich im Verhältnis zur Tradition selber zu verorten. Entscheidend ist letztlich die Qualität der Musik, die da herauskommt. Und die kann man im Falle von Penderecki so wenig bestreiten wie bei Boulez, Nono oder Stockhausen. Zum Glück gibt es seit längerem den Postmoderne-Diskurs, der diese totalisierenden "Metaerzählungen", welche so gerne beanspruchen, den Weg der Geschichte zu kennen (der Avantgarde wie ihrer konservativen Verweigerer gleichermaßen) kritisch beleuchtet. Es existiert eben (zum Glück für uns) nicht nur der eine wahre Weg in der Musik. "Aktivieren wir die Widerstreite!", sagte Lyotard. Also hören und lieben wir Rachmaninow, Penderecki, Schönberg und Nono und vereinen sie in ihrer Unvereinbarkeit. Adorno soll sich da ruhig im Grabe herumdrehen! :D


    Schöne Grüße
    Holger

    Aha - also ist das alles sinnlos ?
    Nicht wirklich.


    Wer braucht denn sowas wirklich? Den wirklichen Kenner interessiert es doch einfach nicht, er weiß es ohnehin besser. Das ist diese Manie von heute, alles mit Rankings zu bewerten, sei es nun die beste Bratwurst oder Universitäten oder eben Orchester u.a. Alles zufällig und mehr oder weniger beliebig! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Das ist alles medialer Blödsinn! Wieso kommt z.B. nur eines der amerikanischen Spitzenorchester vor? Statt dessen Tokyo Philharmonic! Was haben die überhaupt für ein Renomme? Ein Witz! Das renommierte Chicago SO dagegen ist gewiß mindestens ebenso gut wie die Berliner oder Wiener oder das Concertgebouw Orkest.


    Schöne Grüße
    Holger

    Man sieht ja hier im Forum, wie weit die Meinungen darüber auseinander gehen. Was dem einen noch ganz ohne Bauchschmerzen erlaubt scheint, ist für den anderen schon längst nur noch eine Verunstaltung. Hätte nicht einer das Sagen, wäre es in der Praxis manchmal wohl schwierig, überhaupt eine Inszenierung fertig zu stellen.


    Eben! Dasselbe würde schließlich auch auf das Verhältnis von Dirigent und Orchestermusikern zutreffen, lieber Dieter. Wenn die Musiker darüber zu entscheiden hätten (und darüber auch noch untereinander im Streit wären, denn es sind ja über 100 Menschen mit durchaus sehr verschiedenen Ansichten), wann der Dirigent die Partitur verunstaltet (man denke z.B. an die extrem langsamen Tempi von Celibidache oder Toscaninis Geschwindigkeitsrekorde, Scherchens Kürzungen bei Mahler usw.), dann käme nie eine Aufführung zustande. Wo es um die Erstellung einer künstlerischen Gesamtkonzeption geht, bedarf es eben eines bestimmten Diktats, aus ganz pragmatischen Gründen.


    Schöne Grüße
    Holger

    Meine ist diese mit Pollini/Abbado neben Ashkenazy/Solti auch ... aber mit Anda/Fricsay bin ich nie warm geworden.


    Pollini und Ashkenazy stehen bei mir auch ganz oben, lieber Wolfgang. Die Anda Aufnahme ist natürlich auch top, würde ich doch sagen. Ich muß sie direkt nochmals hören! Das - klassizistische - 3. Konzert mit dem wunderbaren Andante religioso ist mit Ashkenazy/Solti ein Traum. Eine ideale Aufnahme! :hello:


    Schöne Grüße zum Sonntag
    Holger

    Ich kenne Dich ja als Pollini-Fan und vermute, dass es die männliche Klarheit und Unsentimentalität ist, die Du bei ihm so magst.


    :D "Mein" Pianist war und ist eigentlich immer Arturo Benedetti Michelangeli gewesen, lieber Glockenton! ;) Pollini-Fan bin ich natürlich auch - und deshalb manchmal auch sein etwas penibler Kritiker. Die frühen Aufnahmen von Schubert, Schumann und auch die erste Aufnahme der Chopin-Preludes zeigen den anderen Pollini, den sensiblen, introvertierten, wo sich das Energische, Aufrührerische mit lyrischer Intimität und einem wirklich erhabenen Sinn für Schönheit abwechseln. Pollini kann bei Beethoven manchmal etwas unpersönlich wirken - bei diesen Schubert-Aufnahmen ist davon keine Spur!


    Ich habe auch noch Hans Hotter gehört. Eine Aufnahme, die in sich selbst ruht. Man denkt nicht an Fidi, sondern hört ihm nur zu. Einfach wunderbar gesungen! Er macht schlicht und einfach immer das Richtige. "Bin matt zum Niedersinken" - eine einzige Betonung, und die "sitzt" sozusagen absolut. Auch bei ihm ist der Leiermann sehr berührend - viel intensiver als bei Fidi/Demus, weil nachdrücklicher gesungen mit seiner fülligen Stimme. Eine "zeitlose" Aufnahme. Von welcher der neueren kann man das wirklich sagen? Goerne, Pregardien...? :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Die Britten Peter Pears und Benjamin Britten möchte ich mit ihren Interpretationen nicht missen.


    Ich auch nicht, lieber Moderato! (Endlich mal jemand, der meine Bewunderung für diese Aufnahme teilt! :) ) Von Souzay habe ich leider nur Die schöne Müllerin!


    Eben hörte ich Fischer-Dieskau und Pollini und im Vergleich die ältere Aufnahme mit Jörg Demus. Ich kann nur sagen: Fidi/Pollini ist eine Sternstunde. In "Mut" fliegt die Welt aus ihren Angeln, eine Geste revolutionären Aufbegehrens. Biedermeier ade! Mit Demus ist das im Vergleich wirklich harmlos konventioneller Liedgesang - natürlich auf dem Niveau von Fischer-Dieskau. Und der "Leiermann" ist mit Fidi/Pollini schier unglaublich. Sagenhaft! Beide wachsen da im wirklich äußerst sensiblen Dialog in den interpretatorischen Himmel. Dagegen wirkt Fidi mit Demus doch sehr "schlicht" - fast schon simpel. Nichts von den emotionalen Abgründen und Abenteuern im Leisen zusammen mit Pollini! Ich bin mal sehr gespannt, ob Fidi/Brendel an diesen Ausnahmeabend in Salzburg heranreichen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger