Die Winterreise wird gleichsam zur Dokumentation des Konflikts von Individuum und Gesellschaft in der Epoche der Restauration in den verschiedensten Facetten subjektiver Verzweiflung: von der Klage über einen Verlust über das Aufbegehren bis hin zur Resignation. Der Gestus des Aufbegehrens, er dokumentiert sich in der Liedfolge „Im Dorfe“ (Nr. 17), „Der stürmische Morgen“ (Nr. 18) – fortgesetzt durch „Mut!“ (Nr. 22).
Die von allen Neuerungen und Veränderungen geschichtlicher Entwicklung scheinbar abgeschottete dörfliche Lebenswelt in ihrer Ruhe scheinbar zeitlosen Verharrens – nichts könnte besser das hoffnungslos Veraltete und Erstarrte einer Gesellschaft, die sich überlebt hat, trefflicher ins Bild setzen. Und es ist bei Müller und Schubert sicher nicht die Biedermeier-Apotheose einer gemütlich-geborgenen Heimwelt, welche evoziert wird, wie sie Eduard Mörike Wolfgang Amadeus Mozart in den Mund legt: „Ein Gütchen wenn du hättest, ein kleines Haus bei einem Dorf in schöner Gegend, du solltest wahrlich neu aufleben!“ Was hier sprachlich wie musikalisch geschildert wird ist die in sich erstarrte Welt von schlafenden und ihren illusionären Träumen ergebenen Spießern und Philistern mit all ihrer Engstirnigkeit, die ihren kläglichen Besitz mit Zäunen und Ketten rasselnden Hunden abschotten gegenüber der für sie bedrohlichen „Bewegung“ des Wanderers, der von der Moderne und ihrer Tendenz zur Veränderung kündet.
Wunschbilder entstehen in der Identifikation mit dem Objekt des Begehrens. Die Begegnung der dörflichen Lebenswelt in der Winterreise zeichnet sich dem entgegen nachweislich durch eine mehrfache, Identifikation unterbindende Distanznahme aus – sowohl auf sprachlicher als auch musikalischer Ebene, was sich in einer detaillierten Analyse zeigen ließe. Die Bedeutung der Bilder lässt sich jedoch dem ungeachtet allein schon aus der semantischen Verklammerung in der unmittelbaren Aufeinanderfolge von „Im Dorfe“ und „Der stürmische Morgen“ entnehmen:
Der stürmische Morgen
Wie hat der Sturm zerrissen
des Himmels graues Kleid!
Die Wolkenfetzen flattern
Umher im matten Streit.
Und rote Feuerflammen
ziehn zwischen ihnen hin:
Das nenn´ ich einen Morgen
so recht nach meinem Sinn!
Mein Herz sieht an dem Himmel
gemalt sein eignes Bild –
es ist nichts als der Winter
der Winter kalt und wild!
Das semantische Beziehungsgeflecht fokussiert sich im wesentlichen um das genannte thematischen Zentrum „Morgen“ als Brücke ( „Und morgen früh ist alles zerflossen“ („Im Dorfe“, Strophe 2) – „Das nenn´ ich einen Morgen/so recht nach meinem Sinn! („Der stürmische Morgen“, Strophe 2)), mit den komplementären Gegensätzen: Dunkel (Nacht) und Helle, Schlaf und Weckung, erstarrte Ruhe und auflebende Bewegung, Distanznahme und Identifikation, Objektivität und Emphase der Subjektivität. Die Ruhe der Schläfer und Träumer, der Friedhofsfrieden menschlicher Wohnlichkeit aus „Im Dorfe“, das ironische Zerrbild statuarischer Ordnung in der Nacht der Restauration, wird in „Der stürmische Morgen“ von aufrührerischer Bewegung, dem von der aufgehenden Sonne morgendlich frisch Geweckten, einem zur Feuersbrunst aufbrausenden Wintersturm, hinweggefegt in den Orkus des Gewesenen und Vergessenen.
War die Haltung des Subjekts in „Im Dorfe“ durch eine sprachliche wie musikalische Semantik umfassende Distanznahme geprägt, so wird sie hier zur vollständigen Identifikation: Im Wintersturm, dem Vergehen der Nachtgespenster des Gewesenen in den Feuerflammen der aufgehenden Morgensonne als Bild des Aufbruchs in eine neue Zukunft, erblickt der Wanderer nicht zuletzt sein eigenes Bild des Aufbegehrens. In „Mut!“ verfestigt sich dieser innere Aufruhr schließlich zum revolutionären Habitus eines Subjekts (in seinem trotzig-aufrührerischen Gestus kongenial umgesetzt durch Dietrich Fischer-Dieskau und Maurizio Pollini), das sich in heroisch-prometheischer Heiterkeit zum Gott – zum Herrn seiner selbst – aufschwingt und erhaben allen Gewalten und Widerständen durch seinen starken Willen trotzt:
Lustig in die Welt hinein
gegen Wind und Wetter!
Will kein Gott auf Erden sein,
sind wir selber Götter!
Auch der Leiermann ist eine Wandererfigur, doch eine, welche die Fremdheit in sich aufhebt, indem sie – aufgehend in der Musik – die fatale Bindung an die menschliche Welt los zu werden trachtet.
Der Leiermann
Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann.
Barfuß auf dem Eise
Wankt er hin und her
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an,
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.
Und er läßt es gehen,
Alles wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.
Das barfüßige Sich-Bewegen auf blankem Eise bedeutet zunächst stechenden Schmerz und dann Empfindungslosigkeit, Taubheit: Der Eiswanderer kehrt sich von außen ganz nach innen, nimmt statt der Außenwelt schließlich nur noch sich selber wahr, wird mehr und mehr zum Gefangenen seiner Vorstellungs- und Empfindungswelt. Auf diese Weise mögen ihn die Menschen weder hören noch sehen – er ist der Welt mit einem der Rückert-Lieder Gustav Mahlers gesprochen „abhanden gekommen“, lebt nur noch in seinem eintönigen Lied. Schuberts Musik vollzieht diese Bewegung einer Fatalität kontinuierlichen In-sich-Zurückziehens auf wahrlich erschütternde Weise: „Leiernde“ Kreisbewegungen, die sich in sich selber verschließen, gewissermaßen in sich eindrehen – die Singstimme kreist unaufhörlich um das Klavier, das Klavier immer wieder um die Singstimme, beide sich verbindend zu einem ewigen Kreisel, um schließlich im Grenzenlosen zu verhallen.
Die Bewegung des Wanderers, sie ist in der „alten Leier“, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, gleichsam in sich erstarrt, hat sich verwandelt von einer Vorwärtsbewegung des Ausgangs in die Welt zum unaufhörlichen Eingang in die Tiefen des eigenen Selbst. Der hochfliegende „Mut“, der mit den Stürmen und Wettern heiter durch die Welt zieht, er ist wie Caspar David Friedrichs stolzer Segler über die Meere festgefroren im Eismeer der Resignation.

Caspar David Friedrich Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung) (1823/1824)
„Einsamkeit“ – das Schlusslied des ersten Teils der Winterreise, endet noch mit der lauten Klage des Subjekts: „Auch, daß die Luft so ruhig!/Ach, daß die Welt so licht.“ Dem ist im Leiermann das Leise und still Verstummende absoluter Trauer und Resignation gewichen, eines Subjektes, das sich voll und ganz zurücknimmt zur Gleichgültigkeit vollständigen Ergebenseins in das eigene Schicksal.
Die Musik selber setzt gleichsam den Schlussakkord der Winterreise, indem sie sich als letzten Rückzugs- und Zufluchtsort der ganzen Reise anbietet. Die Lösung der Aporie der Wanderschaft liegt dabei im Umschlag von Verzweiflung in Resignation: Die Bewegung des Wanderers schwankt zwischen Mut und Mutlosigkeit unentscheidbar hin und her – der „Mut!“ des Winterreisenden, bezeichnend bedarf er des bekräftigenden Ausrufezeichens, entspringt also einer besonderen Willensanstrengung in Form einer Aufmunterungsgeste, zeigt sich nicht als etwas wirklich Dauerhaftes, eine Tugend der constantia, unterliegt vielmehr dem Wechsel der Affekte, schwankenden Stimmungen. Die Resignation des Leierkastens löst scheinbar diesen gordischen Knoten, indem sie den grundlegenden Zwiespalt dieser Verzweiflung auflöst durch den Weltverlust. Behält also die Musik das letzte Wort? Ist das Subjekt dieser Winterreise am Ende das resignierte und damit endgültig Gescheiterte?
Es sind die Lieder – also die Musik selbst – welche dem Wanderer ganz zuletzt die Gefolgschaft des Leiermanns und damit den Austritts aus der Welt und Eintritt in die klaglose Resignation, die Welt der Musik, anbietet. Doch das letzte Wort behält hier die Sprache und nicht die Musik, indem sie solche Gefolgschaft modalisierend als Frage stehen lässt. Resignation als Ausweg aus der Verzweiflung bleibt eben eine noch unergriffene Möglichkeit, die dem Wanderer offen steht und offen bleibt neben dem Wechsel von Mutlosigkeit und Aufraffen des Muts in unaufhebbarer Verzweiflung. Die alles durchziehende Grunderfahrung von Fremdheit, sie hält dem Wanderer der Winterreise schließlich auch den Leiermann, diesen „wunderlichen“, befremdlichen Alten, auf Distanz. Von der Welt und Weltbeziehung kann der Fremde letztlich nur dann wirklich lassen, wenn er kein Leben mehr vor sich hat, auf seiner langen Lebensreise im Stande des Alters angekommen dem Tode nahe existiert, welcher endendem und nicht anfangendem Leben die Zukunftsperspektive raubt, statt voraus- nur noch zurückblickt auf das gelebte Leben. Für den Winterreisenden erscheint von daher nicht Resignation, sondern Mut in der Verzweiflung als der plausiblere Ausweg. Auch wenn die Musik voll und ganz dem Schicksal des Leiermanns in tiefster Trauer und unendlichem Schmerz nachsinnt: Statt mit der Resignation als endgültiger abzuschließen, bleibt die Winterreise aporetisch offen auch in ihrem Schluss.