Beiträge von Dr. Holger Kaletha

    Übrigens brauche ich gar nicht zwischen U und E auf diese Weise "versöhnt" werden. Die Formulierung "Versöhnung zwischen U und E wäre wohl auch ideal für Fernsehmoderatoren/innen von Sendungen, bei denen ich mich erfahrungsgemäss nach kurzer Zeit beginne aufzuregen, weil da so ein Mensch einen Titel wie "Roll over Beethoven" spielt.


    Auch ein geistliches Werk von Bach kann mich gut "unterhalten", ebenso eine Oper wie z.B. "das Rheingold" von Wagner .


    Eigentlich ist es doch so, lieber Glockenton, daß der sogenannte "Klassik"-Hörer sehr wohl zwischen verschiedenen Rezeptionshaltungen wechseln kann. Es gibt Bach-Stücke mit durchaus unterhaltendem Charakter - "Air" ist es aber gerade nicht. Natürlich sind die Walzer von Johann Strauß Unterhaltungsmusik (freilich sehr gute!), aber Beethovens Sonate op. 111, ein Brahms Intermezzo oder die B-Dur-Sonate von Schubert wollen und können nicht unterhalten. Bei Chopin z.B. wird eine Mazurka oder ein Walzer seines Unterhaltungscharakters entledigt, zum inneren Monolog einer vereinsamten Seele - wenn man einen tiefsinnigen Interpreten wie Michelangeli hat, der das auch hörbar macht (beim Walzer op. 34 Nr. 2 z.B.), dann erlebt man diese Dimension. Liszt konnte sein Publikum wahrlich unterhalten - aber in seinen späten Jahren wollte er das nicht mehr in einer Art von Selbstkasteiung. Das ist ungemein spröde und abstrakte Musik, völlig antirhetorisch, die vom Interpreten und Hörer einfach eine andere innere Einstellung verlangt. Das Problem beim durchschnittlichen Pop-Hörer ist, daß er Musik eben nur noch als Unterhaltung und Entertainment rezipieren kann, also zu diesen Einstellungswechseln nicht mehr fähig ist. Systemtheoretisch hat die Kluft (die "Differenz") zwischen "U" und "E" die Popkultur hervorgebracht. Komischer Weise wird dann der "Klassik" dies zum Vorwurf gemacht. Der gebildete Klassik-Hörer hat ein durchaus gutes Gespür, wann man eine Musik unterhaltsam oder ernst vortragen sollte. Genau diesen Instinkt hat der Pop-Hörer verloren - da wird dann wahllos alles "aufgepeppt" und das als allseligmachendes Crossover verkauft. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


    Lieber Thomas,


    Lytard geht natürlich in eine ganz andere Richtung: "Aktivieren wir die Widerstreite"! Da werden gerade nicht die Unterschiede egalisiert wie bei Crossover, sondern die Heterogenität zu etwas Positivem - eine Stilmischung. In diesem Sinne haben auch Mahlers Symphonien etwas Postmodernes (so hat das Bernstein ja auch gesehen). :hello:


    Tschaikowsky auf Akkordeon (s.o.!) würde ich nicht als Crossover ansehen, das ist eine Transkription. Auch die Jazzimprovisation über ein klassisches Thema nicht - so etwas ist ja doch eher eine Fortsetzung von dem, was etwa Franz Liszt gemacht hat: die Konzertparaphrase als freie oder schriftlich fixierte Improvisation über ein Opernthema. Zu Crossover gehört immer der Anspruch einer Synthese und "Versöhnung" zwischen den Gegensätzen - hier den Bereichen von U und E. Als ästhetisches Konzept halte ich das für eine Illusion. In manchen Fällen mag das ja ganz nett sein, aber im Prinzip scheitert das an den ganz unterschiedlichen Rezeptionshaltungen, die man einnehmen muß. Deswegen ist Garretts Bach so peinlich, weil er dem Pop- und Unterhaltungs-Hörer genau diesen Sprung ins kalte Wasser ersparen will. Das ist ungefähr so, wie wenn man einem überzeugten Vegetarier vermitteln will: Vegetarisches Essen geht auch mit Fleisch - niemand also braucht an seinen bisherigen Lebensgewohnheiten etwas zu ändern! :)


    Schöne Grüße
    Holger

    Bei Beethovens 9. im 4. Satz ist es der Bariton mit: "O Freu - heu - heunde, nicht diese Töne!" Das denke ich mir auch und fliehe.


    Da wirkt bei Beethoven noch das barocke Figurendenken nach (Stichwort: Hypotyposis, das endlose ha-ha-ha-ha) - was schon der Empfindsamkeit des 18. Jhd. manieriert vorkam. Von Mahler wird die Hypotyposis-Figur dann bezeichnend als Parodie verwendet (in den Wunderhorn-Liedern). :hello:


    Scghöne Grüße
    Holger

    Ich bezweifle, dass "Crossover" einer Idee folgt.

    Tut sie aber, lieber Thomas. Crossover ist wesentlicher Bestandteil des Postmoderne-Diskurses. Der begann in den USA als eine Literaturdebatte und zog seine Kreise. Das Motto des Literaturkritikers Leslie A. Fiedler lautet "Überschreitet die Grenzen - schließt die Gräben!" Nachlesen kann man das alles hier:



    Den allermeisten Hörern von sogen. Crossover ist ein solches Schicht-- oder Statusdenken völlig fremd.

    Das ist typisch für das postzmoderne Crossover-Denken. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    die Braun - Anlagen waren in jeder Hinsicht überschätzt und viel zu teuer. BRAUN ist eine erfolgreiche Rasiererfirma - und das sollen sie auch bleiben - (benutze ich auch selber - die SERIE 3). Ach ja, die Elektrischen Zahnbürsten sind auch spitze !

    Meine Eltern besaßen in meiner Kindheit/Jugend einen Braun-Receiver und Plattenspieler. Das Design war in der Tat sehr schön - der Plattenspieler von guter Qualität und auch der Receiver klang gut - war glaube ich nur einmal in Reparatur. Gegen den Yamaha-Vollverstärker, den ich mir dann selber kaufte, hatte er klanglich aber gar keine Chance. Man muß sagen, daß die Japaner damals technologisch führend waren und ein Preis/Leistungsverhältnis hatten, das die Deutschen (auch Grundig) niemals erreichten. Das änderte sich in den 90igern, als kleine deutsche Hersteller wie AVM auf der Bildfläche erschienen. Das war dann ein wirklich "highendiges" Niveau zum günstigen Preis, da konnte dann auch Yamaha nicht mehr mithalten bzw. verlor das Interesse an dieser Kategorie. Von Accuphase, Marc Levinson oder Burmester rede ich jetzt nicht - die sind nur etwas für Leute mit der ganz dicken Brieftasche.... Leider sind diese Zeiten, wo es Top-Hifi zu erschwinglichem Preis gab, inzwischen vorbei. Heute gibt es entweder Billigzeugs oder das Gute ist so richtig teuer.



    Vielleicht sollten wir mal wieder zum eigentlichen Thema dieses Threads kommen ?
    Audiophil ? Wie definiert man das ?

    Unter einem "audiophilen" Hörer verstehe ich einen, dem die Klangqualität letztlich wichtiger ist als die Interpretation und ihr künstlerischer Wert. Ich bin zwar auch Hifi-Fan seit jeher, wenn es aber um die Interpretation geht, ist für mich der audiophile Klang eher nebensächlich. Natürlich ärgere ich mich auch über schlechte Klangqualität - sie sollte so gut wie möglich sein! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Was ist denn die Idee des "Crossover"? Im 17., 18. oder 19. Jhd. gibt es keine Pop-Musik. Es gibt lediglich Gebrauchsmusik für den jeweilgen Zweck (zur Repräsentation, zur Unterhaltung, zum Tanz, Arbeitsgesänge usw.) Dem steht die Kunstmusik gegenüber. In der Romantik verbindet sich dies mit der Idee der Kunstreligion, wonach die Kunstmusik eine andere Rezeptionshaltung erfordert, eine Art kontemplativer Andacht. In der Romantik gibt es zudem die Idee, die Spären des Hohen und Niederen zu mischen. Auch das ist aber kein Crossover. Denn es geht darum, im Gewöhnlichen ein "Geheimnis" zu entdecken, was ihm eine höhere poetische Bedeutung gibt. In dieser Tradition können dann Gassenhauer bei Debussy auftauchen oder Alltagsgeräusche bei Ives. All das ist kein Crossover. Crossover ist die Idee der Popkultur als Massenkultur und der Versuch, die "hohe" Kunst als elitär zu brandmarken und in gewöhnliche Popkultur zu transformieren. Die Crossover-Idee ist demnach eindeutig von einem Ressentiment gegen "hohe Kunst" bestimmt.


    Schöne Grüße
    Holger

    Boccherini hat meines Wissens auch Zarzuelas komponiert, und die sind eindeutig eine Mischung aus "klassischer" Musik und "Volksmusik".

    Die Frage ist, lieber Felix, ob man das alles als "Crossover" bezeichnen kann. Das Komponieren in dieser Zeit war zweckgebunden - man komponierte bestimmte Musik auf eine angemessene Art für die jeweilige Verwendung. Natürlich gab es die Parodien der "hohen" Kunst (ich denke jetzt an die Betteloper, die Händel veräppelte), aber die Idee des Crossover ist doch eine andere. Da geht es um den Anspruch, die Kluft zwischen "elitärer" Kunst und Massenkultur zu schließen (Leslie A. Fiedlers Programm der Postmoderne) mit einer ganz klaren Präferenz: Es gibt nur Pop und Massenkultur als die "wahre" Kunst - entsprechend ist die elitäre Kunst als Scheinkunst in eine Popkunst umzuwandeln. Das macht David Garrett mit Bach in diesem fürchterlichen Video, was oben zu sehen ist. In Bachs Musik gibt es eine erhabene Innerlichkeit und Transzendentalität, die das Alltägliche verläßt. Genau diese Fähigkeit wird der Musik genommen: Sie wird mit banalem "Swing" gespielt und damit zur angenehmen Allerwelts-Unterhaltung. Nur tut er Bach damit keinen Gefallen: So gespielt wird diese Musik nämlich wirklich banal. Das hat mit der sozialen Subversivität und dem Witz von John Gay nichts mehr zu tun, sondern ist schlicht ein Tribut an den ordinären Massengeschmack. Eine Massenkultur mit all diesen Verfallserscheinung der industrialisierten Musikproduktion gab es im 17., 18., oder 19. Jhd. noch nicht. Da konnte die Musik außerhalb der Kunstmusik noch zum Jungbrunnen für die Kunstmusik werden, weil sie selber einfach authentisch war und musikalische Qualität hatte. Was sind die "Spirituels" aus dem 18. Jhd. für hinreißend schöne Musik! Gemessen an diesem Niveau von "Pop" von damals ist das allermeiste, was im 20. Jhd. als Popkultur die Welt überschwämmt, schlicht erbärmlich! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Wirklich atemberaubend - glühend vor Leidenschaft - ist die Aufnahme der "Lebensreifen" mit Vaclav Talich:



    Die Fantasie für Violine und Orchester ist ein ebenso leidenschaftlich-bewegtes Stück:



    Schöne Grüße
    Holger

    Ich mag Josef Suk sehr - da gibt es Einflüsse des Impressionismus und des Jugendstil (die Fuge in den "Lebensreifen") Traumhaft schön ist die Streicherserenade des 18jährigen, die Johannes Brahms in helles Entzücken versetzte. Sein Enkel, der Geiger Josef Suk, hat das Violinkonzert eingespielt.





    Schöne Grüße
    Holger

    Persönlich aber scheint mir die Aussage, dass die erste Fassung den Kaiser in den Mittelpunkt stelle, nur bedingt zutreffend.

    Da hast Du völlig recht, lieber Lynkeus. Das war so einfach ungenau von mir - siehe meinen Beitrag 9


    Ich bin zu einer solchen Operation leider nicht in der Lage. Deshalb vielen Dank.

    Mir als technischem "Genie" ist es lange auch so gegangen, lieber Helmut! :) Es ist aber ganz einfach: Du googelst ein Bild, dann drückst Du mitten auf das Bild mit der rechten Maustaste. Dann öffnet sich ein Fenster mit mehreren Befehlen zum Auswählen. Du wählst dann "als Email zusenden". Dann bekommst Du eine Email mit dem Link der Graphik. Die markierst Du mit der Maus und wählst wiederum mit der Maustaste "kopieren" aus. Dann gehst Du in Tamino, wo Du Deine Antwort schreibst. Oben auf der Leiste siehst Du (drittes Symbol von links) ein viereckiges Bildzeichen (mit Sonne in der Mitte). Da klickst Du mit der linken Maustaste drauf, kopierst den kopierten Link rein und drückst auf o.k.! Dann erscheint das Bild hier im Fenster! Dazu kannst Du dann den Text schreiben. Wenn Du auf "Absenden" drückst, wird es auf die richtige Größe verkleinert. :hello:


    Meine Argumentation ginge ich die Richtung, daß auf zwei ganz unterschiedliche Arten konstruiert wird. In dem einen Bild wird eine getreue Wiedergabe konstruiert, in dem anderen nicht.

    So sehe ich das auch, lieber JLang. Es ist sicher der Anspruch da, ein historisches Ereignis wiederzugeben. Aber die Konstruktion verrät sich allein schon in der Wahl des Bildausschnitts. Der Kaiser selbst steht sehr weit hinten - offenbar ist der Eindruck der Versammlung als konstituierendem Akt wichtiger als die Person des Kaisers selbst. Der besondere Blickwinkel verrät also die Sicht des Betrachters auf die Dinge... :)


    Herzliche Grüße
    Holger

    Wenn man die beiden Bilder genauer analysiert, dann stellt man fest:


    Die Erstfassung vermittelt erstens den Eindruck einer "Vollversammlung": ganz Deutschland ist anwesend, was die Wahl der Blickperspektive unterstützt: die Wahrnehmung des Ganzen und einer großen Menge überwiegt. Zudem wird stark der Gegensatz der Stände betont, die sich vis a vis gegenüberstehen. Dagegen gibt die Drittfassung einen repräsentativen Ausschnitt statt der Totalperspektive und ist in der Darstellung und Auswahl der Figuren individualisierend.


    Schöne Grüße
    Holger

    Es gibt von diesem historischen Ereignis, der „Kaiserproklamation“ im Spiegelsaal von Versailles (18.1.1871) also, zwei bildliche Wiedergaben. Die erste wurde von Anton von Werner im Auftrag der deutschen Fürsten, der Kaiserin und der freien Städte 1877 erstellt und Wilhelm I. zum achtzigsten Geburtstag geschenkt. Die zweite Fassung, die hier abgebildet ist, entstand einige Jahre später, nämlich 1885, als Geschenk von Wilhelm I. an Bismarck zu dessen siebzigstem Geburtstag. Sie unterscheiden sich sehr wesentlich.


    Lieber Helmut,


    im Wikipedia-Artikel, hier zu lesen:


    http://de.wikipedia.org/wiki/D…roklamation_in_Versailles


    steht, daß es drei Fassungen gibt. Die ersten beiden wurden 1945 zerstört, die dritte befindet sich im Bismarck-Museum in Friedrichsruh.



    Von der zweiten Fassung finde ich kein Bild im Internet.


    Die Problematik, die Du angeschnitten hast, ist natürlich die wesentliche für die Betrachtung von Historienbildern. Zur Geschichtsschreibung gehört ja immer auch ein Begriff von den Ereignissen, und der enthält eine Wertung. Es wird nicht nur eine Ereignisfolge in allen Einzelheiten nacherzählt (was ein unmögliches und sinnloses Unterfangen wäre), sondern gewertet: Welche Ereignisse sind die wesentlichen, die in den Mittelpunkt der Darstellung gehören und welche sind eher nebensächlich? (Der Neukantianismus (Heinrich Rickert) nannte dies das "Prinzip der Auswahl des Wesentlichen aus der Wirklichkeit" bei der historischen Begriffsbildung.) Die zweite und dritte Fassung stellen in der Tat Bismarck ins Zentrum als "Lichtgestalt" durch die weiße Uniform - enthalten also einen Begriff vom historischen Ereignis. Bei der Erstfassung dagegen steht der Kaiser im Mittelpunkt - was natürlich auch eine selektive Wertung darstellt. Insofern kann man durchaus sagen ist auch sie durch einen Begriff von diesem Ereignis vermittelt. :)


    Schöne Grüße
    Holger

    Eine sehr erfolgreiche und allgemein wohl als überaus gelungen angesehene Cross-Over-Geschichte war ja damals "Offizium" mit den Hilliards und Garbarek.
    Ich habe mir die CD ein oder zweimal aus einer Musikbibliothek geliehen und zugehört.
    Allerdings habe ich mir selbst diese kontemplative und durchaus mit viel Geschmack und Einfühlungsvermögen gemachte CD weder davon gebrannt noch anschliessend gekauft.
    Ehrlich gesagt störten mich diese für mich auch tontechnisch zu laut in den Vordergrund gestellten Saxophontöne irgendwann, und ich dachte "kann er nicht einmal aufhören, deren überirdisch schönen Gesang mit seinen fremden Elementen zu überlagern?" Dass er sehr sehr gut spielt, ist zweifelsohne so, und "`mal" kann ich es auch hören, doch eben nur selten und in kleinen Dosierungen.


    Gäbe es die CD auch ohne Saxophonbeiträge, würde ich sie kaufen. Allerdings sage ich nicht, dass die Leute, die ausgerechnte diese CD mögen, keinen Geschmack hätten. Da gäbe es wohl ganz andere Beispiele....


    Das ist die einzige "Crossover"-CD, die ich besitze, lieber Glockenton. :) Ich finde das wirklich sehr schön, weil ungemein einfühlsam. Die Musik wird durch die Improvisation kommentiert als eine Art Resonanz, aber ansonsten belassen, wie sie ist. Diese Musik gehört ja eher zum "Rand"-Repertoire, das kaum jemand kennt und so aus dem Abseits geholt wird. Und Jazz-Musik ist im Grunde heute genauso esoterisch wie Klassik - die CD ist von daher sowieso nichts fürs Massenpublikum. Was sonst gemacht wird, ist ja die populärsten Sachen der Klassik noch einmal populärer machen zu wollen für das ganz große Publikum aus durchschaubarem kommerziellem Interesse. Das ist für mich ästhetisch überflüssig, musikalisch eine Parodie und zudem von der Intention her eine Illusion: Wer Klassik nur über Crossover kennenlernt und hört, der wird nie einen ernsten Zugang zu ihr finden, sondern dies als eine Zirkusnummer betrachten, die mal etwas Abwechslung in den Pop-Alltag bringt.


    Schöne Grüße
    Holger

    Das heißt, Richter ist schon sehr langsam, und wenn man den dünnen Ton der damaligen Klaviere bedenkt, halte ich es für völlig offensichtlich, dass Richter viel zu langsam spielt. Auch das ist eine verfälschung.


    Man kann das aber auch andersherum sehen, lieber Felix: Der moderne Konzertflügel erlaubt es, daß man es so langsam spielt. Was wäre, wenn Schubert ein solches Instrument zur Verfügung gehabt hätte? Hätte er es dann nicht auch langsamer gespielt? Die Rede von "Verfälschung" ist hier heikel, denn von einer Fälschung kann man nur sprechen, wenn man das Original kennt, was gar nicht der Fall ist. Besonders beim Tempo läßt sich das kaum ausmachen. Von Mahler z.B. ist überliefert, daß er seine Symphonien je nach Aufführung in sehr unterschiedlichen Tempi dirigierte. Richter gibt dem Satz durch das bedächtige Tempo einfach eine erhabene Größe - Ausdruck von totaler Erstarrung in der Unendlichkeit. Mir gefällt das melodisch fließendere Tempo auch - aber die Dimension, die Richter erschlossen hat, möchte ich wie viele andere auch nicht mehr missen. Die Musik verliert dadurch ja nichts, sie gewinnt nur - und zwar eine geistige Dimension. Das ist ja die Stärke von Richter, Klavierspiel in einen Prozeß reinen "Denkens" in Tönen verwandeln zu können. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    So schön die Aufnahmen mit Orchester klingen, ich komme mit den Klavierfassungen besser zurecht; hier höre ich das Wesentliche, die Aussage in der "Einfachheit" der Komposition, bei den Orchesterfassungen können die sehr viel intensiveren Klangfarben ablenken.

    Lieber Horst,


    die Klavierfassung (welche ja die ursprüngliche ist) ist einfach "gedanklicher", nachdenklicher, als das sinnliche opulente Orchester. Ich ziehe deshalb letztlich auch das Klavier vor, so "schön" die Orchesterversion auch ist! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Gould hat doch, wenn ich mich recht entsinne, mal in Moskau in einem Konzert Swjatoslaw Richters gesessen. Ich weiß nicht mehr, was Richter da gespielt hat, aber die Appassionata kann das nicht gewesen sein, und die Pathétique auch nicht.


    Das war Schuberts Klaviersonate B-Cur D 960 - die Richter Gould zum ersten Mal beeindruckend nahebringen konnte, wie er sagte. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Viel eher träumte er davon, dass der Konsument seine eigene Idealeinspielung aus mehreren Einspielungen zusammenschneidet. Aus diesem sollte sich die Kritik an seinen Interpretationen auch anders orientieren, finde ich.

    So sehe ich das auch, lieber Felix. Gould hat z. B. auch den ersten Satz von Scriabins 3. Klaviersonate im Zeitlupentempo gespielt. Das ist höchst aufregend. Man "sieht" auf einmal die syntaktische Struktur so plastisch wie auf einem Röntgengenbild.


    Ich will nur einen Aspekt herausgreifen. Wir haben in den vergangenen Monaten das eine um das andere Mal, und wenn ich mich recht entsinne, besonders von einem Pianisten, gelesen, dass er dynamische Unterschiede einebne. Und ich finde, wenn das beim einen (Säulenheiligen) erlaubt ist, muss das auch beim anderen erlaubt sein.

    Das ist richtig, lieber Willi. Aber ebenso stellt sich dann die Frage, warum er das tut! Für Gould ist das musikalische Zentrum, der Maßstab, an dem er die Musik mißt, im Grunde Bachs Fugengeist. Wenn er dynamische Unterschiede einebnet, dann geschieht dies in der Absicht einer Linearisierung, nämlich Beethoven mit dem Auge von Bach zu lesen. Das ist eine geistige Leistung. (Ich hatte das "Dekonstruktion" genannt.)


    Schöne Grüße
    Holger

    Das, lieber Holger, ist ganz bestimmt so, aber auch das kann man nun wiederum anders herum lesen: jeder logische Sachverhalt ist kulturell gebunden (und muß das auch sein).

    Wie denn das, lieber JLang? Soll das etwa heißen, daß etwa für Chinesen das Widerspruchsaxiom nicht mehr gilt oder 2 plus 2 gleich 5 sein kann? :)



    ich halte es für ebenso legitim, Inszenierungen, die den Menschen anscheinend immer noch etwas geben können, zu halten, bis sie den Punkt erreichen, an denen sie es nicht mehr tun (die Menschen es also nicht mehr sehen wollen).

    Meine volle Zustimmung! So etwas zu entscheiden ist eine Ermessensfrage und liegt in der Verantwortung der beteiligten Personen. :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

    Wenn du das meinst, lieber Holger, was im Booklet steht, dass er meint, in der Appassionata gebe es eine egoistische Aufgeblasenheit usw. dann frage ich mich, ob nicht er diese egoistische Aufgeblasenheit an den Tag legt.


    Lieber Willi, das ist nur ein Auszug aus dem längeren, wirklich geistvollen und lesenswerten Artikel von Gould. Er vertritt die These, daß Beethoven hier weniger innovative architektonische Ideen zu bieten habe und statt dessen mit einem sehr reduzierten motivischen Material arbeitet, das er dann musikalisch ausgiebig "ausbeutet" (das nennt er dann witzig wie er ist, "aufgeblasen") - was mehr über die Haltung von Beethoven zur Musik verrate, die weder die barocke der Fuge noch die des Rokoko sei. Natürlich hält er das für höchst originell, allerdings musikalisch weniger substantiell. Statt auf eine Aufnahme zu verzichten, "dekonstruiert" er statt dessen die Musik. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Glenn Gould macht in dieser Sonate ziemlich viel falsch von dem, was ein Pianist falsch machen kann, ich vermute bei seiner eigentlichen Potenz, dass er dies mit Absicht macht. Mir graust jetzt schon davor, wenn ich seine Appassionato besprechen muss.


    Genauso ist es, lieber Willi. Gould hat sich zur Pathetique, Mondscheinsonate und Appassionata ja geäußert, und zwar hier:



    Er hält (mit Ausnahme der Mondscheinsonate) diesen "populären" Beethoven eher für kompositorisch schwach. Deswegen werden diese für ihn im Grunde belanglosen Kompositionen auch gehörig gegen den Strich gebürstet. Das macht er allerdings mit einer höchst intelligenten Boshaftigkeit. Das Verrückte bei Gould ist aber, daß er es in den meisten Fällen dann doch schafft, einem überraschende Einsichten zu verschaffen. Ich werde mich damit also noch auseinandersetzen müssen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Vielleicht neige ich ja berufsbedingt dazu, die Dinge immer in größeren zeitlichen Zusammenhängen zu sehen. Aber ich würde eine Form wie Disney, die sich im 20. Jhs. verbreitet hat als extrem zeitgebunden ansehen. In ein paar hundert Jahren wird sich dann erweisen, wie allgemeinverbindlich sie wirklich ist.


    Wenn ich mich da mal einmischen darf, lieber JLang:


    Kulturelle Sachverhalte sind anders als logische in ihrem Verständnis doch immer zeitgebunden. Nehmen wir mal das Beispiel eines Bestseller-Romans oder eines Hollywood-Films. Der erfolgreiche Film wird überall auf der Welt von Millionen von Menschen gesehen. D.h. sein Inhalt ist offenbar allgemeinverständlich. Wenn ihn nun in 200 Jahren gar niemand mehr anschauen will, dann tut dies doch dieser Allgemeinverständlichkeit keinerlei Abbruch. (Genauso wenig wie ein populärer Schlager der 20iger Jahre zu einem unpopulären wird, nur weil ihn 100 Jahre später niemand mehr hört.) Eine Theater- oder Opernaufführung (nicht anders als der Film) wird letztlich für das Hier und Jetzt gemacht, für ein ganz bestimmtes Publikum. In 200 Jahren existiert das betreffende Opernhaus vielleicht gar nicht mehr. Theoretisch gesprochen: Man unterscheidet das Werk von den Modalitätern seiner Aufführung. Ich kenne bislang keinen Werktheoretiker (auch keinen erzkonservativen), der beanspruchen würde, daß eine Aufführung dieselbe überzeitliche Dauerhaftigkeit haben müßte wie das Werk selber. Das macht ja auch gar keinen Sinn. Denn das Publikum soll das Werk schließlich verstehen. Sein Verstehenshorizont ist aber immer kulturell und historisch geprägt - und darauf muß eine Aufführung Rücksicht nehmen. :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger