ZitatOriginal von Felipe II.
Ich sagte es ja schon öfter im Forum: HIP wäre für mich das, was Harnoncourt in den 60ern machte, nämlich Knabenchor plus Knabensolisten.
Lieber Felipe,
mit dieser Knabenchor und -solistenideologie ohne jede weitere Differenzierung desavouierst Du HIP. Wieso sollen Knabensolisten generell historisch informierte Praxis darstellen? Gehst du zur Wiege der (evangelischen) Oratorienmusik, nämlich nach Hamburg, dann stellt man fest, dass mit dem Aufkommen dieser "modernen", anspruchsvollen kirchlichen Figuralmusik die Knabensolisten den Anforderungen nicht mehr gerecht wurden. Nach erheblichen Kämpfen mit der konservativen kirchlichen Obrigkeit konnte der Cantor Cathedralis, Mattheson, immerhin einer der bedeutendsten Musiktheoretiker des Barock, um 1717 den Frauengesang in der Kirche durchsetzen. Seine Kritik an den herrschenden Zuständen fiel recht drastisch aus: Er beschreibt den Sopranisten "mit einem schwachen fistul, so ein alt Mütterchen singet, der die Zähne ausgefallen", den Altisten "mit einer kalblautenden Stimme" den Tenoristen, "der wie ein rauhstimmiger Distelfresser schreiet", den Bassisten "der das achtfüßige G in der Tiefe wie ein Maikäfer im hohlen Stiefel brummt, daß kaum dreißig Schritt davon ein schlafender Hase erwachen möge, hingegen das vierfüßige g wie ein indianischer Löwe schreiet".
Oder, um mal Händel zu nennen: Es ist bei ihm offensichtlich so, daß um die gleichen Partien Frauen, Kastraten und Knaben konkurrierten. Zwar hat er die Musik wohl "ad personam", also für jeweils bestimmte Sängerinnen oder Sänger geschrieben, wenn er aber die Besetzung wechseln mußte, hat er aus dem Pool der vorhandenen Sänger und Sängerinnen entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten die besten ausgesucht. Und diese Auswahl war eindeutig: in der überwiegenden Zahl der Fälle setzte er für Sopran und Alt Frauen ein. Beim Messias weisen die Besetzungslisten von 13 Wiederaufführungen bis 1759 im Sopran neben den Frauen nur drei Fälle auf, bei denen als Solisten auch Knaben eingesetzt wurden. Die Alt-Partie wurde in drei Fällen von Kastraten, nie von Knaben, ansonsten von Frauen gesungen. Lediglich für die Uraufführung sind neben der Altistin Maria Cibber auch zwei Countertenöre als Solisten dokumentiert, danach setzte er sie nie mehr ein.
Bei Bach ist das auch durchaus nicht so eindeutig, wie es manche Knabenstimmenfreunde gern darstellen wollen. Zumindest während seiner Zeit in Weimar und Köthen wurde seine höfische Vokalmusik wahrscheinlich überwiegend von Frauen gesungen. Sowohl seine erste Frau Maria Barbara als auch die zweite Frau Anna Magdalena waren Sängerinnen. Letztere hatte ihre Ausbildung zusammen mit ihrer Schwester bei der berühmten Weißenfelschen Hofsängerin Pauline Kellner genossen. Als sie 1720 nach Köthen kam, erhielt sie den hohen Rang einer Kammersängerin und das zweithöchste Gehalt nach J.S. Bach. Sie war gewissermaßen der Köthener Gesangsstar. Vermutlich sind nach 1720 die Sopranpartien der Bachschen weltlichen Kantaten in Köthen von ihr gesungen worden.
Ich vermute - kann es zwar nicht beweisen, glaube aber nicht, dass jemand das widerlegen kann - dass eine Diskussion um die Alternative Knaben - Frauen - Falsettisten und Kastraten für einen Barockmusiker völlig unverständlich wäre. Diese Stimmen konkurrierten eher gleichberechtigt um die Rollen, ausschlaggebend waren ideologische Begrenzungen (Frauen in der Kirche!), ansonsten die zu singende Rolle und vor allem die Qualität der Sänger oder Sängerinnen.
Keineswegs spreche ich gegen Knabengesang, ich finde, das es immer wieder Knabenkünstler mit großen Können gibt, die anrührend musizieren. Aber häufig höre ich auch überforderte Kinder und finde es ihnen und den Zuhörern gegenüber als ziemliche Zumutung, sie anstelle gut ausgebildeter und auf Barockmusik eingestellter Frauen zu präsentieren.
Was mir am besten gefallen würde, wäre eine rollengerechte Besetzung. Also z.B. die Mutter Gottes im Weihnachtoratorium ("schlafe mein Liebster") mit einer Frau, den heiligen Geist in einigen Kantaten mit einem Countertenor, allegorische Frauenfiguren wie Tochter Zion (Matthäuspassion) oder liebende Seele mit Frauen. Unmöglich die Besetzung der hocherotischen Liebesduette z.B. in der Kantate "Wachet auf" mit Knaben. Ansonsten aber, wie gesagt, viele Sachen, bei denen mich Knabenkünstler sehr anrühren können.
Beste Grüße
Manuel García