Was die Punkte betrifft, die hier als Kriterien für eine "sakrosankte" Stimme angeführt werden, finde ich, dass einige dieser Punkte als Kriterien durch frag-würdig sind und daher als Kriterien für "sakrosankte" Sänger/innen bzw. Stimme zu diskutieren wären:
Es geht dabei um folgende Punkte:
ad. Schönes Timbre
Ist das nicht auch eine Frage des persönlichen Geschmackes?
Neulich habe ich eine Sendung über Tenöre gehört (Gegenwart) und die drei Sänger, die da präsentiert wurden, haben mich eher gleichgültig gelassen, obwohl sie zurzeit durchaus als die Stars von Morgen gehandelt werden. Sie hatten alle drei auch sehr hübsche, angenehme Stimmen, aber keine einzige konnte mich tatsächlich fesseln.
Daneben gibt es eine Reihe von Sängern/innen (Maria Callas, Boris Christoff, Marilyn Horne, um nur ein paar Beispiele zu nehmen), deren Stimmen sicher nicht unbedingt das waren, was ich als schönes Timbre bezeichnen würde: sehr interessant, sehr individuell, höchst faszinierend, aber tatsächlich schön?
ad. Wahl des richtigen Faches
Die Fächereinteilung, wie wir sie heute kennen, hat sich erst im 20. Jahrhundert herauskristallisiert.
Noch im 19. Jahrhundert schrieben die Opernkomponisten/innen ihre Rollen meistens mit Blick auf die Stimmen von Sängern/innen, die für die geplante Aufführung vorgesehen waren und mit denen sie beruflich (und auch privat) zusammenarbeiteten. (Siehe Rossini - Colbran)
Weiter kommt hinzu, dass heute sehr viel Quellenkritik betrieben wird und dabei wird durchaus versucht auf die ursprünglichen Opern- und Rollenversionen zurückzugreifen und von jenen Aufführungstraditionen abzuweichen, die sich im Laufe von Jahrzehnten entwickelt hatten.
Dazu ein Beispiel: Noch bis in die 1980er-Jahre war es durchaus üblich in "Don Giovanni" die Rolle der Zerlina mit einer Soubrette oder Koleratursoubrette, jedenfalls mit einem Sopran zu besetzen (meine erste Zerlina, die ich gehört habe, war Kathleen Battle, zum Beispiel). Erst seit den 1990er-Jahren wird diese Figur wieder mit Mezzosopran besetzt, wie dies auch vom Stimmumfang vorgesehen ist.
Daneben gibt es viele Fälle von Sängern/innen, die zwar auch Rollen gesungen haben, die nicht ideal für ihre Stimmen gewesen sind, aber die Ergebnisse waren zumindest interessant, und wie Jens Malte Fischer in seinem Sängerlexikon meint: Solange sich jemand damit nicht die Stimme zerstört hat, findet er das nicht so schlimm. Dem kann ich nur zustimmen.
Was ist das richtige Fach für eine/n Sänger/in? Nach welchen Kriterien richtet sich das?
Ich würde hier durchaus davon ausgehen, dass dies von Sänger/in zu Sänger/in beurteilt werden sollte.
ad. Musikalische Korrektheit
Die hängt wieder vom Zeitgeschmack hat.
Während es seit den 1980er-Jahren üblich wurde, dabei sehr strenge Maßstäbe anzulegen, war es bis in die 1960er-Jahre durchaus in Ordnung, wenn Sänger/iinnen sich eine Rolle, die nicht so ganz zu ihrer Stimme passte, etwas diesbezüglich "richteten".
Der Tenor Anton Dermota schreibt in seinen Erinnerungen beispielsweise, dass es der Dirgent, unter dem er den Lenski (in "Eugen Onegin") das erste Mal sang, war, der für ihn selbst die Noten ein wenig geändert hat.
ad. Keine Skandale
Skandale sind auch wieder so eine Sache, denn daran ist normalerweise nicht nur der/die Künstler/in beteiligt, sondern auch andere Personen (Journalisten/innen, Leserschaft, Opernhaus etc.)
Ob etwas zu einem Skandal ausartet, hängt auch davon ab, ob andere daran Interesse habe, dass es einen Skandal gibt.
Als Netrebko und Villanzon letzten Sommer bei den Salzburger Festspielen wegen stimmlicher Probleme absagten, wurde versucht, daraus für Netrebko einen Skandal zu machen, während bei Villanzon eher Verständnis und Besorgnis vermittelt wurde. (Allerdings hatte Netrebko auch Verteidiger.)
Bei Maria Callas, der viele Skandale nachgesagt werden, wissen wir heute, dass ein Teil davon keineswegs ihre Schuld war und dass dabei auch das zeitliche Umfeld eine Rolle gespielt hat.
Insofern haben manche Sänger/innen, die tatsächlich keine Skandale verursachten, vielleicht auch nur Glück gehabt. (Weil niemand Interesse hat, aus ihrer Scheidung beispielsweise einen Skandal zu machen, weil das niemanden interessierte oder sich das Publikum nicht wirklich darum gekümmert hat.)