Nach mittlerweile 77 Beiträgen wird man das hier wohl auch noch verkraften:
Jechtingen vs. Beaune vs. Matthäus
Das müsst ihr mir jetzt echt glauben: Ich wollte dieses Mal wirklich keine Wein-Musik-Notiz schreiben, aber dann kam ein gewisser Helmut Müller-Brühl, was soll man da machen. Ursprünglich ging es nur um die folgenden Kandidaten:
2000 Jechtinger Eichert Spätburgunder Spätlese tr., Bercher (Burkheim/Kaiserstuhl)
13 % Alk., 14 Euro
2000 Beaune 1er Cru Montrevenots, Dubreuil-Fontaine (Pernand-Vergelesses/Burgund)
13 % Alk., 13,50 Euro
Matthäus-Passion, Johann Sebastian Bach
Gächinger Kantorei Stuttgart, Helmuth Rilling
Zur Motivation:
Die 2000er waren beide fällig. Es ist ein eher schwieriger Jahrgang, der nicht ewig lagerfähig ist. Der Beaune war vor 1 1/2 Jahren aber überraschend gut, so dass ich als Kaiserstuhl-Fan fast ein schlechtes Gewissen hatte, den Jechtinger dagegen zu stellen, aber man muss das sportlich sehen, mal gewinnt der eine, mal der andere, und in 1 1/2 Jahren kann sich viel ändern. Die Matthäus-Passion war bisher eines meiner „Problemkinder“, ich überblickte das Werk einfach nicht richtig, die beiden letzten Anläufe hatte ich sogar nach wenigen Minuten abgebrochen, weil die Konzentrationsfähigkeit fehlte. Hier sieht man übrigens wieder, wie die Symbiose „Weinvergleich und Musikgenuss“ die Sache erleichtert: Durch die Beschäftigung mit den Weinen werden die Sinne geschärft, man ist insgesamt viel aufnahmefähiger für Sinneseindrücke.
Phase 1:
Der Jechtinger hat eine „mega-offene Nase“ (so steht’s auf meinem Zettel), sprich: er ist sehr aromatisch, Richtung Walderdbeere, und man denkt sofort an „Spätburgunder, badische Art“. Im Mund sehr dicht, süßlich, Leder, Walderdbeere, Hauch Mineralität, der Wein hat Biss, die Süße stört ein klein wenig; 87 Punkte. Der Beaune präsentiert sich in der Nase etwas zurückhaltender, es geht in Richtung Himbeere. Im Mund dann ganz klar Himbeere, die Frucht ist klar und eindringlich, der Wein wirkt fein, elegant; 90 Punkte. „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“. Da geht’s gleich voll ab. Die Aufnahme ist mit Helmuth Rilling und der Gächinger Kantorei Stuttgart. Den Dialog der beiden Chöre erkenne ich mit Hilfe des Textbuches. „Blute nur, du liebes Herz“: sehr schöne Sopranarie.
Phase 2:
Der Jechtinger bleibt unverändert. „Warum gibt es im badischen Spätburgunder keine Himbeere?“ (Steht so auf meinem Zettel). Die 87 Punkte bleiben. Der Beaune scheint jetzt auch einen Hauch Süße zu haben, ist aber insgesamt einfach feiner (u.a. wegen der Himbeere) als der Jechtinger. 89 Punkte (zu 90 fehlt der letzte Tick an Konzentration). „Ich will bei meinem Jesu wachen“: Tenor mit Chor, mit Oboe, sehr stark. „So ist mein Jesus nun gefangen“: Sopran-Alt-Duett mit Chor, genial. Man sieht aber, dass es eigentlich nicht lohnt, solche Primitiveindrücke öffentlich zu diskutieren. So beendete ich die Matthäus-Passion am ersten Abend mit der ersten Teil und trank die Weine an den beiden anderen Abenden mit anderer Musik (die hier nicht weiter diskutiert werden soll, ich meine, es wäre einmal Liszt und einmal Haydn gewesen).
Phase 3:
Am 2. Tag präsentierte sich der Jechtinger kräftig, sehr reif, dicht und erinnerte etwas an Hegers 99er Mimus, ohne allerdings dessen Eleganz zu haben. 87 Punkte. Die Farbe ging übrigens in Richtung Rotbraun, was ebenfalls auf fortgeschrittene Reife schließen lässt, im Gegensatz zum Beaune, dessen Farbe man als Kirschrot bezeichnen könnte. Der Beaune wirkte einfach jünger und feiner, mit einer sehr schönen Himbeerfrucht. Am 3. Tag hatten beide Weine etwas nachgelassen, wenngleich die Charakteristik der beiden ersten Tage blieb, so dass die Gesamtwertung von 87 (Jechtinger) bzw. 89 Punkte (Beaune) beibehalten wurde.
Kritiker könnten jetzt sagen, dass der Abstand aufgrund der Beschreibung eigentlich größer sein müsste, aber im Moment hat der Jechtinger trotz der hohen Reife halt doch viel Spaß gemacht und mit seiner Dichte und Opulenz durchaus beeindruckt. Ein Burgund-Freak, der die badischen Weine nicht kennt, wird damit allerdings seine Probleme haben. Interessant ist übrigens, dass Berchers Spätburgunder vom Jechtinger Eichert tendenziell etwas mehr Restzucker zu haben scheinen als jene vom Burkheimer Feuerberg, vielleicht kam daher auch der Eindruck von Süße (mit der ein Burgund-Freak Probleme haben wird). Die Beobachtung gründet sich allerdings nur auf 3 unterschiedliche Jahrgänge und muss daher noch durch weitere Infos verifiziert werden. Interessant ist die Schwankungsbreite in der Qualität der 2000er roten Burgunder. Ich hatte schon doppelt so teure von wesentlich renommierteren Erzeugern als Dubreuil-Fontaine, die gerade mal auf 86 Punkte kamen. Und der doppelt so teure 2000er Corton Grand Cru desselben Erzeugers ist zwar konzentrierter, aber nicht annähernd so elegant wie der Beaune. Die Burgunder würden jetzt sagen: „C’est le terroir.“
So, das wär’s eigentlich gewesen, wenn ich zu Ostern nicht in meine badische Heimat gefahren wäre. Dies war nämlich mit einer routinemäßigen Überprüfung der Spielpläne des Badischen Staatstheaters Karlsruhe und des Festspielhauses in Baden-Baden verbunden. Und was sah ich da: Matthäus-Passion am Karfreitag im Festspielhaus, mit Helmut Müller-Brühl, Kölner Kammerorchester, Dresdner Kammerchor. Da musste ich hin.
Schon beim Eingangschor war klar, dass die Entscheidung richtig war. Chor und Orchester sangen bzw. spielten verhaltener als in der Rilling-Aufnahme, aber dafür wirkte das Ganze sehr transparent. Und es war natürlich toll, von der 3. Reihe (seitlich) aus zu sehen, wie dezent und doch klar Müller-Brühl die einzelnen Instrumente und Chorgruppen dirigierte. Endlich nahm ich auch die Struktur des Werkes auf: Der Evangelist schildert die Handlung, Solisten und Chor kommentieren, die Gemeinde (in Form eines Chorals) meditiert über das Geschehen. Bachs Instrumentation ist unheimlich abwechslungsreich, einmal spielen nur 2 Flöten, dann nur 2 Oboen, dann nur die Streicher, 2 mal auch mit herrlichem Violinsolo (speziell das erste wurde genial gespielt, von der Chefgeigerin des linken Orchesters, während ich beim 2. Solo das Spiel die Chefgeigerin des rechten Orchesters etwas zu affektiert fand). Direkt vor mir auf der Bühne saßen 2 Herren mit Blockflöten. Der eine hatte nur ein zerknittertes DIN-A5-Papier auf dem Pult liegen. Lange Zeit dachte ich, dass die beiden sich nur mit einem hübschen Trick einen besonders guten Platz für das Konzert ergattert hätten. Aber irgendwann waren sie dran (die genaue Stelle hab ich nicht im Kopf) und spielten so perfekt und schön, dass man meinen könnte, das wäre so geplant gewesen, sie hätten es vorher gar geübt. Im 2. Teil waren sie nicht mehr gesehen. Im Übrigen kam an keiner Stelle der 3 1/2 Stunden irgendwelche Langeweile auf, und das will bei mir was heißen. Kurz zu den Sängern:
Evangelist (Markus Schäfer): schnitt Grimassen, erzählte sehr lebendig, der war damals mit Sicherheit dabei, anders kann ich mir das nicht vorstellen. Man verstand jedes Wort, der Mann ist klasse, er war mein Favorit an dem Abend.
Jesus (Reimund Nolte): auch sehr gut, hatte bei mir aber einen schweren Stand gegenüber dem Evangelisten
Marianne Beate Kielland (Alt): für mich die beste Sängerin des Abends, sehr gefühlvoll
Johanette Zomer (Sopran): gut, kam aber an die Kielland nicht ran (subjektive Sicht meinerseits)
Markus Brutscher (Tenor): interessante Stimme, „wie Mann von der Straße“, wirkte sympathisch, bei den technisch schwierigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass es auch souveräner gehen könnte
Thomas E. Bauer (Bass): sang spannend, mitreißend, sehr gut, erinnerte somit stilistisch an den Evangelisten, ohne dessen Gesamtleistung zu erreichen.
Insgesamt hatte ich den Eindruck dass die Interpretation der Matthäus-Passion von Helmut Müller-Brühl (gibt es auch auf CD von Naxos, mit fast der gleichen Besetzung wie am Karfreitag in Baden-Baden) von hohem künstlerischen Wert ist, auch wenn ich das fachlich natürlich nicht wirklich beurteilen kann. Der Abend war jedenfalls subjektiv genial, und ich fände es interessant, wenn jemand seine Meinung zu den genannten Künstlern bzw. der CD-Einspielung kund tun würde.
Thomas Deck