Guten Abend zusammen,
lieber Peter:
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Nun, dem Pessimisten muss dann ja wohl der Optimist antworten
Prima, so vergehe ich nicht in Truebsal 
Auch wenn ich, um meinen Ursprungsbeitrag nicht noch deutlich laenger werden zu lassen, an der ein oder anderen Stelle ein wenig schwarz-weiss dargestellt (und, bei einem fuer mich emotional besetzten Thema sei mir dies verziehen, auch gelegentlich an der Grenze zur Polemik vorbeigeschrammt bin) habe, freue ich mich stets ueber inhaltlich spannende Diskussion.
Du sprichst in Deinem Beitrag -so wie ich ihn verstehe- an einigen Stellen, losgeloest vom reinen Lehrinhalt methodische Defizite an, die zweifelsfrei ein ganz grosses Problem in der Schule darstellen, naemlich zB das "Abholen" der Schueler bei ihrem individuellen Wissensstand, die individuelle Foerderung und letztlich das individuell bestmoegliche Hinfuehren zu einem uebergeordneten Lehrziel.
Wer "Stoff durchpeitscht", darf sich nicht ueber demotivierte Schueler wundern - voellig egal, ob es Mathe, Deutsch, Kunst, Physik oder Musik ist. Wer als Lehrer von seinem Fach begeistert ist und es versteht, andere mitzureissen, kann hingegen in jedem Fach gute Erfolge erzielen - nicht zuletzt, indem er den Schuelern vermittelt, was sie koennen statt was sie nicht koennen. Sicher auch nicht bei jedem Schueler, aber doch moeglicherweise bei der Mehrheit.
Leider gilt im Verhaeltnis der Kultuspolitik zu den Lehrern Aehnliches wie im Verhaeltnis der Lehrer zu den Schuelern: Man kann "per Dekret" aus einem ueberzeugten Frontal-Einpeitscher keinen empathischen Superlehrer machen, wenn ein Lehrer kooperative Lernformen schlecht findet, wird er sie nie authentisch anwenden. Obgleich die Politik das Vermittlungsproblem erkannt und an den Rahmenbedingungen massiv positiv gearbeitet hat, besteht ein grosses Transformationsdefizit.
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... Von Charpentier war keine Rede, sondern von Musik.
... Charpentier, Britten, Honegger, Bartok, Schnittke, de Lasso - bunt gemischt einige Exzerpte aus den Vorschlaegen innerhalb dieses Threads. Mir liegt es fern, hier jetzt ueber die Eignung einzelner Komponisten fuer eine "musikalische Grundausbildung" spekulieren zu wollen, ich finde die bisherigen Vorschlaege auch wuenschenswert und prima gelungen, ich halte sie nur fuer realitaetsfern. Zumindest, wenn wir ueber einen "Pflichtkanon" sprechen, der fuer alle verbindlich und notenwirksam ist.
Ich bin jederzeit sofort dafuer, Kindern Moeglichkeiten an die Hand zu geben und die ueber das alltaegliche Klingeltongeklimpere hinausgehende Vielfalt der Welt der Kunst angeleitet anzubieten.
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Es ist nur schon viel Kind aus dem Bade geschüttet worden mit einer Reformititis, die an technokratischen Zielen orientiert, die kindgerechten Zielsetzungen schon in der Primarstufe vermissen lässt.
Ich bin fest der Meinung, dass es weniger an den Zielen liegt als an der technokratischen, lieblosen Umsetzung eigentlich positiver Ziele. Allein in den Lehrplaenen fuer die Primarstufe stehen unglaublich viele tolle Dinge, die Kinder im Musikunterricht lernen, erfahren, aber vor allem auch selbst tun muessten... wie wenig davon im durchschnittlichen Unterricht wirklich geleistet wird, ist erschreckend, positive Ausnahmen gibt es natuerlich sicherlich.
Insbesondere ist es ja eine ausgepraegte Staerke der deutschen Politik, das Wasser auszuschuetten, das Kind in der Wanne zu lassen und sich dann zu wundern, dass es irgendwann friert und nicht sauber wird...
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Eines noch drauf: Sie kommen gar nicht in einen Einstellungstest, weil sie durch ihr Verhalten beim Vorstellungsgespräch schon durchs Sieb fallen. Die soziale Kompetenz ist nämlich der kognitiven noch um einige Grade unterlegen. Aber wenn man eben Fächer, die soziale Kompetenz (aus)bilden in die Peripherie schießt, ist das die logische Konsequenz.
Dem schliesse ich mich mit einem klaren "jein" an 
Inhaltlich stimme ich voellig zu, nur dass ich denke, dass es in der Arbeitswelt durchaus divergente Prioritaeten gibt. Das von Dir benannte Problem: "Ohne Sozialkompetenz keine Einstellungschance" ist schon keins mehr vom untersten Qualifikationsniveau, auf dem sich einfach erschreckend viele Jugendliche befinden.
Soziale Kompetenzen und "Kultur" (was auch immer man darunter fasst) werden nach meiner Erfahrung mit zunehmendem Qualifikations- und Abstraktionsgrad des Berufs wichtiger.
Andersherum ist es eben so, dass in den, hm, "robusteren" Berufen Unternehmen mit dem blossen Minimum zufrieden waeren - eben: Lesen, Schreiben, Rechnen. Unternehmen sind oft bereit, Kindern Sozialkompetenz beizubringen, aber nicht LSR.
Ich bin fuer ein Unternehmen taetig, das von hochanalytischer Kopfarbeit bin zur robusten Kraftarbeit ein recht breites Taetigkeitsspektrum bietet, demgemaess ist das Mitarbeiterspektrum sehr heterogen und auch unsere Auszubildenden und Neueingestellten sind sehr bunt strukturiert.
Wenn es um die Einstellung von Auszubildenden geht, steht, was die technischen Ausbildungsberufe angeht, das Vorhandensein von Basiskompetenzen wie lesen und schreiben ganz klar im Fokus. Das soziale Gefuege ist natuerlich unabdingbar, das ruettelt sich aber meist ganz "herzlich" von allein im Rahmen eines gruppendynamischen Prozesses ein, wenn Einzelne "auf dicke Hose machen"; aber wer als Mechatroniker ein Problem beim Kopfrechnen hat - hat ein Problem.
Andererseits bewarben sich mit schoener Regelmaessigkeit fuer unsere kaufmaennischen Ausbildungsplaetze nette, liebe, bestimmt sehr umgaengliche Maedels, die aber nach der 10. Klasse Aufgaben der Art: "Susi geht mit 10 Euro in die Stadt, kommt mit 4 Euro zurueck, wie viel hat sie ausgegeben?" nicht loesen konnten. Sorry, das zu kompensieren kann nicht Aufgabe eines Unternehmens sein. Da wird auf die Einstellung ohne Diskussion verzichtet.
Bei der Einstellung von Akademikern wiederum schaut man im Assessment Center mittlerweile kaum noch darauf, ob da wirklich der Kurs "Analysis 1" mit gutem Erfolg bestanden wurde, stattdessen unterhaelt man sich da mal locker ueber einen Artikel im FAZ-Feuilleton und schaut, wie gut derjenige mitreden kann. Dasselbe Wissen waere uns bei dem Mechatroniker-Azubi, wenn auch sehr beeindruckend, so fuer die Einstellung doch total egal gewesen.
Das heisst in meiner Schlussfolgerung eben sequentiell:
- In den verschiedenen Schultypen jeweils ein "Rundumprogramm" (wenn auch verschiedener Tiefe) zu lehren, waere ein absolut wuenschenswertes Ziel.
- Das halte ich fuer unrealistisch und konstatiere, dass man realiter aus dem, was eigentlich auch Hauptschuelern vermittelt werden muesste, eine Auswahl treffen muss. Die Ursachen dessen (obsolete Lehrplaene, lustlose und demotivierende Vermittlung, soziale Rahmenbedingungen der Schueler, allgemeine Kulturmuedigkeit der Gesellschaft, ...) betrachte ich erst mal als exogen und somit nicht kurzfristig im Modell aenderbar.
- Wenn schon nur eine Auswahl der eigentlich sinnvollen Inhalte vermittelt werden kann, ist es widersinnig, Dinge, die notwendig sind, damit Hauptschueler berufsausbildungstauglich werden, auszulassen, um ihnen ein besseres kulturelles, ethisches oder anderweitig humanistisches Fundament zu geben.
Schwierig, keine Frage. Und eine allgemeingueltige "beste Loesung" gibt es eh nicht.
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Jedes Potenzial muss erst einmal geweckt und dann entwickelt werden.
Auch hier volle Zustimmung im Grundsatz, aber hier fehlt mir in der arg gleichmacherischen Schulpolitik die Erkenntnis, dass wir -voellig wertfrei- eben nicht alle das gleiche Grundpotential in allem haben.
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Kontrapunkt:
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dann ist also das Heranführen an klassische Musik, um es zugespitzt zu formulieren, durchaus notwendig, um dem in aller Welt geschätzten deutschen Humankapital den letzten Schliff zu verpassen?
Das glaube ich nicht. Ein Diplom-Ingenieur wird in einem Bewerbungsgespräch wohl kaum durch seine Liebe zu Beethoven den Zuschlag erhalten.
Warum muss man denn die Absicht, Schülern einen weiteren musikalischen Horizont aufzuzeigen, immer wieder auf die Bedürfnisse des Wirtschaftsstandorts rückbinden?
Moeglicherweise war mein Beitrag in dieser Hinsicht ein wenig missverstaendlich.
Zunaechst dies vorab: Ich schliesse mich Walter in Bezug auf die Anforderung "Bildung" an und lenke den Blick des geneigten Lesers zusaetzlich einige Zeilen zurueck nach oben zum Thema "Assessment Center". Mit anderen Worten: Doch, natuerlich ist "Kultur" Einstellungsfaktor, mit steigender Hierarchieebene ein deutlich wichtigerer als Fach- oder Expertenwissen.
Aber zurueck zum Thema:
Ich persoenlich trauere der klassisch-universellen "Rundumbildung" sehr deutlich nach - und habe mich seinerzeit zur Gymnasialzeit ebensogern mit Informatik wie mit Altgriechisch vergnuegt. Ich bin somit fest davon ueberzeugt, dass eine technokratische "Lehrplanumsetzungsstrategie" zu kurz gehuepft ist.
Natuerlich geht es um die charakterliche und ethische Praegung und kulturelle Bildung junger Menschen. Zumindest soweit das moeglich ist, wo von den Eltern kein entsprechendes Fundament gelegt wird - das kann eine Schule nicht ausgleichen und das kann auch nicht Aufgabe der Schule sein.
Mein Ansatz war ganz im Gegenteil zum moeglicherweise Vermuteten, gedanklich den "kanonischen Ansatz" und den "berufszentrierten Ansatz" einander naeher zu bringen.
Denn selbst wer Schule als rein berufsvorbereitende Institution ansieht, wird in der heutigen Zeit damit konfrontiert, dass "der ganze Mensch" deutlich wichtiger wird als dessen Dreisatz- oder Geschichtskenntnisse.
Mit anderen Worten: Wir sollten alle nicht Beethoven kennen, weil die Wirtschaft es so will - sondern wir sollten uns freuen, dass auch "die Wirtschaft" langsam erkennt, dass die wertvollsten Arbeitnehmer diejenigen sind, die mehr koennen als Zahlen aufaddieren.
Beste Gruesse
epi