Beiträge von Loge

    Den wohl insgesamt besten Grundstock bildet "The Chopin Collection - Artur Rubinstein". Darum kommt man bei einer eingehenden Befassung mit Chopin nicht herum. Diesen Grundstock solltest Du, ganz so wie von Johannes Roehl vorgeschlagen, gezielt ergänzen. Einiges ist ja schon in der DG Box enthalten wie z. B. Etüden mit Pollini. Auch die Orchetserwerke sind m. E. in der DG Box sehr gelungen. Darauf packst Du gleichwohl noch die Klavierkonzerte mit Zimerman und dem Polnischen Festivalorchester, die leider nicht in der DG Box enthalten sind, und schon bist Du bestens ausgestattet.


    Loge

    Zitat

    Aber ist es denn nicht merkwürdig, daß sich Komponisten wie Wagner oder auch Chabrier einer Zeit annehmen, OBWOHL sie wissen, daß das eigene kulturelle Denken mit einfließt?


    Meines erachtens nicht, weil sie sich regelmäßig gar nicht einer bestimmten Zeit annehmen, sondern den immergleichen menschlichen Themen wie Liebe, Tod etc.


    Zitat

    Die lebensspendende mythische Bedeutung - das war der eigentliche Aufhänger, an dem ich mich "gerieben" habe - wie sah denn die Inszenierung zu Wagners Zeiten aus? Was kam denn in Wagners Zeit eine ähnliche Rolle zu wie die des Rheins zu germanischen Zeiten? Doch nicht immer noch der Rhein, oder? Zu Wagners Zeiten gab es ja sicher bereits andere lebensspendende Quellen.


    Das ist wohl unerheblich, weil es eben nicht um den Rhein als Fluss geht.


    Im übrigen gibt es zwei Übersetzungsmöglichkeiten für einen modernen Regisseur: Zum einen kann er auf die eigentliche Bedeutung des Rheins im Ring zurückgehen und ein adäquates Ausdrucksmittel für die heutige Zeit dafür verwenden. Zum anderen kann er aber auch die von Wagner (vor)gewählte Form für diesen eigentlichen Bedeutungsinhalt als gegeben annehmen (Rhein) und in die heutige Zeit übersetzen.


    Zitat

    Noch eins, was mir gerade so durch den Sinn geht: Wenn Wagners Darstellung der germanischen Mythenwelt von seinem eigenen Denken und das seiner zeitlich-kulturellen Umstände beeinflusst ist, zu Wagners Zeiten auf der Bühne als eine vom 19. Jhd. geprägt Vorstellung der germanischen Mythenwelt ist - soweit ich mich erinnere, waren ja die Kostüme so angelegt, wie man sich im 19. Jhd. eine eben solche germanische Mythenwelt vorstellte - wäre es dann nicht konsequenter und richtiger unsere heutige Vorstellung von der germanischer Mythenwelt auf die Bühne zu stellen also die germanische Heldenwelt aus der Sicht des 21. Jhd. ganz geprägt von unserem heutigen kulturellen Denken und Fühlen und nicht ein Abbild des 21. Jhd. selbst ??


    Wiederum geht und ging es ihm nicht um die germanische Zeit und Bärenfelle. Bekanntlich war Wagner von den Kostümierungen so sehr abgeschreckt, dass er empfahl, die Augen zu schließen und nur zu hören. Die Herausforderung kann daher auch nicht darin bestehen, Germanenkostüme nach heutigem Verständnis zu entwickeln.


    Gruß


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Wulf,
    das ist eine Frage des Ansatzes, wie Du einen Mythos erzählst. Schon Wagner übersetzt ihn ja - nämlich für seine Zeit. Er kann gar nicht anders, denn es ist ein Irrglaube, daß man eine Zeit bzw. eine Kultur, in der man selbst nicht lebt, durch erforschtes bzw. erlesenes Wissen erfährt und wiedergeben kann. Ganz automatisch fließt das eigene, durch die eigenen Zeit- und Kulturumstände geprägte Denken mit ein.
    Wenn nun aber Wagner schon "übersetzt" hat, dann ist es legitim, wenn ein Interpret auch Wagner "übersetzt". Andernfalls müßte man nicht etwa eine germanische Helden-Welt auf die Bühne stellen, sondern eine germanische Heldenwelt aus der Sicht des 19. Jahrhunderts.
    :hello:


    Edwin Baumgartner bringt es meines Erachtens auf den Punkt. Es geht nämlich allein um die Erzählung eines Mythos (nicht die über einen Fluss oder Rassenunruhen etc.), und Wagner erzählt ihn - wobei er die Erzählung zur Unterstreichung der Zeitlosigkeit ihrer eigentlichen Aussage in eine mythologische Zeit versetzt - aus der Perspektive eines deutschen Romantikers des 19. Jahrhunderts. Allein der hervorgehobene Satz ist daher wohl unrichtig, weil es Wagner eben gar keine bestimmte Zeit/Epoche wiedergeben will. Das wäre auch banal.


    Gruß


    Loge

    Zitat

    sondern für einen berechtigten und gültigen und zudem hochreflektierten Versuch einer Annäherung


    Lieber Medard,


    dem stimme ich zu. Meine Formulierung der "fragwürdigen Beschwörung" war etwas zu polemisch geraten. Ich nehme sie zurück. Wir brauchen sie auch nicht, denn Deine Umschreibung des Problems empfand ich als ganz ausgezeichnet und besser. :jubel:


    Gruß


    Loge


    Das ist aus meine Sicht - wenn ich es richtig verstehe - vollkommen richtig.


    Ein historisierendes Interpretieren ist letztlich fragwürdige Beschwörung der Vergangenheit. Das echte Interpretieren ist dagegen immer wieder neu vollzogene Vergegenwärtigung eines Zeitlosen im Kunstwerk. Zwar kann man sich über den Weg des Historisierens annähernd vorstellen, wie ein bestimmtes Werk für das Ohr damals geklunden hat. Um aber den vom Komponisten damals gemeinten Sinn und die beabsichtigte Wirkung heute lebendig nachzuerleben, ist es für den Interpreten notwendig, gewisse Übersetzungsleistungen zu vollbringen, eben weil das natürliche Niveau, von dem aus wir ein Werk erleben, ein ganz anderes geworden ist und dies berücksichtigt werden muss. Dabei darf natürlich das ursprüngliche Niveau, aus dem das Werk hervorgegangen ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Es tritt jedoch hinter dem tragenden Grund des Werkes in den Hintergrund. Diesen vor allem muss der Interpret für sein jeweiliges Publikum erfahrbar machen. Soll heißen: Wenn es etwa darum geht, die Ouvertüre des Figaro zu interpretieren, so wird eine Vergegenwärtigung dieses Werkes in der heutigen Zeit verfehlt, wenn über die vermeintlich historisch begründete Hervorhebung einzelner Motive oder gar Noten der "große Schwung" der Einleitung zu einer ausgelassenen Buffo-Oper für heutige Ohren verloren geht, wie dies in Salzburg zu hören war. Andererseits ergibt sich hieraus, auch hierauf hat Klawirr richtig hingewiesen, eine Rechtfertigung für das Regietheater: Der Rhein des Rheingolds kann eben, um seine mythische, lebenssichernde Bedeutung, die ihm in alter Zeit zukam, adäquat für die heutige Zeit verständlich zu machen, szenisch sinnvoll z. B. als Wasserkraftwerk dargestellt werden.


    Loge


    Lieber Edwin Baumgartner,


    ich finde, dass man das nicht so skandalisieren muss, wie Du des andeutest. Es ist völlig normal, dass Dirigenten sich die Einspielungen von Kollegen anhören, ja diese genau analysieren und dabei Neues über ein Werk lernen. Zu allen Zeiten haben Musiker Musikern zugehört und dabei vieles für die eigene Interpretation gelernt. Dazu ging man früher notwendig ins Konzert. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit kann sich ein Dirigent die Interpretation eines Kollegen eben auch nach Hause holen und dort analysieren. Er kann so sogar Kollegen zuhören, die lange nicht mehr leben und vielleicht Zeitgenossen des Komponsiten waren. Ich würde jedem jungen Dirigenten empfehlen, sich beim Einstudieren z.B. einer Verdi Oper die entsprechende Einspielung Toscaninis zu beschaffen. Das ist doch eine unschätzbare Quelle für das Werkverständnis. Und es schließt ein eigenes Partiturstudium und weitergehendes Quellenstudium gar nicht aus.


    Problematisch wird es nur, wenn ein Dirigent meint, sich auf das Abhören von CDs beschränken zu können. Da kann natürlich kaum etwas Vernünftiges herauskommen. Völlig auszuschließen wäre aber selbst das nicht, wenn das Orchester das Werk gut kennt und der Dirigent eine hinreichende Begabung und solide Grundausbildung hat.


    Und wenn es wirklich so sein sollte, dass Harnoncourt neben seinem intensiven Partitur- und Quellenstudium keine CDs anderer Kollegen anhört, so vielleicht deshalb, weil er das entsprechende Werk als Orchestermusiker lange genug unter berühmten Dirigenten kennengelernt hat und die zusätzlich Hörerfahrung nicht mehr braucht.


    Gruß


    Loge

    Im Feuilleton der gestrigen FAZ hat der Musikredaktuer Dirk Schümer einen Betrag zur Stadt Parma als "Mekka der Verdi Forschung" und Geburtsstadt Toscaninis verfasst.


    Darin erinnert uns Schümer zum einen daran, wie sehr die Karriere und das Nachleben eines Dirigenten von der Möglichkeit der technischen Aufzeichnung seiner Interpretationen geprägt war und ist. Und er verdeutlicht dies unter Berufung auf den Parmeser Musikwissenschaftler Marco Capra am Fall des Dirigenten Cleofonte Campanini, der wie Toscanini 1860 in Parma geboren wurde, zu Lebzeiten ebenso berühmt wie Toscanini gewesen sei, jedoch das Pech hatte, bereits 1919 als Leiter der Chicagoer Oper zu versterben, so dass er an dem in den 1930er und 40er Jahren einsetzenden Schallplattenboom nicht mehr teilhaben konnte. Wie stark wiederum Toscanini von dieser Entwicklung profitierte, hat Joseph Horowitz in seinem Buch Unterstanding Toscanini dargestellt. Über Campanini hingegen kann man heute nur sehr wenig an Material finden. An Tonaufnahmen gibt es wohl nur einige orchestrale Liedbegleitungen der Sängerin Luisa Tetrazzini in der Reihe Prima Voce (Naxos).


    Zum anderen zitiert Schümer Capras These vom Mythos der unbedingten Partiturtreue Toscaninis: "Toscanini dirigierte letztlich alles, wie er es wollte. Bei Debussy veränderte er die Partitur regelrecht, aber weil der Dirigent damals schon berühmter war als der Komponist, ließ Debussy es eben geschehen". Ich habe darauf hin, nochmals die Einspielungen Tocsaninis der von Brahms 1. Sinfonie und Beethovens 5. Sinfonie durchgehört und konnte keine nennenswerten Abweichungen feststellen.


    Es würde mich interessieren, ob jemand im Forum andere Erfahrungen gemacht hat, die die These Capras stützen könnten oder sie ebenfalls widerlegen.


    Loge

    Lieber Edwin Baumgartner,


    ich glaube, die Begriffe und deren Verschiedenheit von "Hauptstimme mit Begleitung" hast Du Dir jetzt nochmal gründlich erarbeitet, so dass wir das jetzt auf sich beruhen lassen können.



    Zitat

    Mitunter habe ich den Eindruck, daß Karajan-Apologeten jede Bemerkung eines Karajan-Gegners automatisch als Kritik am Idol auffassen.


    Den Eindruck musst Du jedenfalls bei mir nicht haben, da ich kein Karajan-Apologet bin und Karajan nicht mein Idol ist. (Wenn Du weiter so unsachlich und ad personam "argumentierst", wirst Du es aber auch nicht mehr.) Ich meine, dass so große Musiker wie Karajan oder Boulez Apologeten wie uns gar nicht nötig haben. Ich übrigen sehe ich in Dir auch keinen Karajan-Gegner. Ein Künstler kann sich, so meine ich, gar nichts Schöneres wünschen, als dass seine Kunst (sogar noch lange nach seinem Ableben) so intensiv von anderen rezipiert und diskutiert wird. Und dass es dabei - wie überall in der Kunst - unterschiedliche Ansichten und Ansätze gibt und geben muss, dass, lieber Edwin Baumgartner, wissen große Künstler sehr genau. Es macht sie geradezu aus.


    Zu Deinen Ring-Anmerkungen:



    Zitat

    meilenweit entfernt

    Zitat

    nicht aber strukturell so wahnsinnig neu.


    Mit solch prekären Hinweisen werden wir kaum zu einer sinnvollen Diskussion über die unterschiedliche Realisierung der Ring-Partitur durch Karajan und Boulez gelangen.



    Zitat

    Karajans "Ring" ist, auch wenn es die Apologeten unbedingt so wollen, keineswegs "modern", sondern auf die herkömmliche Weise gefühlig romantisch.


    Das muss Dich auch nicht wundern, denn es handelt sich um eine hochromantische Oper. Und eine Interpretation kann nur dann gelingen, wenn man das Werk aus seinem ursprünglichen Niveau, aus seinem tragenden Grund heraus versteht und hörbar macht. Aber an dieser Stelle kommen wir zu einem generellen Interpretationsproblem, dass derzeit im Harnoncourt Thread besprochen wird und das wir vielleicht dort fortsetzen sollten.



    Zitat

    Wenn man nun Karajans Bayreuther "Rheingold" hört, das nicht nach den Wünschen des Meisters nachgebessert wurde, ist das ein keineswegs neuer Wagner-Klang, sondern der übliche relativ behäbig-romantische Fluß mit ziemlich kompaktem Satz und der bekannten Relation von Singstimme und Orchester.


    Wenn Du das Neue an Karajans Ring Einspielung besser verstehen und einordnen können willst, so musst Du sie nicht mit der von Boulez, sondern der von Solti vergleichen.


    Gruß


    Loge

    Lieber Edwin Baumgartner,


    ich habe leider den Eindruck, dass Du weniger "cum grano salis", als vielmehr "cum grano arenae" argumentierst.


    Zitat

    Ein ganz kleiner Irrtum: Der satztechnische Gegensatz zu Polyphonie ist Homophonie.


    Das hast Du jetzt!


    Zitat

    (Man könnte übrigens streiten, ob nicht auch schon Homorhythmik ein satztechnischer Gegensatz zu Polyphonie ist, aber das würde hier jetzt zu weit führen.)


    Darüber aber müssen wir nicht streiten, weil der satztechnische Gegensatz zur Homorhythmik die Polyrythmik ist. Auch ein polyphoner Satz kann homorhythmisch bewegt sein, wobei die Mehrstimmigkeit klanglich durchaus hörbar bleibt. Lieber Edwin Baumgartner, so wie Du die Begiffe durcheinanderwirfst, machst Du einen wirklich ganz kirre.


    Um zum Ausgang zurückzukommen:


    Zitat

    Der klangliche, also nicht der notierte, sondern der wahrgenommene, ist - cum grano salis - wenn eine Stimme so prominent hervorsticht, daß alle anderen nur noch als Begleitung wahrgenommen werden.


    Entscheidend ist doch Folgendes:


    - Sind die 1. und 2. Violinen als identische Hauptstimmen notiert, so spielen sie auch beide die Hauptstimme und können dabei auch problemlos nebeneinandersitzen. Für den Höreindruck spielt das keine Rolle (wenn ein Dirigent sie dabei insgesamt zu prominent spielen lässt, ist das ein anders Thema).


    - Sind die 1. Violinen als Hauptstimme, die 2. aber als Begleitung notiert, oder umgekehrt, so müssen sie auch so spielen, also z. B. die 1. die Hauptstimme und die 2. die Begleitung, da hast Du dann Deine Hauptstimme mit Begleitung, und zwar unabhängig davon, wo sie zufällig gerade sitzen. Setzt Du sie antiphonisch und erzielst damit den Höreindruck einer Gleichwertigkeit, so läuft etwas falsch.


    - Spielen die Violinen in der ihnen jeweils zugewiesenen Bedeutung alternierend, so kann bei antiphoner Aufstellung natürlich ein Ping-Pong-Effekt erzielt werden, aber auch dabei bleiben es eben zwei Hauptstimmen oder eine Hauptstimme mit Begleitung, je nachdem. Mit der antiphonen Aufstellung hat die Kategorie "Hauptstimme mit Begleitung" also weder satztechnisch noch klanglich etwas zu tun.


    Zitat

    Ein gutes Beispiel liefert etwa der "Walkürenritt" in der Wiedergabe durch Karajan und in der Interpretation von Pierre Boulez: Bei Karajan gibt es einen weitgehend korrekt gespielten Klanghintergrund, vor dem sich das Walkürenritt-Motiv von Anfang an extrem prominent abhebt. Das Ohr nimmt nur das Walkürenritt-Motiv wahr und registriert das restliche Geschehen als Hintergrund. Das bezeichne ich als "Hauptstimme mit Begleitung".


    Davon abgesehen, dass es durchaus kühn ist, den Orchesterpart unter Boulez mit dem unter Karajan zu vergleichen (ohne die Regie würde der Boulez-Ring nicht herausstechen), außer das Boulez hörbar bemüht war, Karajans geradezu revolutionärem Konzept einer detaillierten ("kammermusikalischen") Behandlung der Partitur zu folgen, hast Du recht. Das ist eine typische Stelle einer "Hauptstimme mit Begleitung" und als solche auch auszuführen, und zwar egal, wo die 1. und 2. Violinen sitzen ;).


    Gruß


    Loge

    Lieber Edwin Baumgartner,


    da sind wir uns einig: Wunder gehören in die Religion und Superlative haben in der Kunst bei nüchterner Betrachtung auch nichts verloren.


    Deine Ausführungen zur antiphonischen Anordnung der Geigen kann ich aber nicht nachvollziehen. Der klangliche Gegensatz von Polyphonie ist nicht "Hauptstimme mit Begleitung", sondern "Homophonie". Darunter versteht man mehrstimmiges, aber bloß akkordisches Musizieren. Hauptstimme mit Begleitung ist eine ganz andere Kategorie.


    Wichtig erscheint mir noch, dass es in der 5. Sinfonie Beethovens gar keine Dialoge zwischen den 1. und 2. Violinen gibt, so dass die Frage der antiphonischen Anordnung (die selbst natürlich alles andere als ein Dogma ist) hier nicht wirklich relevant ist.


    Gruß


    Loge

    Lieber Edwin Baumgartner,


    danke für das Blümchen.


    Demut vor einem Dirigenten versuche ich nicht aufkommen zu lassen. Ich habe mich bemüht, mein Urteil nachprüfbar zu untermauern, so schwierig das im ästhetischen Bereich zuweilen auch ist. Hintergrund und Ziel meiner Ausführungen ist natürlich, die große künstlerische Leistung, die Karajan mit dieser Einspielung der 5. Sinfonie erbringt, auch deutlich herauszustellen. Zumal ja gerade in Bezug auf diesen Dirigenten, wie Du ja wahrscheinlich auch schon erfahren hast, so viel Unsinn verbreitet wird.


    Um es klarzustellen: Evgeni Mravinsky war auch ein großer Dirigent. Ich schätze seine gleichmaßen prägnanten und emotionalen Interpretationen sehr. Nicht ohne Grund habe ich ihn - vielleicht ein wenig überraschend - neben den hierzulande prominenter vertretenen Beethoven-Dirigenten mitbesprochen. Leider ist in seiner Einspielung der 1. Satz vollständig missraten. Die Sätze 2. - 4. zeigen dann aber umsomehr den ganzen Mravinsky.


    Zu Deinen Hinweisen, die aus meiner Sicht großenteils zutreffend sind, noch folgende einschränkende Anmerkungen:


    - Die Aufnahmetechnik ist bei Mravinsky jedenfalls insofern gar nicht schlecht, als die Mikrophone gut positioniert worden sein müssen. Die Orchestergruppen sind in der Aufnahme auch bei Tutti-Stellen erstaunlich transparent. Selbst im Finale mit seinen großen dynamischen Bewegungen und Ausbrüchen dröht es nicht, weshalb ich meine, dass beim Dröhen im 1. Satz die Bläser einfach indisponiert waren. Meine Kritik richtete sich ja gerade gegen das insgesamt technisch schwache Spiel im 1. Satz. Und dies bestätigst Du ja auch.


    - Richtig ist, dass die Mravinsky Aufnahme Live erfolgte. Es gibt gerade in den ersten zwei Sätzen einige störende Huster etc. Dafür können die Musiker natürlich nichts. Aber auch die BPO und Karajan (und alle übrigen besprochenen Orchester und Dirigenten) können nichts dafür, dass Studio-Aufnahmen sauberer klingen und ausgebessert werden können. Für mich ist weder das eine noch das andere ein ausschlaggebendes musikästhetisches Kriterium. Da Du aber so explizit von "Studio-Hochglanz" sprichst, sei die Anmerkung erlaubt, dass gerade bei Karajan Aufnahmen häufig mechanische Geräusche (vor allem der Streicher) in den Studio-Aufnahmen zu hören sind, was zwar den Moment der Entstehung der Musik selbst in solchen Tonkonserven noch erfahrbar werden lässt, aber (so war auch in diesem Forum schon zu lesen) von manchem dennoch als störend empfunden wird. Offenbar kann es manchem heute gar nicht steril genug zugehen.


    - Mit Deiner vergleichenden Gegenüberstellung von Karajan und Mravinsky (in Bezug auf Beethoven) sowie Karajan und Boulez (in Bezug auf Debussy) hättest Du dem großen Mravinsky (der sich als "universaler" Dirigent der Sinfonik von Beethoven Schostakowich verstand, was auch in der Spannbreite der von ihm vorgelegten Einspielungen zum Ausdruck kommt) sicher eine Freude bereitet, zumal Karajan eine große Affinität zur Klangästhetik Debussys hatte und daher gerade auch diesen Komponisten bekanntermaßen herausragend interpretiert hat.


    Gruß


    Loge



    -

    Vielen Dank, lieber Theophilus, lieber teleton und lieber Caesar73, für die anerkennenden Worte. (Dabei unterstelle für jetzt einmal, dass Theophilus seinen Kommentar nicht noch weiter relativiert.)


    teleton: Dein Hinweis auf die 77er Einspielung, von der ich wusste, dass sie existiert, ist natürlich berechtigt. Der Grund dafür, dass ich die 82er Einspielung der 5. Sinfonie besprochen habe, ist schlicht der, dass ich die aus dem Jahr 77 nicht besitze. Aber wenn Du andeutest, dass sie noch besser als die 82er sein könnte :jubel:, so werde ich sie mir jetzt kaufen müssen.


    Grüße, Loge

    Mein 1. Posting ! - Womit stellt man sich da am besten vor? - Vielleicht mit etwas Großem, von ganz weit oben, wo - um mit Dante zu sprechen - jedes Wollen zugleich ein Können ist: Mit Beethovens 5. Sinfonie und den Berliner Philharmonikern unter der Stabführung Herbert von Karajans.


    Wiederholt ist in diesem Forum von Mitgliedern, die erklärtermaßen selbst keine CD mit diesem Dirigenten besitzen und vielleicht durch die fast ausschließlich von außermusikalischen Reflexen bestimmten Ausführungen anderer Mitglieder nachhaltig irritiert sind, der Wunsch geäußert worden, einmal am Beispiel einer konkreten Werkeinspielung zu erfahren, was es denn mit dem legendären Dirigenten Herbert von Karajan auf sich habe.


    Welches Werk eignet sich dazu besser als die 5. Sinfonie Beethovens? Mit zwischenzeitlich nahezu 200 Aufnahmen dürfte sie das am häufigsten eingespielte Orchesterwerk sein. Kaum ein großer Dirigent, der sich nicht mit ihr zu verewigen versucht hat. Auch Herbert von Karajan hat mehrere Einspielungen vorgelegt. Die nachfolgenden Ausführungen sollen am Detail nachvollziehbar machen, warum seiner Aufnahme von 1982 mit den Berliner Philharmonikern (DG 413 933-2) - noch vor derjenigen aus dem Jahr 1962, der viel gerühmten Aufnahme Carlos Kleibers mit den Wiener Philharmonikern oder der Einspielung durch Fritz Reiner und dem Chicago Symphony Orchestra - ein Ehrenplatz unter den bedeutenden Interpretationen dieser Sinfonie im Stereo-Zeitalter gebührt. Die Konkurrenz ist groß, Unterschiede oft nur bei genauem Hören anhand der Partitur (hier: Dover Score) auszumachen (sieht man einmal von Extremen, wie den – mit Verlaub – „Cover-Versionen“ des phantastischen Leopold Stokowski oder des unvergleichlichen Leonard Bernstein oder den „Knäckebrot-Fassungen“ Norringtons oder Koopmans ab).


    Die hier besprochene Einspielung Karajans gibt inmitten einer illustren Konkurrenz auch Zeugnis von der überragenden Könnerschaft dieses Dirigenten, zumal die musikalisch/technischen Anforderungen, die diese Sinfonie an Dirigent und Orchester stellt, enorm sind: Der Orchesterklang ist bei Karajan erwartungsgemäß kraftvoll-voluminös, deutsch-romantisch abgetönt und dabei aber nicht bombastisch-breit oder von knalligem Effektgehasche oder Oberflächenglanz geprägt (anders als etwa bei Solti wird hier nicht militärisch-hart durch die Partitur exerziert). Zugleich sind polyphon orchestrierte oder harmonisch spannungsreiche Passagen durchhörbar gestaltet. Die Tempi sind sowohl absolut als auch in Relation zueinander „richtig“. Dies allein ist bereits eine Rarität, die sich bei den übrigen Dirigenten der Extraklasse nur noch bei Toscanini feststellen lässt! Insgesamt musiziert Karajan mit seinen Tempi sehr dicht an den Metronomvorgaben Beethovens (nur Gardiner lässt noch eine Idee zügiger spielen und erfüllt die Metronomvorgaben). Die vor allem für den 1., 3. und 4. Satz essentielle, großrhythmische Periodisierung ist bei Karajan in jedem Takt erfahrbar – bei diesen Tempi eine außerordentliche Konzentrationsleistung (Gardiner bietet sie nicht). Zu alledem setzt Karajan die detailreichen Partiturangaben Beethovens präzise um. Die Einspielung ist damit gleichermaßen von Textsachlichkeit und Innenspannung, Klangmagie und struktureller Transparenz geprägt – Synthesen, deren Realisierung den exzeptionellen Rang dieses großen Dirigenten und seines Orchesters ausmachen. Im Detail:


    1. SATZ


    Karajan spielt das Allegro con brio von Beginn an zügig und mit anhaltender Spannung (vergleichbar zügig etwa Gardiner (noch schneller), Carlos Kleiber, Giulini, Mravinsky, Solti, Harnoncourt). Andere wie etwa Bernstein, Böhm oder Klemperer spielen den Satz behäbig mit pathetischer Schwere weit unterhalb des Metronoms. Die Achteln des Schicksalsmotivs (T. 1 und 3) spielt er wie Carlos Kleiber, Gardiner, Harnoncourt zutreffend nicht als Triolen (so aber z.B. Mravinsky). Von den beiden Fermaten (T. 2 und 4-5) lässt er die Zweite taktgemäß länger aushalten (gleiche Länge und damit falsch z.B. Gardiner, Giulini, Harnoncourt, Klemperer, Wand, Mravinsky). Anders als etwa Bernstein, Böhm, Furtwängler, Reiner, Solti oder Wand lässt Karajan weder zwischen dem 2. und 3. noch dem 5. und 6. Takt einen von Beethoven nicht notierten zusätzlichen Pausentakt zu. Erstaunt können wir also festhalten, dass schon nach 5 Takten – und vor Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten des Satzes – bis auf Karajan und Carlos Kleiber keiner der anderen genannten Dirigenten fehlerlos geblieben ist!


    Grundlegend für die richtige Realisierung des 1. Satzes ist nun die Beachtung der ihm zugrunde liegenden 4-taktigen Periodisierung. Dies haben Schenker und nach ihm Furtwängler überzeugend beschrieben. Demnach sind trotz des von Beethoven notierten 2/4 Taktes je vier Takte entsprechend einem 4/4 Takt zu akzentuieren (Takt 1 – schwer beginnend / leichter endend; Takt 2 – leicht beginnend / etwas schwerer endend; Takt 3 – wie 1, nur etwas leichter; Takt 4 – wie 2, nur etwas schwerer endend). Bis auf wenige Passagen ist die Struktur des 1. Satz in diesem 4-taktigen Großrhythmus periodisiert. Dabei ist T. 6 bei genauer Analyse des weiteren Satzverlaufs als „4“ zu schlagen und nicht als „1“. Erst T. 7 fällt auf die „1“ und eröffnet somit die 4-taktige Periode. Nun muss die musikalische Darstellung dieses Prinzips nicht gleich zu einem großrhythmischen Oberseminar ausarten, wie dies in einer Einspielung Furtwänglers mit dem BPO aus dem Jahre 1937 zu hören ist. Richtig und wahrnehmbar artikuliert muss die Periodisierung aber werden, weil der 1. Satz sonst leicht zu einer Art unreflektiertem Dauermotivfeuer verkommt (so zu hören bei Gardiner, bei dem viele aufeinander folgende Takte wie auf „1“ geschlagen klingen). Bei Karajan ist die Periodisierung durchgehend mustergültig und dabei ungleich äußerst sublimiert ausgeführt (z.B. T. 7-14 [0:08 – 0:12] oder T. 26-33 [0:25 – 0:29]). Anzumerken ist noch, dass die Freude über die einleitend erwähnten und insgesamt sicher herausragenden Einspielungen von Carlos Kleiber und Fritz Reiner empfindlich dadurch getrübt wird, dass bei beiden gleich zu Beginn in T. 7 [0:11] (Fritz Reiner) bzw. T. 10 [0:12] (Carlos Kleiber) das herabsteigende Eingangsmotiv verwackelt bzw. verhuscht ausgeführt wird. In T. 21 [0:17 – 0:20] hält Karajan die isolierte Fermate auf dem G der 1. Violinen wunderbar lang und nervig aus (Richard Wagner verlangte sie „lang und furchtbar“).


    Bei dem Wiedererscheinen des Schicksalsmotivs in T. 22f. [0:21 – 0:23] sind sowohl bei Karajan also auch bei Carlos Kleiber die Bläser gut hörbar (nicht hörbar z.B. bei Giulini, bei Mravinsky verkommt dies zu einem verzerrten, undifferenzierten Dröhnen, wobei seine Leningrader sich bei beinahe allen über den 1. Satz verteilten Schicksalsmotiven technisch indisponiert zeigen).


    Es folgt ab T. 34ff. eine crescendo-Passage über 10 Takte: Die T. 34-38 sind zweitaktig, die sforzato-Takte ab T.38 sind auf „1“ zu schlagen. Gardiner, Giulini, Böhm, Harnoncourt und Carlos Kleiber verunstalten diese Stelle, indem sie die Oboen und/oder Fagotte nicht notierte „Rufe“ ausstoßen lassen. Gardiner ist überdies bereits nach dem 2. sforzato auf dem Höhepunkt seines crescendos. Bernstein, Mravinsky und Böhm schaffen es immerhin noch bis zum 4. sforzato. Ein vollständiges crescendo ist bei Karajan [0:29 – 0:37] und Carlos Kleiber [0:31 – 0:38] zu hören. Im anschließenden Forte erstrecken sich die von den Holzbläsern zu spielenden Akkorde über 3 Oktaven (!), die dabei erzeugten harmonischen Spannungen sollten hörbar sein. Leider ist dies z.B. bei Bernstein oder Wand nicht der Fall. Sehr gut hörbar ist dies dafür bei Karajan und bei Carlos Kleiber. Der eigentliche Höhepunkt wird in T. 52 (fortissimo) [0:40 – 0:42] erreicht, wobei Karajan auf eine feine Balance durch das gesamte Orchesters hindurch achtet (bei Carlos Kleiber wird alles von der Pauke übertönt, die auch im weiteren Verlauf der Sinfonie unmäßig forciert auftritt). Warum Mravinsky die tutti-Akkorde in T. 56 und 58 staccato spielen lässt, wird auf immer sein Geheimnis bleiben.


    Das sich ab T.63ff. anschließende 2. Thema ist als „Klangfarbenmelodie“ ausgestaltet und sollte atmosphärisch (trotz des gleich bleibenden Tempos!) einen deutlichen Kontrast zum Hauptthema herstellen (Furtwängler sprach in Bezug auf diese Überleitung davon, dass der Hörer das Gefühl haben müsse, als ob das ganze Stück sich wie in einer Angel, wie in einem riesigen Gelenk plötzlich herumdrehe). Bei Karajan klingt das „dolce“ wunderbar warm und gebunden. Ein wenig spitzer gerät es Carlos Kleiber [0:49 -] oder Mravinsky [0:48 -]. Auch Böhm lässt die Wiener Philharmonikern sehr warm und entspannt spielen, dies aber auf Kosten des Tempos und das ist dann nur noch die halbe Kunst. Weiterhin entscheidend für diese Passage ist, dass jede Instrumentengruppe das Thema bruchlos an die nächste weiterreicht, ohne jeweils zum Ende einer Phrase hin leiser zu werden oder bei der Übernahme der Phrase eine Pause zu produzieren. Die Passage ist also nicht wie 3x4, sondern wie 1x12 Takte notiert und zu spielen. Besser als bei Karajan kann man das nirgends hören [0:47 – 0:58], wobei auch Carlos Kleiber bruchlos spielen lässt. Das Gegenteil ist leider in unterschiedlicher Ausprägung bei Bernstein, Gardiner, Harnoncourt, Wand, Mravinsky zu hören. In T. 94 ist der 2. Höhepunkt (fortissimo) erreicht. Wer hier bei der Attacke auf den tutti-Akkord eine Pause einfügt, zerstört (wie Carlos Kleiber) die machtvoll anschwellende harmonische Entwicklung seit T. 64, die hier ihren Abschluss findet (sehr schön bruchlos bei Karajan, Gardiner oder Reiner). Nach einem Epilog endet nach weiteren 30 Takten die Exposition, die zu wiederholen ist.


    Zwischenfazit: 125 Takte technisch schwieriger Beethoven sind in nur rund 1:30 machtvoll und unwiderstehlich über uns hinweggerollt. Dabei bietet Karajan, neben ganz wenigen (Furtwängler, Toscanini) fehlerfreie und zugleich überzeugende Interpretationen. Schon so berühmte Einspielungen wie die unter Carlos Kleiber oder Fritz Reiner lassen hier Defizite erkennen, die eben nicht reine Geschmacksfragen betreffen. - Was die Einspielung Karajans dabei über alle musikalische und technische Finesse hinaus auszeichnet, ist der atemberaubend kraftvoll-homogene und zugleich transparente Orchesterklang, der hier produziert wird, und bei dem etwas dunkel-schicksalhaftes mitschwingt.


    In der Durchführung sorgt Karajan für ein konstantes Tempo (anders Bernstein, der sich durch den Satz schleppt und ab T. 363 unvermittelt bescheunigt (ob er meinte, damit doch noch für ein schmissiges Finish sorgen zu können?)). Ansonsten setzt Karajan (wie auch Carlos Kleiber, Gardiner, Mravinsky) das rapide crescendo im T. 166 zutreffend erst bei T. 166 an (zu früh z. B. Bernstein, Wand, Harnoncourt). Der berühmte einsame adagio-Gesang der Oboe inmitten des Tumults ist gerade in der 82er Einspielung Karajans einmalig schön und anrührend gelungen [4:30 – 4:44). In der erweiterten Durchführung ab T. 375ff. sind die Bläser gut zu hören [5:57 – 6:00] (ebenfalls gut ausbalanciert Gardiner; bei Carlos Kleiber hingegen ist die Pauke erneut erheblich zu laut und zu grell). Ab T. 399ff bis zur Coda ist die Periodisierung erneut von essentieller Bedeutung für eine sinnvolle, lebendige Phrasierung. Wie das andernfalls klingen kann, ist bei Mravinsky zu hören, der seine Leningrader hier einfältig wie Holzfäller durch den akkordischen Wald hacken lässt. Man achte auf die feine Phrasierung bei Karajan ab T. 440ff. [6:26 – 6:44] – das geht nicht besser!


    2. SATZ


    Der Variationssatz ist Andante con moto überschrieben. Auch er lebt also von einer gewissen Grundspannung. Dies wiederum erfordert ein adäquates Tempo. Karajan und Carlos Kleiber spielen das Andante nahezu gleich zügig (ca. 80) (zu schnell wohl Gardiner ca. 100). Ein erster Höhepunkt wird bei T. 40 erreicht. Die ganze Magie dieser harmonischen Prozession lässt sich vor allem bei Karajan [1:23 – 1:44] und Carlos Kleiber erleben (Harnoncourt bietet hier vor allem eine unerklärliche Verlangsamung). Die geradezu himmlischen Passagen der 2., 3. und 4. Variation auf das Hauptthema ab T. 100ff. (insbesondere die 3. Variation mit den in pianissimo singenden 32tel Violinen ab T. 108ff.) sind bei Karajan [3:36 -] bzw. [3:56 -] wie auch bei Carlos Kleiber, Fritz Reiner oder Mravinsky unüberbietbar schön gelungen (dagegen z. B. Giulini, Bernstein, Gardiner, Harnoncourt, Wand). In der 6. Variation ab T. 185ff. wird regelmäßig die gebotene Balance zwischen Streichern und Bläsern missachtet (so z. B. bei Harnoncourt, Gardiner). Gut ausbalanciert ist dies bei Karajan [6:50 -], Mravinsky und Giulini zu hören.


    3. SATZ


    Das Scherzo basiert wie der Kopfsatz auf einer 4-taktigen Periodisierung, deren Umsetzung auch hier von größter Bedeutung ist. Hinsichtlich des Tempos liegen Karajan und Carlos Kleiber wiederum dicht beieinander und nahe der Vorgabe Beethovens (96). Allzu nervös erscheint Gardiner, der noch oberhalb dieser Vorgabe spielen lässt. Zu langsam musizieren jedenfalls Solti und Bernstein, die damit dem Scherzo-Charakter des Satzes kaum gerecht werden und überdies das Tempoverhältnis zum Finale auf den Kopf stellen, indem sie dieses schneller als das Scherzo angehen!


    Karajan führt auch hier sämtliche Vortragsangaben Beethovens perfekt aus und lässt das Scherzothema zu Beginn unnachahmlich geisterhaft im pianissimo und sehr legato aus der Tiefe aufsteigen [0:01 – 0:03]. Das ritardando beginnt er erst ab T. 7 und zwar poco (!) [0:04 – 0:07] (bei Harnoncourt kommt es zu früh, bei Carlos Kleiber zu stark, bei Mravinsky unerklärlich akzentuiert). Ab T. 19 beginnt das Schicksalsmotiv zu marschieren, wobei T. 19 auf „4“ zu schlagen ist. Wer hier den dahinter liegenden Großrhythmus nicht korrekt mitspielt, hat vertan. Bei Karajan wird dies überwältigend und vorwärts treibend ausgeführt [0:16 -], man beachte vor allem die wunderbar auf „2“ und „3“ phrasierten T. 33/34 [0:25 – 0:27] und T. 37/38 [0:28 – 0:30] (bei Giulini, Solti oder Harnoncourt und auch bei Carlos Kleiber ist das alles so nicht umgesetzt). Selbst kleinste Details unterhalb des auf der Oberfläche wogenden Großrhythmus wie etwa die pizzicato G’s der Violoncelli (ab T. 100ff.) [1:16 und 1:18] werden von Karajan und seinen Berliner Philharmonikern auf vortreffliche Weise ausgeführt (man vergleiche dies direkt mit der weniger gelungenen Ausführung bei Carlos Kleiber).


    Eine der schönsten Passagen der gesamten Sinfonie bildet sicherlich die Rekapitulation des Scherzos ab T. 235ff. Wie ein schattenhafter Geistertanz bewegt sich die Musik hier auf das Finale zu. Von größter Wichtigkeit sind richtiges Tempo und richtige Periodisierung. Herausragend sind neben der Darstellung Karajans [3:07 -] auch die durch Carlos Kleiber, der die Passage betont tänzerisch angeht oder durch Mravinsky, der mit den Holzbläsern das Groteske in dieser Musik unterstreicht. Das pianissimo possibile ab T. 223, das die Überleitung ins Finale bildet, interpretiert Karajan vor allem in seiner hier im Vordergrund stehenden Aufnahme aus dem Jahr 1982 in schier atemberaubender Weise [4:13 -]: Zunächst sind die Streicher und die Pauke perfekt ausbalanciert, wodurch bereits eine knisternde Spannung erzeugt wird. Wenn sodann die Bässe hinzutreten [4.25 -] wird die Spannung nochmals gesteigert und man ahnt, dass hier etwas Großes im Gange ist. Die Art und Weise, wie die Bässe hier im pianissimo gleichwohl satt und differenziert streichen, ist enorm beeindruckend und erst dann ganz zu ermessen, wenn man andere Einspielungen dem direkten Vergleich aussetzt (bei Carlos Kleiber etwa sind die Bässe kaum und nur diffus vernehmbar). Während alle übrigen Dirigenten nun auf den Schlag ins Finale marschieren lassen (das sie sodann gegen Beethovens klare Vorgabe fast alle schneller angehen als das Scherzo), steigert Karajan die Spannung nochmals, indem er die 1. Violinen, die sich gemeinsam mit den Bässen in die Szene geschlichen hatten und nun immer vehementer in den Vordergrund drängen [4:33 -], erst eine Idee und dann immer mehr vor dem Takt spielen lässt und dadurch eine zusätzliche Innenspannung zwischen den in der Tiefe beharrlich schlagenden Bässen und den oben unaufhaltsam vorwärts treibenden Violinen (treiben sie ans Licht?) erzeugt. Karajan erweist sie hier ein weiteres Mal als ein einsamer Meister in der Ausgestaltung solch spannungsvoller Überleitungen (Ähnliches kann man bei seinem Bruckner, Schumann oder Brahms erleben), und man muss bis zu Furtwängler zurückgehen, um Vergleichbares zu hören. Man vergleiche dies mit den entsprechenden Passagen bei Carlos Kleiber [4:31 -] oder Gardiner [6:40 -], die hiergegen geradezu belanglos (bzw. bei Gardiner auch ein wenig grotesk) wirken.


    4. SATZ


    Mit dem Finale hat Beethoven den Ausführenden entgegenkomponiert, indem ein jeder mit dieser Musik insgesamt eine mehr oder minder überwältigende Wirkung erzielt. Letztlich ausschlaggebend ist auch hier das „richtige“ Allegro-Grundtempo, absolut als auch in Relation zu der im Finale eingebauten Scherzo-Episode und dem Presto am Schluss. Wie bereits erwähnt gehen bis auf Karajan und Toscanini die hier erwähnten Dirigenten das Finale – entgegen Beethovens klarer Vorgaben – schneller an als das Scherzo. Einzelne, wie z.B. Fritz Reiner, rasen förmlich durch das Finale, was hier und da durchaus Effekt macht. Es kann dann aber kein vernünftiges Verhältnis zur Scherzo-Episode hergestellt werden. Außerdem ist so eine Temposteigerung im Presto nicht möglich. Indem sich Karajan an die Vorgaben Beethovens hält, ist er in der Lage, zum Ende das Tempo nachhaltig zum Presto zu erhöhen [7:41 -]. Insgesamt lässt Karajan seine Berliner Philharmoniker im Finale entfesselt aufspielen. Der Orchesterklang ist voluminös, kraftvoll, mit einem mächtigen Drang nach vorne. Alles scheint wie im Rausch. Einzelstimmen sind bis an die Grenze der Hörbarkeit in das Orchesterganze eingebettet. Gleichwohl bleiben die musikalischen Details der Partitur auch in Passagen, die eine behutsame Balancierung erfordern, noch hörbar (wenngleich in diesem Satz weniger deutlich als etwa bei Fritz Reiner oder Carlos Kleiber). Auch im letzten Satz setzt Karajan die den einzelnen Teilen zugrunde liegenden Periodisierungen konsequent und hörbar um (das Allegro ist auf „2“, die Scherzo-Episode auf „4“ und das Presto auf „1“ zu schlagen) und sorgt so für eine rhythmisch sinnfällige Interpretation. Sehr schön nachvollziehen kann man diesen Wechsel von „2“ [7:30] auf „1“ [7.38] in dem sempre piu allegro, das die Überleitung zum Presto bildet (T. 357ff.) (auch hier erhellt ein direkter Vergleich etwa mit Carlos Kleiber, welche Bedeutung die Umsetzung der richtigen Periodisierung zukommt [9:43].


    Loge