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Original von Zwielicht
Mein einziger Beitrag zum runden Geburtstag - ich habe tatsächlich folgende Aufnahme erworben und gehört:
Es finde es fair von Dir, dass Du diese Warnung vor Deiner ausgeprägten Voreingenommenheit voranstellt. Darauf ist man für das Verstehen Deiner Zeilen auch durchaus angewiesen. 
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Es handelt sich um die Auskoppelung aus einer ominösen Karajan Master Recordings-Edition. Die CD steckt einer Papphülle, ein Booklet gibt es nicht, dafür einen kurzen Text auf der Innenseite des Deckels, der erwartungsgemäß nicht von Schubert, sondern von Karajans Schubert handelt.
Was daran ominös ist, erschließt sich mir nicht. Es handelt sich um eine Qubiläums-CD-Box mit 10 CDs, die auch einzeln erhältlich sind. Zur Box gibt es ein Beiheft. Was ist daran auszusetzen, wenn auf der Hülle einer (Jubiläums-)CD mit Schuberts 9. unter Karajan ein Text über Schuberts 9. unter Karajan abgedruckt ist? 
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Trotzdem nicht uninteressant:
Das verstehe ich nun gar nicht mehr. "Trotzdem"?
- Aber einen Tipp hätte ich: Wenn Du mehr über ein Werk erfahren willst, solltest Du generell Bücher und nicht zu CD-Klappentexte heranziehen. 
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man traut sich sogar die weiter oben schon zitierte negative Charakterisierung der Aufnahme durch den Penguin Guide zu bringen ("this is a tour of chromium heaven").
Warum auch nicht. Der Schreiber vom Penguin Guide war seinerzeit eben nicht so weit, die ungewöhnliche Lesart Karajans anerkennen zu können. Neuere Erkenntnisse rechtfertigen Karajan doch im Ganzen aus heutiger Sicht. Wobei ich der Auffassung bin, dass diese (allerdings phantastische) Einspielung nur eine Lesart unter mehreren möglichen darstellt. Furtwängler ist mit seinem ganz anderen Ansatz nicht minder faszinierend.
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Es wird auch darauf hingewiesen, dass Karajans für die damalige Zeit (1968 ) ungewöhnlich schnellen Tempi in Andante-Einleitung und zweitem Satz durchaus dem heutigen Stand der Forschung entsprächen. Ganz stimmt das nicht, aber dazu gleich mehr.
Das stimmt im Ganzen schon, und es ist wirklich irrelevant, ob es in allen Datails stimmt.
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Zunächst das Positive: vorzügliche Aufnahmetechnik, hervorragendes, trotz großer Besetzung hinreichend transparentes Orchesterspiel... Nur selten deckt der große Streicherapparat die Holzbläser zu. Ich finde das Klangbild auch nicht ungewöhnlich blechlastig.
Mit diesen generellen Eindrücken liegst Du m. E. richtig.
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Ein wenig antiquiert wirkt auf mich der unstillbare Drang Karajans, Töne und Phrasen zu binden, zu binden und nochmals zu binden.
Das ist "Lagerdenken". Nur weil etwas nicht der DERZEIT vorherrschenden Darstellungsweise entspricht, ist es in der Kunst nicht per se "antiquiert". Außerdem kannst Du das auch nur unter dem Eindruck etwa der Einspielung unter Norrington u. vgl. schreiben. Denn verglichen mit anderen "traditionellen" Phrasierungen, gibt es hier kein betontes Legato.
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Dass man auch differenzierter artikulieren kann, ist ja nicht erst eine Erkenntnis von HIP, auch wenn Karajan mit dieser Praxis damals nicht allein war. Das wird vom Orchester zweifellos ausgezeichnet umgesetzt,
Nicht derjenige realisiert eine gute oder hervorragende Interpretation, der am "differenziertesten artikuliert". Ein seltsames Kriterium, das Du da (zumal bei Schubert) zum Gradmesser machst.
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von der vielbelästerten Klangsauce würde ich hier nicht sprechen.
Man kann, wenn man sich auskennt und nicht Arges im Schilde führt, bei Karajan nie eine "Klangsauce" finden.
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Mit Ausnahme des A-Teils von Scherzo und Trio spielt Karajan keine der vorgeschriebenen Wiederholungen.
Das ist richtig.
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Das ist bedauerlich, im Kontext der damaligen Aufführungspraxis aber normal.
Eine gute (d.h. emotional berührende) Interpretation hängt nicht davon ab, ob Wiederholungen gespielt werden. Zum Für und Wider der Wiederholungen wurde gerade hier im Thread auch schon viel geschrieben.
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Ingesamt ist das (für die 60er Jahre) eine werkdienliche Interpretation auf hohem Niveau.
Welche werkdienlichen Interpretationen auf höherem Niveau aus den 60ern kennst Du denn? Und warum ist deren Niveau explizit höher?
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Karajan betont fast durchweg mehr das schnell Fließende,
Das erscheint mir auch so.
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spielt dynamische Höhepunkte voll aus,
Keine Ahnung, was das bedeuten soll? Wenn das andeuten soll, dass es in dieser Aufnahme überzogene dynamische Höhepunkte gebe, so stimmt das nicht.
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nimmt das Scherzo recht ruppig (Beginn im ff, nicht im Forte),
Das erscheint mir auch so.
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lässt die Melodie des Trios breit strömen
Das erscheint mir auch so.
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(vernachlässigt allerdings etwas die rhythmisierten Begleitstimmen)
Warum sollten die exponierter in den Vordergrund treten?
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und gestaltet das Finale legitimerweise als Tour de force.
Kann man sagen.
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Den Hauptsatz des Allegro ma non troppo nimmt Karajan relativ, aber nicht ungewöhnlich schnell
Kann man sagen.
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und ist bei gewissen Temporückungen ganz der Tradition verhaftet (Abstoppen beim zweiten Thema, beim Ende des zweiten Themenkomplexes sehr deutliches Accelerando zum Grundtempo).
Die Wirkung ist jedenfalls sehr überzeugend.
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Bei der Schlussapotheose des Hornthemas bleibt Karajan zwar nicht ganz im Tempo (was nach der recht schnell genommenen Stretta auch schwer möglich wäre), verbreitert aber im Gegensatz zu Furtwängler, Böhm et. al. das Tempo nur sehr wenig. Bemerkenswert.
Lieber Bernd, auf Deine Bitte hin hatte ich das auch mehrfach abgehört, mitgeschlagen und anschließend, weil ich meiner innernen Uhr misstraute, auch noch mal in 10 Takt Schritten an der Uhr des CD-Spielers überprüft. Das Ergebnis war, dass Karajan über die gesamte Coda (ab T. 570) hinweg (abgesehen vom ben marcato, ab T. 662, das etwas langsamer wird) das Tempo konstant hält (ja 8 Sek. pro 10 Takte; möglich allenfalls Abweichungen von 0,5 Sek. pro 10 Takte). Und meine Messergebnisse habe ich alle oben im Detail mitgeteilt. Wo habe ich mich denn da vermessen/geirrt?
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Neben dieser Passage waren es wohl vor allem zwei Tempi, die die Zeitgenossen damals etwas verstört haben: Zunächst die Einleitung zum ersten Satz, die hier tatsächlich als ruhig strömendes Andante und nicht als Adagio erklingt.
Das erscheint mir auch so.
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Für heutige Verhältnisse sind 3:15 Minuten bis zum Eintritt des Allegro nicht übermäßig schnell, für die damalige Zeit waren sie es schon (vgl. Norberts obige Aufstellung).
Kann man sagen.
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Worauf Karajan nicht verzichtet, ist das partiturwidrige Accelerando am Schluss der Einleitung - es fällt zwar aufgrund des geringeren Tempounterschieds zwischen Einleitung und Hauptsatz nicht so extensiv aus wie bei Böhm oder gar Furtwängler, ist aber natürlich trotzdem sehr gut hörbar (hier wie der CD-Begleittext
von "seamless transition" zu sprechen, trifft nicht den Kern der Sache).
M. E. trifft es "seamless transition" perfekt. So etwa hatte ich es auch beschrieben. Und das entspricht auch meinen Messergebnissen, die ich, lieber Bernd, auch an dieser Stelle für Dich durchgeführt habe. Das Accelerando ist kaum wahrnehmbar. Die zahlreichen spannungssteigernden Elemente, die Schubert an dieser Stelle komponiert hat, dürfen einen nicht zur irrigen Annahme eines entsprechenden Accelerando verleiten.
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Dann der zweite Satz: Hier ist Karajan mit 12:20 selbst aus Sicht heutiger Interpretationspraktiken sehr schnell (ähnlich etwa Norrington), was aufgrund der Tempovorschrift Andante con moto unzweifelhaft legitim ist (auch wenn es nicht ganz meinem Geschmack entspricht). Das wird gut gemacht, man hat nie den Eindruck von Hektik, sondern nur den eines relativ schnellen Schreitens. Das zweite Thema darf durchaus singen.
Das erscheint mir auch so. Hervorzuheben ist das "Federnde" in der Bewegung, das ich hinreissend finde.
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Was allerdings auffällig fehlt - und das ist nicht (nur) eine Frage des Tempos - ist eine Reaktion der Musik auf die fff-Katastrophe des Höhepunktes. Dass danach die Musik erst wieder zu sich finden muss und doch nie wieder zu sich findet, hört man bei sehr verschiedenartigen Dirigenten gestaltet: bei Karajan nicht - hier fließt gleich mit dem ersten Ansetzen der Celli die Musik unbeeindruckt weiter. Ich bringe ungern den abgewetzten Dualismus Oberfläche vs. Tiefe ein, aber hier fällt mir nichts Besseres ein: Karajan bleibt hier zu sehr an der Oberfläche.
Nach der fff-Katastrophe hat Schubert eine Generalpause komponiert. In dieser klingt die "Katastrophe" nach. Danach komponiert Schubert zaghafte pizzicato/staccato Achteln der Streicher im pianissimo. Hier findet die Musik wieder Schritt. Anschließend beginnen die Celli einen wehmütigen Gesang (arco)! Hier ist die Musik schon wieder bei sich. Alles andere ist romantisch maniriert und nicht komponiert. Ich habe ja nichts gegen derlei Darstellungen, aber Karajan ist deshalb noch lange nicht obverflächlich, auch wenn das mit Deinem Vorurteil so schön anschlussfähig wäre.
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Karajan bietet eine gute, im Kontext der damaligen Interpretationspraxis stellenweise ungewöhnliche und insgesamt überzeugende Einspielung.
Ersetze "gute" durch "sehr gute" oder "umwerfende" und es stimmt. 
Loge