Beiträge von Loge

    Lieber Alfred,


    Karajan vs. Böhm ist natürlich in mehrfacher Hinsicht ein reizvolles und erhellendes Thema; denn es gibt bei diesen beiden Dirigenten Aspekte, die sie auf das Engste verbinden (Herkommen, große Teile des jeweiligen Kernrepertoires, ästhetischer Konservativismus), und solche, die sie zu denkbar größten Gegensätzen werden lassen (pointiert: Karajan: Stardirigent mit ausgeprägtem Personalstil; Böhm: Anti-Star als Diener hinter dem Werk).


    Gemessen an dem Renomée, das Böhm ab den 60er Jahren in der Welt genoss und den zahlreichen Aufnahmen, die er für führende Labels produzieren durfte, ist es heute seltsam still um ihn geworden. Zwar gab es zum 100. Geburtstag Böhms 1994 immerhin eine Briefmarke, ansonsten war es das aber. Sondereditionen sind meines Wissens nicht erschienen. Bücher über ihn sucht man vergeblich. Selbst in dem umfangreichen Buch „Große Dirigenten“, das Wolfgang Schreiber unlängst geschrieben hat, ist Böhm nur am Ende, also unter den „Sonstigen“ mit einer kurzen Beschreibung gewürdigt, während andere ein je eigenes Kapitel für sich (z. B. Furtwängler, Toscanini, Karajan, Bernstein) oder zumindest eine ausführlichere Beschreibung in einer Gruppe vergleichbarer Dirigenten (z. B. F. Reiner Kubelik, Sawallisch, Boulez) erhalten haben. Ich meine, dass Karl Böhm damit nicht angemessen gewürdigt ist. Er gehört jedenfalls in die letztgenannte Gruppe. Allerdings meine ich auch, dass er am Ende nicht in die erstgenannte Gruppe „ganz großer“, Epoche machender oder stilbildender Interpreten unter den Dirigenten zählt. Das sind regelmäßig solche, die den Werken einen deutlichen Personalstil aufprägen. Karl Böhm aber war – und das ist für mich eines der wesentlichen Merkmale seines Schaffens – ein Dirigent, der nahezu vollständig hinter einem Werk zurücktritt. Er war auch deshalb eine Art „Anti-Star“, während Furtwängler, Toscanini, Karajan oder Bernstein regelrechte „Stars“ waren. Die interessierten Menschen, die alle schon zig Mal eine 5. Beethovens gehört haben, lassen sich in besonderer Weise faszinieren, wenn sie hören, wie („ganz besonders“) es gerade dieser oder jener Dirigent wieder gemacht hat. Bei Furtwängler hörte man den Furtwängler-Beethoven, bei Karajan den Karajan-Beethoven, und zwar regelmäßig vom ersten Ton an! Bei Böhm wusste und schätzte man natürlich auch, dass es Böhm war, der dirigierte. Aber es war dann eben doch Mozart, den man weitgehend ungetrübt vom nachschöpferische „Ich“ des Interpreten hörte. Gleiches gilt für seine Aufnahmen. Möglicherweise liegt hier ein Grund dafür, dass wir heute (da wir hunderte hervorragende Einspielung im Kernrepertoire zur Auswahl haben und sich eine gewisse Synthese-Vorstellung von einem Werk in uns manifestiert hat) durch die individuellen, dezidierten Interpretationen der Vergangenheit in besonderer Weise angesprochen werden. Und wir gerade diese Interpreten besonders hoch einschätzen, weil sie uns ja auch erkennbar entgegentreten.


    Den Menschen Karl Böhm finde ich nach allen, was man über ihn lesen kann, insgesamt durchaus sympathischer als seinen Ruf. Natürlich war er im Dritten Reich wenigstens ein Mitläufer. Aber wie Karajan oder die meisten Künstler war er dabei ein apolitischer Opportunist. Dazu zählte auch heute die überwältigende Mehrheit der Menschen. Beachtliche Arbeit als Dirigent muss er (auch wenn Hitler ihn wohl als „zweitklassig“ bezeichnet hat) schon damals geleistet haben, sonst wäre er kaum auf die sog. „Gottbegnadeten-Liste“ der Reichskulturkammer gelangt, die ihn in der Endphase des Krieges vor dem Fronteinsatz bewahrte. Im persönlichen Umgang soll er sich als Zyniker und Sarkast hervorgetan haben. Damit dürfte er raubeiniger gewesen sein als Karajan, der immer wieder durch seine Höflichkeit und Ausgeglichenheit (auch gegenüber dem Orchester) verblüffte. Trotz vereinzelter seelischer Verletzungen, die Böhm hier und da Orchestermusikern durch sein Wesen zugefügt hat, wird man annehmen dürfen, dass die jahrzehntelange enge Zusammenarbeit etwa mit den selbstbestimmten Wienern insgesamt von einem hohen Maß an gegenseitiger Wertschätzung und Zuneigung getragen war. Nicht ohne Grund werden die Wiener Karl Böhm 1967 zu ihrem „Ehrendirigenten“ ernannt haben – eine Auszeichnung, die ansonsten nur noch Karajan (1983) zuteil wurde. Gegen Ende seines Lebens soll Böhm gesagt haben, er liebe die „Wiener“ wie man einen Menschen liebe. Vielleicht war auch das überaus vertraute Miteinander zwischen Orchester und Dirigent dem einer langen Ehe ähnlich.


    Ich würde meinen, dass Böhm als Interpret dem genialen und vielseitigeren Karajan (Böhms Kernrepertoire ist eine Teilmenge des weiteren Karajan’schen) nur dann das Wasser reichen konnte oder ihn vereinzelt auch einmal überflügeln konnte, wenn Böhm eine Sternstunde hatte. Hierzu im einzelnen: Eine Sternstunde hatte Böhm etwa im Schlusssatz der 6. Sinfonie Beethovens (Wiener, DG), in der er zeigt, dass er einen Klang auch regelrecht erblühen lassen konnte. Dem freien Fließen der Musik in diesem Satz kommt Böhms lose Führung sehr zugute. Beim übrigen Beethoven aber würde ich (natürlich verallgemeinernd) sagen, dass Karajans immenser Gestaltungswille und seine enorm suggestive Gestaltungskraft (er wusste sehr genau was er wollte und – entscheidend – bekam es auch!) dem hochgradig konstruierten, treibenden und dämonischen Zug der Beethovenschen Form idealer gerecht wird, als der manchmal ein wenig zu sehr in schön tönender Bewegung versinkende Böhm. Ähnliches gilt insgesamt für Bruckner, dessen gigantische Formen auch erst einmal übergreifend zu bezwingen sind. Hier hat Karajan mit seinem 70er Zyklus neue Maßstäbe gesetzt. Gleichwohl gelang Böhm auch hier vereinzelt Außerordentliches, Gleichrangiges. So etwa mit seiner Einspielung der 4. Sinfonie Bruckners (wiederum ein Werk, das auch stark von frei fließenden atmosphärisch-romantischen Klängen geprägt ist). Auch die etwas freieren, unbeschwerteren Schubert-Sinfonien, die Böhm sehr überzeugend spielen lässt, sind in diesem Kontext zu sehen. Karajan bietet hier eine wesentlich andere, dramatischere, Beethoven nahe Interpretationen, oder – wie im Fall der 9. Schuberts von 1969 – einen furiosen Ritt über Schuberts himmlische Längen – undenkbar bei Böhm. Beider Aufnahmen Schubert’scher Sinfonien sind auf ihre Weise sehr beachtlich. Sicherlich hat aber auch georgius1988 Recht, wenn er in diesem Zusammenhang anmerkt, dass der Klang Karajans stark von der Spätromantik (was hier nicht jedem zusagt) und der Böhm ein wenig mehr klassisch ausgerichtet war. Bei Mozart war Böhm auch deshalb eine sichere Bank, während man bei Karajan hier ein wenig differenzieren muss. In ihren jeweiligen Spitzen (Karajan: Cosi 50er, Figaro 50er; Böhm: Cosi 60er, Zauberflöte 60er, Sinfonien) gehören sie jeweils zu den Referenzeinspielungen. Bei R. Strauss, auch einer Domäne von Böhm, liegt Karajan am Ende deutlich vorne (bei Karajan wären jedenfalls zu nennen: Orchesterstücke, Salome, Rosenkavalier; bei Böhm jedenfalls: Capriccio). Bei Wagner verhält es sich ähnlich wie bei Mozart. Beider „Ring“ wird seit jeher unter unterschiedlichen Vorzeichen gerühmt. Natürlich ist der aufwendig einstudierte Ring Karajans ungleich detaillierter, nuancierter („kammermusikalisch“) gestaltet und fasziniert durch einen großen Klangfarbenreichtum. Dafür besticht Böhms Bayreuther-Mitschnitt durch Authentizität, ebenso überzeugende dramatische Bögen und ein durchweg hervorragendes Sängerensemble. Auch beim Tristan haben beide Herausragendes hinterlassen (hier ist derjenige Böhms allerdings geradezu legendär). Bei Karajan ist die Höhe bei Wagner noch breiter, denn es kommen noch Meistersinger und Parsifal hinzu. Daneben wären zahlreiche andere Komponisten aufzuzählen (Alfred hat auch schon darauf hingewiesen), bei denen Karajan Herausragendes vollbracht hat, während Böhm gar nicht oder nicht nennenswert in Erscheinung tritt (Verdi, Tschaikowsky, Mendelssohn, Debussy, Sibelius, Mahler etc.).


    Insgesamt ist Karajan (für die Interpretationsgeschichte und in der Breite seiner Spitzen) also schon ein anderes, bedeutenderes Ereignis als der mitunter ebenfalls faszinierende Böhm.


    Loge

    Lieber Norbert,


    Zitat

    Original von Norbert
    Des Weiteren wird Norrington zitiert mit den Worten "Es ist bekannt, daß Schubert über Tempoänderungen, die er nicht makiert hatte, aufgebracht war."
    Norrington belegt diese Aussage zwar mit Temporelationen zum Ende des ersten Satzes, jedoch denke ich einmal, daß adäquates dann auch für den Satzbeginn und namentlich für das Accelerando gelten dürfte.


    interessanter Hinweis. Genau hierzu gibt es übrigens einen Aufsatz von Newman "FREEDOM OF TEMPO IN SCHUBERT'S INSTRUMENTAL MUSIC" Musical Quarterly. 1975; LXI: 528-545. An den komme ich leider gerade nicht dran. Aber vielleicht kann ein anderer ihn sichten und berichten.

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    , aber wenn man schon spekuliert, dann ist man als Außenstehender eher geneigt, auf dessen Seite zu sein, der sich professionell sehr akribisch mit einer Partitur beschäftigt zu sein...


    Das Problem besteht ja gerade darin, dass viele sich den Partituren professionell nähern und gleichwohl zu ganz unterschiedlichen Ansichten und Interpretationen gelangen.


    Loge

    Lieber Matthias,


    Zitat

    Original von Matthias Oberg
    Zu Alfreds Eröffnung: Als Rattle in Birmingham wirkte, war dies eben bald kein "englisches Provinzorchester" mehr. Aber in Berlin haben wir bald eins mehr.


    das erscheint mir eine maßlose Übertreibung zu sein. Hier geht es nicht darum, dass die Berliner unter Rattle auf Provinzniveau abstürzen könnten, sondern dass sie aus der Gruppe der vier/fünf "besten" Orchester der Welt rausfallen. Es gab Zeiten, da war klar, dass die Berliner gemeinsam mit den Wienern unangefochten ein Spitzenduo bildeten (jedenfalls galt das für Europa und Asien).


    Zitat

    Warum dies so ist, da fand ich Edwins Beitrag einleuchtend.


    Edwin gab hier bislang folgende Erklärungen, die man als seine Argumente für den angeblichen künstlerischen Niedergang Rattles deuten könnte:


    1. Rattle höre nicht gut
    2. Rattle arbeite nicht (mehr) am Detail
    3. Rattle gehe es nicht (mehr) um Strukturen
    4. Rattle kämpfe nicht (mehr), sei "Star" und damit gesättigt


    1. ist relativ und dann hinterfragbar, wenn es bedeuten soll, dass Rattle nicht so gut höre, um hervorragende Interpretation realisieren zu können. Dann hätte Rattle seine hervorragende Orchestererziehung in England nicht leisten können und wäre niemals auf den Thron der Berliner gelangt. Zu 2.: Gerade der aktuelle Ring Rattles, wie auch immer man zu ihm steht, lässt einen Anderes hören. Zu 3.: Welche Strukturen sind gemeint? Rattles Interpretationsstil war schon immer durch ausgeprägte Rhythmik und hervortretende Details geprägt. Das Bestreben, ein Werk hörbar in seiner Gesamtstruktur erklingen zu lassen und übergreifende Zusammenhänge deutlich zu machen, wobei zuvor penibel erarbeitete Details in den Gesamtkontext eingebettet werden, wie dies neben Klang und Rhythmik ein besonderes Merkmal Karajans war, steht bei Rattle nicht im Vordergrund. Rattle gestaltet viel aus dem emotionalen Moment heraus. Daraus erklären sich auch seine "dynamischen Explosionen", die zuweilen auftreten können. Wenn diese Hinweise von Edwin noch darüber hinausgehend zu verstehen sein sollen, so ist das für mich nicht überzeugend. Allenfalls in einem Forum lässt sich da mal eben von einem angeblich generellen Defizit in Detail- oder Strukturarbeit sprechen. Bei Lichte besehen ist das eine regelrechte Ohrfeige für ein Ensemble aus einem berühmten Dirigenten und 120 Spitzenmusikern. Wir sprechen hier, bei aller Kritik an Rattle, von einem sehr, sehr hohen Niveau. Der Vergleichsmaßstab ist die glorreiche Zeit der Berliner, insbesondere unter Karajan. Dieser Umstand vor allem nährt die bestehende Kritik an Rattle. Zu 4. ist zu sagen, dass Edwin und ich uns in anderem Kontext kürzlich noch einig waren, dass Rattle ein Dirigent ist, der bei seiner Arbeit stets sehr engagiert und gewissenhaft vorgeht. Es ging dabei wiederum um den Ring, den Rattle sich derzeit wieder mit den Berlinern erarbeitet (erstmals nach rd. 30 Jahren!). Rattle weiß sehr genau, dass er auch am Erfolg dieses Großprojekts gemessen werden wird. Daneben hat Rattle auch andere Repertoirebereiche mit den Berlinern, von denen er weiß, dass er sich ihnen wird stellen müssen, für sich noch gar nicht begonnen. Er plant längerfristig. Und er weiß auch, dass er auf dem Thron der Berliner einer straken Konkurrenz ausgesetzt ist; denn dieser Posten ist begehrt wie wenige andere und wird - pointiert ausgedrückt - nicht qua Geburt auf Lebenszeit verliehen. Die schon angesprochene öffentliche Debatte um eine mögliche Ablösung durch Barenboim oder Thielemann, dürfte ihm, sollte er das tatsächlich nicht erkannt haben, wovon ich nicht ausgehe, eine hinreichende Warnung gewesen sein. Ich kann nach alledem überhaupt nicht verstehen, dass der Grund für Rattles Krise in seinen für einen Dirigenten noch jungen Jahren in einem angeblich fehlenden Ehrgeiz begründet sein soll. Ich würde empfehlen, Rattle einmal bei der Arbeit zuzusehen. Das ist kein Mann, der nichts mehr leisten will oder meint, nichts mehr leisten zu müssen!


    Zitat

    Leider ist auf den Berliner Kontext, auf den Barbirolli hingewiesen hat, noch nicht eingegangen worden. Beides müßte man wohl noch zusammendenken, um zu umfassenderen Erklärungen zu kommen.


    Barbirolli hat darauf hingewiesen, dass die Berliner infolge einer Restrukturierung ihrer vertraglichen Verhältnisse finanziell nun mehr auf sich selbst gestellt sind. Daran hat maßgeblich auch Rattle mitgearbeitet. Die Abkopplung von der öffentlichen Hand kann für mich nur bedeuten, dass das Dirigent und Orchester noch mehr darauf bedacht sein müssen, etwas zu leisten. Dass dabei auch Film- und Filmmusikprojekte angegangen werden, besagt nichts über den künstlersichen Stand von Dirigent und Orchester. Es handelt sich um eine zeitgemäße Variante zu ähnlichen Projekten in der Karajan-Ära. Auch durch Barbirollis Hinweis auf angebliche "Dirigierorgien in Reichsparteitagsästhetik" mag sich "überzeugen" lassen, wer will, ich jedenfalls nicht.


    Der Grund für Rattles Probleme bei den Berlinern liegt aus meiner Sicht allein darin, dass er


    1. im Stammrepertoire der Berliner (Beethoven, Brahms, Bruckner, Wagner, Strauss etc.) nicht hinreichend überzeugt,
    2. er gerade hier gegen einen riesigen Schatten und Erwartungen ankämpfen muss (auch Teil der Ursache für 1.),
    3. ihm die Kraft oder der letzte Wille fehlt, die 120 Berliner Primadonnen auf eine (seine!) klare interpretatorische Idee einzuschwören.


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    Zu Loge: Dass für Transparenz und ausbalancierten Orchesterklang zu sorgen, wie Boulez dies meistens vorbildlich gelingt, schon ein "invariantes Aufzwingen" eines "Personalstils" bedeutet, kann ich gar nicht verstehen. Das erwarte ich doch eigentlich von jedem Orchesterleiter - auch im klassisch-romantischen Kernrepertoire.


    Edwin hatte zu Rattle geschrieben, dass er zu Manierismen neige und Werken seinen ganz eigenen Rattle-Stil überstülpe. Das stimmt, ist quasi natürlich und unumgänglich, und ich wollte nur deutlich machen, dass das in gewissem Sinne auch für ausgesprochen "unmanierierte" Dirigenten wie Boulez gilt, dessen Interpretationen man an seinen ihm eigenen Gestaltungsmitteln auch erkennt. Es gibt keinen Boulez, der (ohne Wertung) nicht nach der perönlichen Manier Boulez' klingt.


    Zitat

    Um jetzt nicht die Debatte noch polemisch anzuheizen: Ich beschreibe eine Gefahr. Ich habe sehr wohl wahrgenommen, dass auch Loge Karajans Mahler nicht für Referenzaufnahmen hält


    Ich wusste gar nicht, dass ich mich hier im Forum schon einmal zu Karajans Mahler geäußert hätte. Kann allenfalls ein Nebensätzchen gewesen sein. :D


    Loge

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    Original von Zwielicht
    Meine Auffassung der diskutierten Passage im zweiten Satz habe ich bereits dargelegt. Im Gegensatz zu Dir akzeptiere ich andere Möglichkeiten der Interpretation und traue mir auch nicht zu, die musikalische Semantik dieser Stelle in Großbuchstaben festzuklopfen ("AUS", "nicht legitim"). Ganz allein stehe ich nicht da - so bezeichnet Peter Gülke in seinem empfehlenswerten Schubert-Buch die Cello-Passage nach dem fff-Höhepunkt als ein "Zu-sich-Kommen" (Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Laaber 1991, S. 305).


    Na, jetzt wissen wir wenigstens, woher diese ein wenig überspannte und bei Dir auf so fruchtbaren Mahler-Boden gefallene Idee stammt. :D


    Zitat

    Zum Übergang vom Andante zum Allegro im ersten Satz: Wie oft muss ich denn noch darauf hinweisen, dass Schubert definitiv kein Accelerando vorgeschrieben hat? Und dass ein unmerklicher und gleichzeitig partiturgemäßer Übergang am ehesten erreicht wird, wenn man Andante und Allegro im Verhältnis Andante-Viertel = Allegro-Halbe austariert? Und dass die Polyrhythmik des Übergangs, auf die Du zu Recht hinweist, am besten zur Geltung kommt, wenn das Tempo nicht angezogen wird?


    Hat er nicht, ist ja richtig. Aber Du weißt auch, dass selbst Beethoven mehrfach äußerte, dass das Metronom Geltung eigentlich nur für die ersten Takte habe und er danach dem Interpreten eine gewisse Freiheit bei der sinnfälligen tempomäßigen Gestaltung seiner Werke einräume. Und Du meinst, der Schubert wäre hier puritanischer gewesen?

    Zitat

    Robert Schumann probably concurred with this interpretation when he wrote: "The passage from the introduction into the Allegro is wholly new; the tempo does not seem to change, yet we reach the port, we know not how."[/I]


    Aber so etwa macht des Karajan doch. Die Änderung der Geschwindigkeit ist minimal, vgl. meine Messungen oben.


    Zitat

    Schumann seems to be referring to the gradual increase in motion by surface rhythmic, textural, and timbral means that dominates the entire introduction. In the introduction's last eight measures Schubert composes the accelerando so that an increase in the speed of the beat is not necessary. This he accomplishes by increasing the levels of anacrustic activity, and by decreasing in some lines the size of the metric unit from an entire measure of four quarters, to a half measure, and finally to a single beat, resulting in a Beethovenian urgency.


    Dafür das ich diesen Aufsatz nicht kannte, finde ich meine bisherigen Ausführungen sehr treffend. :] Nicht notwendig heißt nicht, dass nicht eine MINIMALES Anziehen als zusätzliches Spannungsmoment zulässig ist.


    Zitat

    Für ein extensives Accelerando aus einem sehr langsamen Tempo heraus hat man z.B. die überaus suggestive Furtwängler-Einspielung.


    Finde ich auch sehr schön.


    Zitat

    Für ein weniger ausgeprägtes Accelerando aus einem schnelleren Tempo heraus hat man z.B. die sehr gute Karajan-Einspielung. Karajan nähert sich dem Buchstaben der Partitur zweifellos mehr an als Furtwängler, allerdings nicht so sehr wie manche späteren Interpreten.


    Na, endlich, war doch gar nicht schwer, oder? :D


    Hier können wir enden. Mir hat es durchaus etwas gebracht, denn die Zusammenhänge dieser Stelle sind mir noch klarer geworden. Dir vielen Dank dafür.


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Du hast sicher das Attest des Arztes vor Dir liegen. Das kann nämlich spannend werden. Vielleicht ahnst Du sogar, warum...


    Ahne ich nicht. Aber Du erklärst es mir bestimmt. Jansons hat uns allen das so in einem Interview mit der FAZ anlässlich seines Neujahrskonzerts am 1.1.2006 mitgeteilt. Ich hätte gedacht, dass Du so etwas weißt. Auszug:


    FAZ: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?


    Jansons: Danke. Gott sei Dank gut. Knock on wood.


    FAZ: Sie haben einen Herzschrittmacher.


    Jansons: Nein, einen Defibrillator. Ich habe leider zwei Herzinfarkte gehabt und eine starke Tachykardie. Mein Herz schlägt sehr schnell, und das ist gefährlich.


    FAZ: Den ersten Herzinfarkt hatten Sie 1996 während eines Konzerts in Oslo. Sie dirigierten gerade „La Bohème“. An was erinnern Sie sich?


    Jansons: Ich habe plötzlich links furchtbare Schmerzen bekommen, und ich hatte das Gefühl, daß jemand oder etwas mich zerpressen will und ich dagegen ankämpfe. Ich erinnere mich daran wie an einen Traum. Jemand preßt meinen Körper zusammen, meinen Brustkorb, und ich kämpfe dagegen. Ich glaube, das war mein Kampf gegen den Tod. Ich weiß noch, daß ich dabei gedacht habe, soll ich weiterdirigieren oder aufhören? Irgendwann bin ich zu Boden gefallen. Man hat mir später erzählt, meine Hand hätte noch weiterdirigiert, obwohl ich bewußtlos war.


    Loge

    Lieber Bernd,


    klingt ja schon viel besser. :)


    Und eigentlich wollte ich nur das nochmal hören:


    Zitat

    Original von Zwielicht
    Bewunderung für Deine Schlagtechnik


    :D


    Zitat

    - dieses Accelerando ist bei Karajan sehr wohl deutlich hörbar. Wie sollte es auch anders sein, muss doch immerhin der Tempo-Unterschied zwischen dem Andante und dem Allegro überwunden werden. Man kann den Tempowechsel auch sehr gut ohne Accelerando vollziehen, wie zahlreiche Einspielungen und Aufführungen der letzten 30 Jahre zeigen (ich hatte ja bereits auf die Giulini-Aufnahme aus den 70er Jahren verwiesen). Wobei längst nicht alle der Auffassung von Gielen und anderen (Andante-Viertel = Allegro-Halbe) folgen, weil sie dafür das Andante zu langsam nehmen.


    Natürlich braucht man in der Überleitung kein deutliches Accelerando. Es würde genügen, mit T. 78 ein anderes Tempo anzuschlagen. Anders kann ich Dein ansich widersprüchliches "Wie sollte es auch anders sein..." und dann "Man kann ... auch sehr gut ohne Accelerando" nicht verstehen. Besser ist aber ein unmerklicher Übergang ohne großen Tempowechsel zwischen Andante (alla breve) und Allegro ma non troppo, so wie ich und der Klappentext der DG das (übrigens ganz unabhängig von unserer Diskussion hier) für die Karajan Einspielung feststellen. Bei der zunehmenden Polyrhythmik in der Überleitung (in T. 76, 77 werden von den Instrumentengruppen dann schließlich sechs verschiedene Rhythmen gleichzeitig gespielt) entsteht der Eindruck eines Anziehens der Entwicklung, ohne dass sich die Geschwindigkeit tatsächlich in dem angenommenen Maße erhöht.


    Zitat

    Dass die Musik nach der Katastrophe wohl kaum bereits mit dem arco der Celli Tritt fasst, scheint mir offenbar zu sein: hier hört man nicht nur einen "wehmütigen Gesang", sondern auch ein suchendes Herumtasten mit dem Kopf des Hauptthemas.


    Die Motive und Motivteile des Haupthemas finden sich an vielen Stellen. Die Substanzgemeinschaft ist groß. Willst Du da jedesmal anfangen zu weinen, nur weil Schubert mit seinem Material arbeitet? Das Problem ist, dass uns heute der Sinn für die Bedeutung einer solchen Generalpause (zumal bei Schubert) abhanden gekommen ist. In Wahrheit ist sie von größter Bedeutung und steht dort nicht von ungefähr. Die Musik kommt hier nach der fff-Katastrophe vollständig zum Stillstand und hallt in dieser Pause nach und AUS! Dein Wunsch, dies retrospektiv von Mahler aus anders hören zu wollen, ist nicht legitim. Es reicht schon, dass Boulez meint, uns den Mahler und den Bruckner nach seriellen Parametern arrangieren zu müssen.


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Boulez und Harnoncourt stülpen hingegen nicht Manierismen über, sondern kommen durch analytische Verfahren zu ihren Ergebnissen. Also erst Analyse (Erkenntnis der als wichtig empfundenen Parameter), dann schlußfolgerndes Ergebnis und nicht erwünschtes Ergebnis, daraus abgeleitetes Auffinden der Parameter.


    Jedem bedeutenden Dirigent darf man zugestehen, dass er über ein analytisches Verfahren zu seinen Ergebnissen kommt. Bei manchen werden diese Ergebnisse dann durch ein gewünschtes (wünschenswertes) Ergebnis modifiziert. Zu diesen Dirigenten zählt übrigens auch Harnoncourt, wie er selbst mehrfach ausgeführt hat. Die Schule der kompromisslosen HIP ist seine nicht! Er macht durchaus Konzessionen an die heutige Zeit. Boulez' wiederum ist mit seinen wesentlichen Parametern (Transparenz, Balancen) gegenüber einem Werk weitestgehend kompromisslos und invariant. Er trägt seine (von der Moderne geprägten) Klangauffassungen von außen an ein Werk heran und sei es auch ein romantisches Werk. Sodann analysiert er, wie sich das Werk unter diesen Parametern realisieren lasse. Wenn ich von Manierismen sprach, so meinte ich das nicht im Sinne einer übertriebenen Emotion, sondern eines ausgeprägten Personalstils.


    Zitat


    Dann glaub's halt nicht.


    Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier sonst jemand glaubt, dass Rattles Dirigat in seinem Alter immer ungenauer würde. Warum sollte das der Fall sein?


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    Wenn einer das Concertgebouw führen kann, sollte er in Berlin eigentlich nicht als unerträgliches Risiko betrachtet werden. Concertgebouw und Berliner Philharmoniker sehe ich eher auf einer Augenhöhe als Birmingham und Berlin.


    Jansons hat ein schwaches Herz. Er hatte schon zwei Herzinfakte und eine starke Tachykardie. Er trägt einen Defibrillator. Ich wünsche ihm ein langes Leben und würde ihm auch gerade von diesem überaus exponierten Posten abraten. Außerdem - auch wenn das inhuman ist - muss der "Chef" der Berliner (jedenfalls bei Amtsantritt) bei guter Gesundheit sein. Es ist, wie sich gezeigt hat, schon schwierig genug, wenn sich die Gesundheit eines verdienten Leiters der Berliner während der Amtszeit verschlechtert und der Dirigent das Pensum physisch nicht mehr erfüllen kann (siehe Karajan, siehe Abbado).


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    In Bournemouth mußte er kämpfen, ...
    In Birmingham kämpfte Rattle ...
    In Berlin braucht Rattle nicht mehr zu kämpfen: Er gilt als Star, das Orchester ist seit den Tagen Furtwänglers positioniert, seine Programmpolitik ist weitgehend akzeptiert.


    Das glaube ich nicht. Es ist schwer, überhaupt in eine solche Position zu gelangen. Aber noch schwerer ist es, sie über einen längeren Zeitraum zu halten. Man darf nicht vergessen, dass die Berliner Philharmoniker neben ihrem jeweiligen Chefdirigenten schon immer und permanent auch von vielen anderen Spitzendirigenten geleitet werden. Wenn der "Chef" in diesem Umfeld künstlerische (oder selbst körperliche) Schwächen zeigt, ist er bald Geschichte. Eine solche Position ist nicht garantiert, egal was in Verträgen steht.


    Zitat

    durch bestimmte Manierismen, neigt also, ganz wie Karajan, dazu, jedem Werk seinen eigenen Rattle-Stil überzustülpen


    Gleiches lässt sich von Furtwängler, Tocanini, Bernstein, Boulez, Harnoncourt und vielen anderen sagen.


    Zitat

    - und das mit zunehmender Ungenauigkeit der Partiturwiedergabe.


    Das kann ich nicht glauben.

    Zitat

    Übrigens war Rattle schon früher nicht sehr interessant, wenn er Klassiker dirigierte:


    Ich meine auch, dass Rattle die Musik des 20. Jahrhunderts am besten liegt. Für ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker, dessen Aufgabe als nationale Institution nicht zuletzt auch darin besteht, die "große Tradition" am leben zu halten, war Rattle mit seiner Biographie m. E. noch nie der richtige Mann.


    Zitat

    In Berlin dürfte man auf einen großen Namen hereingefallen sein, vielleicht auch auf Rattles geschickt platzierte Koketterie, er werde nach Birmingham bei keinem anderen Orchester Chefdirigent werden (welche Leistung, ihn doch zu gewinnen...!) usw.


    Ich glaube nicht, dass man auf ihn reingefallen ist. Man wollte Neues erschließen und medial mit ihm gut positioniert sein. Beides hat er eingelöst. Falsch eingeschätzt hat man wohl seine Fähigkeiten, den Standard eines Spitzenorchesters im klassisch-romantischen Repertoire zu erhalten und ein solches Orchester weiter zu formen.


    Zitat

    Meiner Meinung nach wäre es für Berlin und Rattle jetzt am besten, man würde sich langsam voneinander verabschieden, ohne Schmutzwäsche zu waschen, das haben beide Seiten nicht notwendig.


    Sehe ich auch so. Auch wenn es mir um ihn leid tut, weil ich ihn mag.


    Zitat

    Und dann sollte das Orchester vier Dirigenten in die engere Wahl nehmen: Barenboim, Jansons, Nagano und Chailly, wobei vereinfacht gesagt Barenboim vergangenheitsorientiert wäre (das ist a priori nichts Schlechtes), Jansons und Chailly gegenwartsorientiert und Nagano (eine vielleicht zu riskante?)


    Nagano wäre eine Fortsetzung Rattles. Chailly eine Fortsetzung Abbados. Jansons zu riskant. Barenboim hat es bisher nicht bewiesen, dass er mit den Berlinern Außergewöhnliches leistet, warum dann in Zukunft. Der Mann, der vielleicht anknüpfen könnte an die große Zeit und das Beste aus diesem Orchester herausholen könnte, ist Thielemann 8o (Ich weiß sehr wohl, dass einige hier über dieses Votum herfallen werden, aber die dabei genannten Gründe sind ja ganz überwiegend außermusikalische, kulturpolitische und deshalb zweitrangig).


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner



    Kommentar meinerseits überflüssig, das kommentiert sich quasi von selbst.


    Im 1. Zitat geht es um die Texttreue gegenüber einer vorliegenden Partitur, im 2. um die Frage, ob es unbedingt immer die Neueste Kritische Ausgabe sein muss.


    Da haben wir uns alle in der Diskussion wohl wieder einmal missverständlich ausgedrückt. ;)


    Loge

    Zitat

    Original von Zwielicht
    Mein einziger Beitrag zum runden Geburtstag - ich habe tatsächlich folgende Aufnahme erworben und gehört:


    Es finde es fair von Dir, dass Du diese Warnung vor Deiner ausgeprägten Voreingenommenheit voranstellt. Darauf ist man für das Verstehen Deiner Zeilen auch durchaus angewiesen. ;)


    Zitat

    Es handelt sich um die Auskoppelung aus einer ominösen Karajan Master Recordings-Edition. Die CD steckt einer Papphülle, ein Booklet gibt es nicht, dafür einen kurzen Text auf der Innenseite des Deckels, der erwartungsgemäß nicht von Schubert, sondern von Karajans Schubert handelt.


    Was daran ominös ist, erschließt sich mir nicht. Es handelt sich um eine Qubiläums-CD-Box mit 10 CDs, die auch einzeln erhältlich sind. Zur Box gibt es ein Beiheft. Was ist daran auszusetzen, wenn auf der Hülle einer (Jubiläums-)CD mit Schuberts 9. unter Karajan ein Text über Schuberts 9. unter Karajan abgedruckt ist? ?(


    Zitat

    Trotzdem nicht uninteressant:


    Das verstehe ich nun gar nicht mehr. "Trotzdem"? ?( - Aber einen Tipp hätte ich: Wenn Du mehr über ein Werk erfahren willst, solltest Du generell Bücher und nicht zu CD-Klappentexte heranziehen. :D


    Zitat

    man traut sich sogar die weiter oben schon zitierte negative Charakterisierung der Aufnahme durch den Penguin Guide zu bringen ("this is a tour of chromium heaven").


    Warum auch nicht. Der Schreiber vom Penguin Guide war seinerzeit eben nicht so weit, die ungewöhnliche Lesart Karajans anerkennen zu können. Neuere Erkenntnisse rechtfertigen Karajan doch im Ganzen aus heutiger Sicht. Wobei ich der Auffassung bin, dass diese (allerdings phantastische) Einspielung nur eine Lesart unter mehreren möglichen darstellt. Furtwängler ist mit seinem ganz anderen Ansatz nicht minder faszinierend.


    Zitat

    Es wird auch darauf hingewiesen, dass Karajans für die damalige Zeit (1968 ) ungewöhnlich schnellen Tempi in Andante-Einleitung und zweitem Satz durchaus dem heutigen Stand der Forschung entsprächen. Ganz stimmt das nicht, aber dazu gleich mehr.


    Das stimmt im Ganzen schon, und es ist wirklich irrelevant, ob es in allen Datails stimmt.


    Zitat

    Zunächst das Positive: vorzügliche Aufnahmetechnik, hervorragendes, trotz großer Besetzung hinreichend transparentes Orchesterspiel... Nur selten deckt der große Streicherapparat die Holzbläser zu. Ich finde das Klangbild auch nicht ungewöhnlich blechlastig.


    Mit diesen generellen Eindrücken liegst Du m. E. richtig.


    Zitat

    Ein wenig antiquiert wirkt auf mich der unstillbare Drang Karajans, Töne und Phrasen zu binden, zu binden und nochmals zu binden.


    Das ist "Lagerdenken". Nur weil etwas nicht der DERZEIT vorherrschenden Darstellungsweise entspricht, ist es in der Kunst nicht per se "antiquiert". Außerdem kannst Du das auch nur unter dem Eindruck etwa der Einspielung unter Norrington u. vgl. schreiben. Denn verglichen mit anderen "traditionellen" Phrasierungen, gibt es hier kein betontes Legato.

    Zitat

    Dass man auch differenzierter artikulieren kann, ist ja nicht erst eine Erkenntnis von HIP, auch wenn Karajan mit dieser Praxis damals nicht allein war. Das wird vom Orchester zweifellos ausgezeichnet umgesetzt,


    Nicht derjenige realisiert eine gute oder hervorragende Interpretation, der am "differenziertesten artikuliert". Ein seltsames Kriterium, das Du da (zumal bei Schubert) zum Gradmesser machst.


    Zitat

    von der vielbelästerten Klangsauce würde ich hier nicht sprechen.


    Man kann, wenn man sich auskennt und nicht Arges im Schilde führt, bei Karajan nie eine "Klangsauce" finden.


    Zitat

    Mit Ausnahme des A-Teils von Scherzo und Trio spielt Karajan keine der vorgeschriebenen Wiederholungen.


    Das ist richtig.


    Zitat

    Das ist bedauerlich, im Kontext der damaligen Aufführungspraxis aber normal.


    Eine gute (d.h. emotional berührende) Interpretation hängt nicht davon ab, ob Wiederholungen gespielt werden. Zum Für und Wider der Wiederholungen wurde gerade hier im Thread auch schon viel geschrieben.


    Zitat

    Ingesamt ist das (für die 60er Jahre) eine werkdienliche Interpretation auf hohem Niveau.


    Welche werkdienlichen Interpretationen auf höherem Niveau aus den 60ern kennst Du denn? Und warum ist deren Niveau explizit höher?


    Zitat

    Karajan betont fast durchweg mehr das schnell Fließende,


    Das erscheint mir auch so.


    Zitat

    spielt dynamische Höhepunkte voll aus,


    Keine Ahnung, was das bedeuten soll? Wenn das andeuten soll, dass es in dieser Aufnahme überzogene dynamische Höhepunkte gebe, so stimmt das nicht.


    Zitat

    nimmt das Scherzo recht ruppig (Beginn im ff, nicht im Forte),


    Das erscheint mir auch so.


    Zitat

    lässt die Melodie des Trios breit strömen


    Das erscheint mir auch so.


    Zitat

    (vernachlässigt allerdings etwas die rhythmisierten Begleitstimmen)


    Warum sollten die exponierter in den Vordergrund treten?


    Zitat

    und gestaltet das Finale legitimerweise als Tour de force.


    Kann man sagen.


    Zitat

    Den Hauptsatz des Allegro ma non troppo nimmt Karajan relativ, aber nicht ungewöhnlich schnell


    Kann man sagen.


    Zitat

    und ist bei gewissen Temporückungen ganz der Tradition verhaftet (Abstoppen beim zweiten Thema, beim Ende des zweiten Themenkomplexes sehr deutliches Accelerando zum Grundtempo).


    Die Wirkung ist jedenfalls sehr überzeugend.


    Zitat

    Bei der Schlussapotheose des Hornthemas bleibt Karajan zwar nicht ganz im Tempo (was nach der recht schnell genommenen Stretta auch schwer möglich wäre), verbreitert aber im Gegensatz zu Furtwängler, Böhm et. al. das Tempo nur sehr wenig. Bemerkenswert.


    Lieber Bernd, auf Deine Bitte hin hatte ich das auch mehrfach abgehört, mitgeschlagen und anschließend, weil ich meiner innernen Uhr misstraute, auch noch mal in 10 Takt Schritten an der Uhr des CD-Spielers überprüft. Das Ergebnis war, dass Karajan über die gesamte Coda (ab T. 570) hinweg (abgesehen vom ben marcato, ab T. 662, das etwas langsamer wird) das Tempo konstant hält (ja 8 Sek. pro 10 Takte; möglich allenfalls Abweichungen von 0,5 Sek. pro 10 Takte). Und meine Messergebnisse habe ich alle oben im Detail mitgeteilt. Wo habe ich mich denn da vermessen/geirrt?


    Zitat

    Neben dieser Passage waren es wohl vor allem zwei Tempi, die die Zeitgenossen damals etwas verstört haben: Zunächst die Einleitung zum ersten Satz, die hier tatsächlich als ruhig strömendes Andante und nicht als Adagio erklingt.


    Das erscheint mir auch so.


    Zitat

    Für heutige Verhältnisse sind 3:15 Minuten bis zum Eintritt des Allegro nicht übermäßig schnell, für die damalige Zeit waren sie es schon (vgl. Norberts obige Aufstellung).


    Kann man sagen.


    Zitat

    Worauf Karajan nicht verzichtet, ist das partiturwidrige Accelerando am Schluss der Einleitung - es fällt zwar aufgrund des geringeren Tempounterschieds zwischen Einleitung und Hauptsatz nicht so extensiv aus wie bei Böhm oder gar Furtwängler, ist aber natürlich trotzdem sehr gut hörbar (hier wie der CD-Begleittext
    von "seamless transition" zu sprechen, trifft nicht den Kern der Sache).


    M. E. trifft es "seamless transition" perfekt. So etwa hatte ich es auch beschrieben. Und das entspricht auch meinen Messergebnissen, die ich, lieber Bernd, auch an dieser Stelle für Dich durchgeführt habe. Das Accelerando ist kaum wahrnehmbar. Die zahlreichen spannungssteigernden Elemente, die Schubert an dieser Stelle komponiert hat, dürfen einen nicht zur irrigen Annahme eines entsprechenden Accelerando verleiten.


    Zitat

    Dann der zweite Satz: Hier ist Karajan mit 12:20 selbst aus Sicht heutiger Interpretationspraktiken sehr schnell (ähnlich etwa Norrington), was aufgrund der Tempovorschrift Andante con moto unzweifelhaft legitim ist (auch wenn es nicht ganz meinem Geschmack entspricht). Das wird gut gemacht, man hat nie den Eindruck von Hektik, sondern nur den eines relativ schnellen Schreitens. Das zweite Thema darf durchaus singen.


    Das erscheint mir auch so. Hervorzuheben ist das "Federnde" in der Bewegung, das ich hinreissend finde.


    Zitat

    Was allerdings auffällig fehlt - und das ist nicht (nur) eine Frage des Tempos - ist eine Reaktion der Musik auf die fff-Katastrophe des Höhepunktes. Dass danach die Musik erst wieder zu sich finden muss und doch nie wieder zu sich findet, hört man bei sehr verschiedenartigen Dirigenten gestaltet: bei Karajan nicht - hier fließt gleich mit dem ersten Ansetzen der Celli die Musik unbeeindruckt weiter. Ich bringe ungern den abgewetzten Dualismus Oberfläche vs. Tiefe ein, aber hier fällt mir nichts Besseres ein: Karajan bleibt hier zu sehr an der Oberfläche.


    Nach der fff-Katastrophe hat Schubert eine Generalpause komponiert. In dieser klingt die "Katastrophe" nach. Danach komponiert Schubert zaghafte pizzicato/staccato Achteln der Streicher im pianissimo. Hier findet die Musik wieder Schritt. Anschließend beginnen die Celli einen wehmütigen Gesang (arco)! Hier ist die Musik schon wieder bei sich. Alles andere ist romantisch maniriert und nicht komponiert. Ich habe ja nichts gegen derlei Darstellungen, aber Karajan ist deshalb noch lange nicht obverflächlich, auch wenn das mit Deinem Vorurteil so schön anschlussfähig wäre.


    Zitat

    Karajan bietet eine gute, im Kontext der damaligen Interpretationspraxis stellenweise ungewöhnliche und insgesamt überzeugende Einspielung.


    Ersetze "gute" durch "sehr gute" oder "umwerfende" und es stimmt. :D


    Loge

    Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Ich sehe Karajan auch als "aus der Sache heraus" arbeitenden Musiker, gar keine Frage. Hier steht er tatsächlich, merkwürdig zu sehen, im Gegensatz zum Philologen Harnoncourt, der sich seine "Notentexttreue" mit umso größerer Ellenbogenfreiheit beim Interpolieren, äh, Interpretieren hat bezahlen lassen.


    Man muß aber auch anmerken, daß Karajan sehr wohl retuschieren konnte. Er hat selten Wiederholungen spielen lassen (Platte wie Aufführung), hat in der Missa Solemnis munter schwere Stellen transponiert und sein schon früh beginnendes Auswendiglernen der Partituren mag dazu geführt haben, daß er später errungene "Erkenntisse" neuerer Ausgaben nicht mehr in wünschenswertem Maße hinzugezogen hat.


    Herangezogen hat er aber durchaus, so z. B. bei seinem zweiten "Figaro" von 1978, bei dem die Version der Neuen Mozart Ausgabe (1973) zugrunde gelegt wurde.


    Außerdem: Ein fehlendes Päuschen oder Pünktchen hier, eine andere Wendung in einem Arpeggio dort, was bedeutet das schon gegenüber einer bezwingenden, ganzheitlichen, sternstündigen Interpretation eines großen Dirigenten. :D


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Objektiv läßt sich aber nachweisen, daß Karajan als Förderer der Neuen Musik Unsinn ist. Die Tradition der Opern-Uraufführungen wurde von Karajan gebrochen mit Hinweis auf den Mißerfolg von Heimo Erbses "Julietta" (der aber nur ein Presse-, kein Publikumsmißerfolg war; wer's nicht glaubt, möge sich beim ORF den Uraufführungsmitschnitt bestellen).
    Das wenige, was dennoch stattgefunden hat, wurde eher trotz als wegen Karajan angesetzt. Wer es nicht glaubt, gehe zur homepage der Salzburger Festspiele, dort ist jedes Werk, das gespielt wurde, verzeichnet. Ich hab's irgendwo auch schon bei Tamino aufgelistet, verzichte jetzt aber darauf, um mich nicht zu wiederholen.


    Die Neue Musik reduziert sich nicht auf Opern. Aber auch hier, vor allem aber in den übrigen Genres ist die Neue Musik im Rahmen der Salzburger Festspiele unter Karajans Leitung sehr wohl zu ihrem Recht gekommen. Das lässt sich in der Tat den veröffentlichten Programmen entnehmen.


    Loge

    Zitat

    Original von Ulli
    Selbstverständlich muß jeder Künster überzeugt sein von dem, was er tut und wie er es tut. Eine Interpretation aber bedarf m. E. nämlich keiner Erklärungen. Wenn sie schlüssig und für das empfangende Publikum "richtig" ist, hat sie Geltung. Andernfalls nicht. Wenn Harnoncourt ganz bewußt anders [um nicht zu sagen: fehl-] interpretiert [und die Fehler lassen sich im Figarothread nachlesen], so provoziert er. Er sucht nicht nach der Wahrheit, er inszeniert sich selbst, was er möglicher Weise von Karajan gelernt hat - er setzt dies nur anders [!] um. Letztlich müsste man seine "Interpretationen" ebenso wie die modernen Inszenierungen besonders kennzeichnen als Bearbeitung.


    Natürlich "bearbeitet" jeder Interpret ein x-beliebiges Werk - aber es handelt sich dabei um normale und tolerierbare Nuancen und nicht um solche offensichtlichen Grobheiten wie bei Harnoncourt, der es m. E. wirklich besser wissen müsste als beispielsweise Karajan. Und genau das ärgert mich an ihm...


    Lieber Ulli,


    sehr richtig finde ich Deinen Gedanken, dass eine Interpretation ohne Erklärungen auskommen muss, wenn sie gut sein will. Insofern sind die vielen begleitenden Erläuterungen durch Dirigenten wie Harnoncourt oder Boulez ansich bedenklich. Wobei man bei Boulez (jedenfalls sofern er Neue Musik dirigiert) gnädiger sein muss, denn diese Musik bedarf regelmäßig (noch) der Erläuterung. Aber Du deutest auch gleich zweimal an, Karajan habe wie Harnoncourt (nur auf andere Weise) bei seinen Interpretationen "Bearbeitungen" (wie Du es nennst) geboten. Das ist sehr daneben, denn Karajan war ein sehr texttreuer Dirigent. Er hat die Partituren, die ihm verfügbar waren, sehr genau umgesetzt und seine Aussage AUS DEM TEXT heraus entwickelt, nicht aber eine Aussage von außen AN DEN TEXT herangetragen. Das ist ein wesentliches Moment bei Karajan!


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Was derzeit stattfindet, ist eine Schwemme von Karajan-Threads, die im Irrglauben eröffnet werden, wenn Karajan auf durchschnittlich 7 Threads mehr kommt als jeder andere Interpret, ist er zwangsläufig auch 7 Mal bedeutender. Für mich ist das hingegen nichts als Hysterie und Götzendienst. Meiner Meinung nach würde es dem Forum sehr gut tun, sich gegen diese Karajanitis impfen zu lassen, denn wenn sie so fortschreitet, ist es ihre perniziöse Form.


    Ich habe mal nachgesehen, wer die diversen existierenden Karajan-Threads eröffnet hat: je 1 x BigBerlinBear, Marc, Ulli, Liebestraum und ansonsten natürlich Alfred Schmidt. Was soll uns das jetzt in viraler oder gar metaphysischer Hinsicht bedeuten?


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Lieber Alfred,


    Das verstehe ich jetzt aber nicht. Im Thread "Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag - Was bleibt?" unternimmt Loge einen bei ihm wie immer beredten und sicherlich auch kenntnisreichen Versuch zum Nachweis, daß Karajan ein wesentlicher Förderer der zeitgenössischen Musik war.


    Ich gaube nicht, dass Alfred damit Recht hat. Verfolgt man das aktuelle Programm der Berliner Philharmoniker, so fällt auf, dass es, wie in den 60er und 70er Jahren unter Karajan (in den 80er Jahren hat Karajan oftmals nur noch ein Werk pro Abend aufgeführt) in einer Mischung aus Zeitgenössischem und "Klassikern" zusammengestellt ist. Dass das schon bei Karajan so war, habe ich im Thread "Bernstein vs. Karajan" mit Aufführungszahlen näher ausgeführt. Wolfgang Stresemann hat das auch verschiedentlich bestätigt. Im Thread "Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag - Was bleibt?" habe ich nur die Worte Flimms zitiert, der Karajan als einen wesentlichen Förderer zeitgenössischer Musik preist. Seine Worte leuchten auch unmittelbar ein, denn es ist bekannt, dass Karajan der zeitgenössichen Musik aufgeschlossen war (auch wenn er selbst das Meiste nicht dirigiert hat). Und als einer der maßgeblichen Leiter eines der bedeutendsten Musikfestivals seiner Zeit, der Salzburger Festspiele, kommt es nicht von ungefähr, ihn als wesentlichen Förderer zu bezeichnen. Hierin unterscheidet sich Karajan dem Grunde nach nicht so sehr von Rattle, wobei letzterem natürlich entgegen kommt, dass seine Ausbildung in die Zeit der Avantgarde fällt, so dass er mit der Neuen Musik groß wurde.


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Karajan hingegen liest auch in dieses Werk seine eigenen Klangvorstellungen hinein, die etwa in der 2. Variation ab Partitur Takt 90, Einsatz Posaune - aber keineswegs nur hier - so nicht notiert sind.


    Ich habe diese m. E. unrichtige Behauptung im Schönberg op. 31 Thread erwidert, denn hier wäre die weitergehende Diskussion OT.

    Loge

    Folgenden Auszug aus einem Beitrag von Edwin habe ich aus dem Karajan vs. Rattle Thread hierher kopiert, um die Diskussion nicht dort OT zu führen.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Innerhalb der nimmt das Schönberg-Werk in einem bestimmten Aspekt eine für Boulez relevante Position ein. Dieser Aspekt ist der Umgang mit dem Motiv bzw. die Verwandlungsmöglichkeiten der Reihe. Boulez geht dabei, wie stets, minutiös von der Partitur aus. D.h., sein oberstes Gebot ist, das Notierte zu realisieren, während die persönliche Interpretation eine untergeordnete Rolle spielt. Karajan hingegen liest auch in dieses Werk seine eigenen Klangvorstellungen hinein, die etwa in der 2. Variation ab Partitur Takt 90, Einsatz Posaune - aber keineswegs nur hier - so nicht notiert sind.


    Ich habe mir die 2. Variation unter Karajan (DG) und Boulez (Sony) im direkten Vergleich anhand der Partitur angehört.


    In der 2. Variation, die Schönberg als "lieblich" beschrieben hat, liegt das Thema in den Kanonstimmen. Es entsteht ein Gewebe von Immitationen. Die Kontrapunkte wechseln. Zwar stimme ich Edwins Auffassung zu, wonach Boulez stets versucht ist, minutiös das Notierte auszuführen, und zwar zuweilen ohne Rücksicht auf "hinter" den Noten stehende Inhalte oder Gesamtheitliche Strukturprinzipien. Gerade in der 2. Variation gelingt ihm das aber nicht.


    Während bei Karajan die gestaffelte Kanonstruktur dieser Variation aus Hauptstimme, Nachahmung der Hauptstimme und Kontrapunkt klar herausgearbeitet ist, kippt diese Struktur bei Boulez schon bei der ersten Nachahmung der Hauptstimme (T. 83f.). Die Nachahmung geht unter und ist bei Boulez nur mit großer Mühe als solche zu identifizieren [0:06 - 0:10]. Das Gleichgewicht der Stimmen (ein beinahe fixes Gestaltungsmittel Boulez') löst bei Boulez die Strukturen auf.


    An der von Edwin angesprochenen Stelle in T. 90f., an der Stütztöne der Posaunen (3./4.) ohne motivische Bedeutung piano erklingen, kann man hören, dass Karajan das notierte cres./decres. ausführen lässt, der Ton der Posaune schwillt bei ihm merklich an [0:39 - 0:46], während dies bei Boulez nicht der Fall ist [0:27 - 0:32].


    Ich kann momentan nicht erkennen, dass Karajan hier (oder sonstwo in der 2. Variation) die Partitur nicht korrekt umgesetzt hätte. Im Gegenteil. Worin, lieber Edwin, soll die eigenmächtige Abweichung genau bestehen?


    Sehr verbunden, lieber Edwin, wäre ich Dir auch, wenn Du Deine folgende Behauptug zu Karajans Interpretation hier noch ein wenig erhellen könnest. So ist mir das nicht verständlich. Gilt das Deiner Meinung nach generell oder nur an einer bestimmten Stelle? Vielleicht hast Du ein Beispiel?


    Zitat

    (dissonierende Stimmen sind auch dann nur Farbwert, wenn Schönberg sie eindeutig als HS, also Hauptstimme, bezeichnet)


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ein sinnvoller Vergleich zwischen Karajan und Rattle ist meiner Meinung nach fast unmöglich, die beiden sind grundverschieden. Ähnlich sind sie sich nur insoferne, als weder der eine noch der andere besonders in die Tiefe geht, beide sind weniger abgründigen Interpreten sondern Wiedergabe-Maschinen.


    Abgesehen davon, dass ich das Doppelwort im Abschluss für eine vollkommen verunglückte Diktion halte, erscheint mir diese Behauptung auch inhaltlich verfehlt. Dirigenten sind in gewissem Sinne Wiedergabe-Medien. Wenn sie gerühmte Interpretationen eines Werkes gestalten, darf man getrost von einer tiefen Durchdringung des musikalischen Materials ausgehen (das ist Vorbedingung), das sie dann mit individueller Schwerpunktbildung und Gewichtung der Ausdrucksmittel, vielleicht auch modifiziert durch außermusikalische Ideen zum Erklingen bringen. Und selbst wenn man Dirigenten allzu kühl als "Maschinen" bezeichnen wollte, so würde diese Umschreibung eher auf emotionslose Dirigenten wie Boulez oder auch Gielen zutreffen, die jede Musik im Sinne totalitärer Tendenzen der Avantgarde unterschiedslos einer bedingungslosen und scharfkonturierten Rhythmik sowie nach den Prinzipien einer vertikal ausbalancierten Transparenz sezieren. Boulez selbst legte Wert darauf nicht Dirigent, sondern "Koordinator" oder, noch lieber, "Operateur" genannt zu werden.


    Veranschaulichendes Beispiel (unter Verwendung der kursiv hervorgehobenen, sinnfälligen Umschreibungen aus Peter Uehlings Karajan-Biografie): Schönberg, Variationen für Orchester op. 31, IV. Variation (Walzertempo): Karajan (DG) gestaltet die Variation sehr gestisch, ein stilisierter Tanz wird vorstellbar. Nicht so bei Boulez (Sony), der seine volle Aufmerksamkeit der Balancen widmet. Entscheidend ist der Schluss, in dem die Musik in einem poco ritardando ausklingt. Bei Karajan hat man den Eindruck, dass die Musik wie untröstlich zerbricht [1:06 - 1:11]. Bei Boulez wirkt die gleiche Stelle wie ein mechanisches Bremsen [1:11 - 1:18]. Es ist, als ob ein ICE zum Stehen kommt - maschinell.


    Mir sind derlei mechanistische Wiedergaben, die bei Boulez aufgrund seiner Ausdrucksprinzipien öfter entstehen, weder bei Karajan noch bei Rattle bekannt. Letztgenannte sind nach meinem Empfinden stets bemüht, der Musik im Zuge ihrer interpretatorischen Umsetzung noch eine humane Dimension beizugeben, den (technischen) Notentext zu "vermenschlichen".


    Loge

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Sind die Musiker verblödet? Haben sie keine Ahnung mehr, wer sie zu Höchstleitungen führt?


    Mitnichten.


    Vollste Zustimmung! Das ist ja auch der Grund, warum sich die Orchester um Karajan rissen und er mit den Philharmonikern aus Berlin und Wien, nicht die Geringsten ihrer Zunft, unvergleichlich Epoche machte!


    Loge

    Was bleibt?


    "Bemüht um zeitgenössische Musik. – Wenn man die Geschichte der Salzburger Festspiele studiert, dann zieht man den Hut vor dieser Lebendigkeit, vor dieser großen ästhetischen Diskussion und vor allem vor den Bemühungen um die zeitgenössische Musik, die allesamt mit dem Namen Herbert von Karajan verbunden sind.


    Ich höre immer noch Karajan-Aufnahmen, diese behalten immer noch ihre Gültigkeit. Interpretationen anderer Dirigenten sind eben anders, das war zu seiner Zeit genauso. Vielleicht wird heute nicht mehr so ausgeklügelt musiziert, nicht so kontrolliert und perfekt – eben ein wenig mehr aus demAugenblick? Was von ihm bleiben wird? Größe."


    (Jürgen Flimm, Regisseur, Intendant der Salzburger Festspiele)


    Loge

    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich war nicht mehr ganz jung, als ich Karajan erstmals im Interview HÖRTE. Die brüchige krächzende Stimme war mir von Anbeginn an unsympathisch - ein negativer Ersteindruck also.
    Der war aber schon nach wenigen Minuten total weggewischt.
    Karajan konnte das was er wollte stets begründen - er tat dies zumeist in knapper Form - egal ob er im Einzelnen nun recht hatte oder nicht -sein Gedankengang war stets nachvollziehbar.


    In diesem Zusammenhang steht der Ausspruch Rattles über Karajan: "He was a man completely without bullshit." Und mit dieser Aussage ist zugleich ein wesentlicher Unterschied zu Celibidache bezeichnet. "Bullshit" ist ja nicht notwendig Unsinn, sondern steht bei den pragmatisch veranlagten Angelsachsen eher für ein Reden als Selbstzweck, ein nebulös um die Sache herum reden, ein sachfremdes Labern. Und das kann man bei Celibidache in seinem Reden und in gewisser Weise auch in seinem später unentschieden wirkenden Musizieren sehr häufig feststellen.


    Loge

    Zitat

    Original von Barbirolli
    Wenn ich das richtig sehe, dann hat Marc seine erhellenden Erkenntnisse im Satire-Forum gepostet - also mehr Sorgfalt walten lassen, als viele andere, die die "Allgemeinen Klassikthemen" über Gebühr füllen...


    Nein, er hatte seine geistreichen Ausführungen ursprünglich im Dirigentenforum untergebracht. Du darfst, lieber Barbirolli, nicht zuviel von Marc und den Seinen erwarten.


    Loge