Edwin hat das Thema der Urteile von Musikern über Musiker aufgebracht. Dazu ein paar Anmerkungen:
Die Musik ist wie die Malerei eine Kunstform, die von den sie in verschiedenen Funktionen Ausübenden in aller Regel ein erhebliches Maß an Technik verlangt, die oft jahrelang erlernt werden muss. Diese Seite der Musikausübung dürfte der objektiven Beurteilung durch Dritte weitestgehend zugänglich sein. Daneben gibt es in der Musik, wie in allen anderen Kunstformen auch, eine nicht-technische, ästhetische, künstlerische Seite, bei der es darum geht, durch die Musikausübung Emotionen im Hörer hervorzurufen, seine „inneren Saiten zum klingen zu bringen“, ihn also in irgendeiner Weise zu berühren, nachdenklich zu machen. Diese Facette der Musikausübung ist zwar zu einem gewissen Grade auch der konsensfähigen Beurteilung zugänglich, allerdings weitaus weniger als die technische Seite. Jeder Mensch wird ja durch die Musik in unterschiedlicher Weise angesprochen. Und wir können letztlich nur im Wege der empirischen Betrachtung zur Kenntnis nehmen und abschätzen, ob und wie sehr ein Künstler mit seiner Kunst andere anzusprechen vermag. Ist die Resonanz auf seine Kunst, hier die Musikausübung, groß, anhaltend oder vielleicht auch heftig umstritten, so können wir schließen, dass seine Kunst, indem sie viele heftig anspricht, andere hingegen nicht, jedenfalls nicht belanglos ist. In Anlehnung an Edwins oben geäußerten Gedanken wird man in der Tat sagen können (ohne das hier ein unbedingt notwendiger Zusammenhang bestehen muss), dass das Gewicht, die Bedeutung, die Vehemenz der künstlerischen Aussage eines Künstlers umso größer ist, je heftiger die Konflikte sind, die er unter den Rezipienten auslöst. Denn es kann ja in der Kunst (ins Extrem gewendet) nicht darauf ankommen, mit einer künstlerischen Aussage auch wirklich JEDEN Menschen gleichermaßen glücklich zu machen. Darin läge eine ungeheuere Anmaßung, ja eigentlich eine Unmöglichkeit (das schafft selbst Mozart mit seiner gleichermaßen hinreißenden wie vergleichsweise unaufdringlichen Kunst nicht). So gesehen ist die unvergleichliche und nun schon jahrzehntelang lange über den Tod Herbert von Karajans hinaus um die ästhetische Bedeutung seines künstlerischen Schaffens mit großer Vehemenz geführte Diskussion (für sich schon ein beeindruckender Umstand für einen Dirigenten) jedenfalls ein deutliches Anzeichen dafür, dass seine künstlerischen Aussagen von hoher Individualität und Entschiedenheit geprägt sind. Die lassen sehr, sehr viele Menschen nicht unberührt (in der Verehrung, wie in der Verdammung, wobei ersteres weltweit unter den Interessierten weitaus überwiegt). Parallelen unter nachschaffenden Musikern zu finden, fällt schwer. Vielleicht ist zunächst an G. Gould zu denken. Unter Komponisten (für sie gilt im wesentlichen das Gleiche) lassen sich R. Wagner oder K. Stockhausen anführen, deren Kunst jeweils ähnlich polarisierend wirkt. Soviel zur Beurteilung der ästhetischen Seite.
Die technische Seite der Musikausübung steht – wie gesagt – grundsätzlich der konsensfähigen Beurteilung offen. Hier ist nun sehr sorgfältig zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: In objektiver Hinsicht geht es um die Frage, ob und inwieweit der Beurteilende überhaupt die Voraussetzungen mitbringt, die konkret in Rede stehende technische Seite der Musikausübung zu beurteilen, d. i. die Frage nach dem Sachverstand. In extremis: Bäte ich einen Friseurmeister um die Beurteilung der Schlagtechnik Karajans, so müsste ich (was auch immer seine Antwort wäre) an der Aussagekraft seines Urteils vernünftigerweise zweifeln. Sie wäre wenig bis nichts wert. In subjektiver Hinsicht geht es um die Frage, ob und inwieweit der Beurteilende (sein Sachverstand sei bezeugt) die konkret in Rede stehende technische Seite der Musikausübung frei von persönlichen Voreingenommenheiten oder sachfremden Motiven beurteilt, d. i. die Frage nach der Befangenheit. Die für mich relevanten Kriterien bei der Beurteilung eines Urteils eines Musikers über einen anderen Musiker sind also Sachverstand und Maß der Befangenheit. In extremis: Der neben Karajan stehende und sich Hoffnung auf einen Auftritt bei den kommenden Salzburger Festspielen machende renommierte Dirigent X wird von einem instinktlosen Journalisten zum Orchesterklang Karajans gefragt. X ist als renommierter Dirigent in der Lage zu beurteilen, welche Schwierigkeiten die Erzeugung eines bestimmten Klanges mit sich bringt, er hat also den Sachverstand. Zweifel bestehen gleichwohl an seiner Unbefangenheit, denn er steht direkt neben dem mithörenden Karajan und hat ein Interesse daran, sich mit diesem gut zu stellen. Wenn er sich also überschwänglich über die grandiosen Fähigkeiten Karajans bei der Klangerzeugung äußert, dürfen hier Zweifel an der Aussagekraft dieser Äußerung angemeldet werden. Entgegen Edwins Ausführungen kann es mich vor diesem Hintergrund aber nicht überzeugen, die Aussagen von Kollegen generell als unsachlich oder befangen abzutun. Und ich meine auch nicht, dass die Aussagen umso verlässlicher werden, je „berufsferner“ der sich Äußernde zur Profession des Beurteilten steht. In unserer Gesellschaft wird seit Jahrhunderten eigentlich das Gegensteil praktiziert. Immer sind die befragten Sachverständigen vom Fach, regelmäßig sogar renommierte Berufskollegen. Und wer wäre eher in der Lage unmittelbar und umfänglich z. B. das „Genie“ eines Garry Kasparov zu ermessen, als sein direkter und nur geringfügig unterlegene Konkurrent um die Schachkrone. Die von derlei Spielen berichtenden Sachverständigen (auch alles geübte bis große Schachspieler) vollziehen dagegen auf minderer Erkenntnisebene schon nur noch nach. Das geht dann so runter bis zum Laien, der es gar nicht mehr ermessen kann und an das „Genie“ nur noch glauben kann. Natürlich gibt es bei der Beurteilung des sehr vielschichtigen Tuns eines Dirigenten auch technische Fragen, die besser von Orchestermusikern, Solisten oder Sängern beurteilt werden als von dirigierenden Kollegen. Aber das hat dann nur etwas damit zu tun, dass diese dann den für die konkrete Frage größeren Sachverstand haben. Wenn es z. B. darum geht, ob Karajan ein grandioser Solisten- oder Sängerbegleiter war, so haben die Aussagen von C. Ludwig und J. Norman, wonach Karajan hier schier singuläre Fähigkeiten besaß, indem er wie kein anderer in der Lage gewesen sei, Sänger atmen und pianissimo singen zu lassen, auf der Ebene des Sachverstands erheblich mehr Gewicht als die entsprechende Aussage eines Dirigenten, der das überwiegend nur von den Sängern selbst erfahren haben kann.
Auf der Befangenheitsebene spielen nun viele Umstände eine Rolle. Sehr wesentlich kann sein, ob ein von Kollegen oder sonstigen Musikern zu beurteilender Dirigent noch lebt oder schon viele Jahre tot ist. Lebt er noch und hat er „Macht“, so dürften die Aussagen innerhalb seiner Einflusssphäre tendenziell positiv ausfallen. Steht der sich Äußernde in einem ästhetisch „gegnerischen“ Lager, so sind aus verständlichen Gründen ebenfalls Zweifel erlaubt. Relevant kann auch sein, ob ein Solist oder Orchestermusiker von dem betreffenden Dirigenten gefördert oder zurückgesetzt wurde. Ist der Dirigent schon Jahrzehnte tot und hat sich seine Einflusssphäre verflüchtigt, so ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich die Menschen unbefangener äußern werden. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Urteile insgesamt ausgewogener, angemessener werden. In aller Regel werden ja nach Jahrzehnten kaum noch Urteil über einen nachschaffenden Künstler gefällt, weil sie in Vergessenheit geraten sind. Ist dies nicht der Fall, so spricht allein dies Bände von der Bedeutung eines Künstlers.
Würdigen wir nach diesem kurzen Vorspann nun noch einmal die diversen AKTUELLEN Äußerungen renommierter Kollegen über Karajan (denn deren Urteilen sei nach Edwins Auffassung ja am wenigsten zu trauen) und fragen uns (jeder für sich, gerne aber auch hier im Thread mit sachlicher Begründung), was im Hinblick auf die Ebene der Befangenheit von ihnen zu halten ist (Anm.: Ich meine, dass wir hier nicht beginnen sollten, den Sachverstand Barenboims, Rattles, Gielens, Jansons etc. in Fragen der Orchestererziehung, Klangerzeugung etc., also der technischen Seite des Dirigierens zu diskutieren. Und auch die überschwenglichen ästhetischen Wertungen der Kollegen sollten wir einmal außen vor lassen und uns an der Tatsache erfreuen, dass hier hochsensible und kultivierte Musiker in den höchsten Tönen von ihrer Resonanz auf die Ästhetik Karajans sprechen, womit das Märchen widerlegt ist, dass Karajan Sounds für den unbedarften Feierabendhörer kreiert hätte):
Jeder, der sich Karajans Aufnahmen speziell von Strauss, Bruckner oder Wagner anhört oder aber die italienischen Opern oder Debussy (unvergesslich: die "Pelleas"-Aufnahme!) - der wird merken, dass Karajan einer der größten Dirigenten aller Zeiten war. (Sir Simon Rattle)
Und er hatte seine besondere Art, wie er den Klang "ernährt" hat. Der Klang lebt weiter bei Karajan. Das ist etwas, wonach wir anderen immer noch alle suchen. (Sir Simon Rattle)
Ich muss ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich Angst habe, wir könnten heute in Gefahr sein, unsere großen Meister zu vergessen. Niemals dürfen wir vergessen, wer Karajan war! Er war einer der besten Dirigenten in der gesamten Dirigentengeschichte. (Mariss Jansons)
Karajan war in meiner Erinnerung immer wie ein Vogel, der höher fliegt als alle anderen....Er sieht Dinge, die wir nicht sehen können... Und er konnte sie [seine Ideen] verwirklichen, weil er ein Genie war. (Mariss Jansons)
Sonst weiß ich außer C. Kleiber niemanden, der über dieses Genie verfügt. (Micheal Gielen in Bezug auf den Klangmagier Karajan)
Als Karajan nachkam, da verwandelte er gleich in der ersten Probe den Klang auf magische Weise in den "Karajansound": eine Art Wunder....So etwas nenne ich einen genialen Kapellmeister. (Michael Gielen)
Es hat auch niemand von uns nach ihm wieder solche Klänge hervorzaubern können. (Micheal Gielen)
...Das ist Karajan zu danken, der Puccini in den höchsten Rang erhoben hat. (Michael Gielen)
Gelernt habe ich von Karajan aber viel in Bezug auf Bruckner, viel mehr als von den sogenannten Bruckneraposteln. (Nikolaus Harnoncourt)
Er war der letzte große Meister....Wer einmal die Streicher so hat singen hören, der wird das niemals vergessen....Und was heißt überhaupt "glatt"? Wenn eine Musik glatt klingt, weil dem Dirigenten nichts einfällt zu dem Stück, dann wäre das etwas anderes. Aber Karajan hat genau gewusst, was er tat. Schönheit entsteht nicht von allein. Es ist furchtbar schwer, ein Orchester so schön klingen zu lassen, wie es Karajan gelang... (Christian Thielemann)
Von historischer Bedeutung für das Musizieren waren nur sehr wenige, nämlich: Furtwängler, Toscanini, Szell, Karajan, und Boulez....Die historische Aufführungspraxis heute ist eine Reaktion auf den Karajanklang. Nur richtet sich das meiner Meinung nach weniger gegen Karajan selbst, sondern gegen die Karajanepigonen, die Wischiwaschi in seinem Kielwasser schwammen....Karajan ohne Persönlichkeit, ohne Genie, das ist langweilig! (Daniel Barenboim)
Es gibt eine Filmaufnahme über seine Probe von der Vierten Schumanns mit den Wiener Symphonikern. Phänomenal! Davon können alle Dirigentenschüler eine Menge lernen: Wie man zu einem Orchester spricht, mit der richtigen Mischung aus Höflichkeit, Sachlichkeit, Autorität und Respekt. (Daniel Barenboim)
Wenn diese Stellungnahme auch nur das Ergebnis der Beurteilung enthalten und die einzelnen gedanklichen Schritte der Kollegen für uns nicht nachvollziehbar sind, so sind die Aussagen für mich jedenfalls in dieser Breite eindeutig und aussagekräftig (denn es sind sowohl Schüler als auch Konkurrenten und "Gegner" befragt worden) - und jetzt muss ich vor Rührung schon wieder weinen ;(.
Loge