So wie Karajans Interpretationsästhetik stark durch die spätromantische Musik (Klangopulenz, Mischklänge, Schönklang etc.) geprägt ist, was zu streitbaren Ergebnissen führte, je älter die Musik war, die er interpretierte (also alles vor Mozart, Beethoven, manche meinen neuerdings sogar schon Beethoven), ist Boulez' Interpretationsästhetik von der Seriellen Musik (größtmögliche Klarheit, Transparenz, im Extrem Gleichberechtigung oder mathematische Quantifizierung der Parameter etc.) beeinflusst, was ebenfalls zu streitbaren Ergebnissen im romantischen Fach führt (also alles vor Schönberg/Stravinsky). Wenn Boulez aktuell auch bei Mahler oder gar Bruckner zu reüssieren scheint, ist das aus meiner Sicht hauptsächlich seiner bedeutenden Persönlichkeit geschuldet. Er ist neben Harnoncourt der heute "große Alte", von dem man das eben einmal hören will. Ich bezweifle, dass es sich langfristig durchsetzen kann. Sein Ring verdankt seine Bedeutung im wesentlichen der epochalen Inszenierung Chéreaus, vor allem deshalb sollte man das auf DVD kennen. Applaus erfährt Boulez für seinen Wagner insbesondere von Musikern, die eben auch der seriellen Schule (Boulez, Nono, Messiaen u.a.) nahestehen, zumal es ja in diesem Idiom hervorragend musiziert ist. Es ist aber nicht der spätromantische und von Wagner in seinen Partituren angestrebte, berückende Orchestermischklang. Ein Blick in die Partituren zeigt, wer hier authentischer musiziert. Ich würde bei Wagner heute eher auf die Schulen Furtwängler, Knappertsbusch, Böhm, Karajan, Solti setzen. Leider sind die beinahe ausgestorben. Vielleicht kann Thielemann für eine vorübergehendes Weiterleben sorgen.
Übrigens: Ein Geheinmis des legendären Orchesterklangs Karajans besteht darin, dass er Töne jeweils bis zum Taktende aushalten lässt, so dass sich der Folgetakt nahtlos anschließt. Die Musik bekommt dadurch etwas ausgeprägt Fließendes. Dass das enorm schwer umzusetzen ist und höchte Orchesterkultur erfordert, liegt auf der Hand. Denn Musiker orientieren sich natürlich gerne an Taktstrichen, versuchen den Ablauf so für sich zu ordnen. Dagegen gibt es auch Dirigenten, die dazu neigen, den Taktstrich als solchen zu "spielen", also hörbar zu machen, was falsch ist.
Loge