Beiträge von Berceuse

    Hüb', Du hast es völlig auf den Punkt gebracht: Strukturelle Klarheit gepaart mit Melancholie - das ist tatsächlich der Brahms'sche Fingerabdruck. Wobei Melancholie im wohlverstandenen Sinne, d.h. Lichtjahre von depressiven Anwandlungen entfernt (man beobachte die oft "kämpferischen" Mittelteile!). Bitter-sweet fällt mir dazu ein, frühherbstlich, aber nicht Novembernebel-haft. Es braucht allerdings auch Meister-Interpreten, damit diese filigrane Resignation - um Deinen Ausdruck zu gebrauchen - nicht ins Wohlfeile-"Schmalzige" umkippt - und das ist m.E. die grosse Gefahr, dass Brahms von seinen
    sich empathisch gebenden Exegeten weich- bzw. schnalzig-gespült wird; die Klavierstücke (insb. op. 117/2 sowie mein absoluter Hit, das Intermezzo Nr. 2/op. 118 bedürfen schon echter Meister wie eines Radu Lupu oder der "frühen" Hélène Grimaud (die aktuelle Grimaud verkommt m.E. zunehmend zur Marketing-Ikone), um die in diesen Wunderwerken schlummernde Authentizität herauszukitzeln - so wie seinerzeit auch die epochale Aufnahme des 2. kKavierkonzerts mit Swjatoslaw Richter und E. Leinsdorf. Nicht zuletzt sind viele seiner Werke auch für Amteuere wie mich noch spielbar (z.B. die Klavierstücke). Die von Dir erwähnte Reduktion aufs Wesentliche mag durchaus etwas mit der Brahms'schen Skrupulosität zu tun haben, da gebe ich Dir durchaus recht.

    Hallo liebe Forianer, gestern kam mein monatliches jpc CD-Überlebenspaket an, das ich zum ersten mal u.a. auf der Lektüre-Basis Eurer Threads zusammengestellt habe. Da war eine Menge Überraschung drin, da ich diesmal den Lackmus-Test mit mir selbst durchführte, inwieweit ich nämlich prioritär als auf Barock und Klavier eingeschworener Ayatollah noch fähig bin, anderes/neues wahrzunehmen.


    Das Dictum von Archimedes „Gebt mir einen festen Punkt und einen ausreichend langen Hebel, und ich werde die Erde aushebeln“ - diesen Leverage-Effekt verdanke ich meiner Beschäftigung mit Eurem Forum: Genauer hinhören, die Meinung der anderen einbeziehen – und sich auf musikalische Expeditionsreisen begeben – wenn das nicht der Sinn des Lebens ist!


    Doch von der Theorie in die Praxis - in den folgenden 3 Fällen funktionierte dieser Hebel-Effekt wunderbar (als Amateur-Philosoph bin ich fast versucht, an den alten Hegel mit seiner wunderbaren 3-fachen Auffächerung des Begriffs „Aufheben“ – aufheben, versorgen, nach oben heben - zu erinnern):


    a) Frederic Rzewski („The people will never be defeated” mit Marc-André Hamelin): aufgrund einer kritischen Analyse im Schweizer Kulturfunk “angespitzt”, habe ich mich im äusserst spannenden einschlägigen Rzewski-Thread schlau gemacht – und zunächst eigentlich nur sozialistisch verbrämte Pseudo-Revolutionsmusik von geringem musikalischen Gehalt erwartet. Ganz im Gegenteil: Diese 36 Variationen – zumal von Hamelin mit schon in Physische gehender Verve aufbereitet - sprühen vor Witz, Charme und erinnern mich (sit venia verbo) bisweilen sogar an die akrobatische Aberwitzigkeit der Brahms’schen Paganini-Variationen: Vorurteil Nr. 1 verloren


    b) Messiaen, Préludes pour piano (gespielt vom fabulösen Pierre-Laurent Aimard): Auch hier habe ich mein Anti-Messiaen-Vorurteil wie einen Hermelinpelz getragen (u.a. katholischer Krypto-Fundamentalist mit verblasener-eklektischer Devotionalen-Musik, deren süsslich-programmatische Titel à la „Regard sur l’Enfant Jésus“ mir als ausgemachtem Agnostiker schon mal kräftig auf den Wecker gehen etc. etc.). Nur: Richtig hingehört habe ich eigentlich nie – es hätte ja meinen Negaholismus stören können! Und dann das: Aus seinen Frühwerken (Préludes pour piano) schält sich bei geduldigem Zuhören ein für mich ganz neuer, anderer Messiaen heraus, der z.B. im Prélude VI („Cloches d’angoisse et larmes d’adieu“) nachgerade impressionistische Töne einer „au-delà“-Zwischenwelt anschlägt, deren unglaubliche Delikatesse und Fragilität mich unweigerlich an des letzte Stück „La vallée des cloches“ meiner Kult-Musik „Miroirs“ von Ravel erinnert: Vorurteil Nr. 2 verloren


    c) Last but not least habe ich mich – obwohl überzeugter Anhänger von Scarlatti-Sonaten auf dem sog. „modernen“ Flügel“ und mässig begabter Spieler auf diesem – durch die pro/contra Pianoforte-Diskussionen u.a. im Forum dazu hinreissen lassen, 2 entsprechende Aufnahmen zu erstehen: Diejenige von 18 Scarlatti-Sonaten mit Aline Zylberajh (auf einem extrem delikat timbrierten Cristofori-Pianoforte gespielt, welches mich zeitweise an den wunderbar verhangenen Klang einer Theorbe erinnert), haben den o.e. Leverage-Effekt erbracht und mich „umgedreht“ und bezaubert: Vorurteil Nr. 3 verloren.


    Allerdings habe ich zu meinem Bedauern im gleichen Lieferumfang auch die Gesamtaufnahme aller 555 Scarlatti-Sonaten mit Piter-Jan Belder geordert: Seine (gottseidank wenigen!) Pianoforte-Aufnahmen auf einem Denzil Wraight-Instrument (nach Ferrini) kommt nicht im Ansatz an die Raffinesse des oben erwähnten Cristofori-Instruments heran: Mithin Vorurteil 3 halb aufrechterhalten – zumal ich immer noch geduldig auf die Naxos-Komplettaufnahme aller Sonaten auf heutigen Flügeln warte (im Moment ist man bei CD Nr. 10 angelangt) – wobei der Umstand, dass diese pro CD jeweils von verschiedenen jungen (und in der Mehrheit bemerkenswert begabten) PianistInnen gespielt werden, für mich absolut begrüssenswert ist, um einen sich sonst bei Gesamtaufnahmen leicht einstellenden musikalischen „Inzest-Effekt“ zu vermeiden; auch darüber wurde im Forum ja bereits diskutiert!

    Auf die Gefahr hin, dass mir dieser Name als bereits erwähnt im Tamino-Forengestrüpp entgangen ist, möchte ich eine Lanze für diesen fabulösen Pianisten (nebenbei Laureat des internat. Klavier-Wettbewerbs „J.S.Bach“ Saarbrücken/1995) brechen: Seine beiden J.S. Bach-CD’s (beide bei Stradivarius erschienen) zeichnen sich einerseits durch Reperoire-Originalität aus (wo findet man sonst alle Bach-Fantasien zusammen?), wobei die Frühwerke aus der Ohrdrufter Zeit – über die viele Bach-Afficionados oft nur hochmütig die Nase rümpfen, weil angeblich „unreife“ Frühwerke (sic!) – nicht zu kurz kommen. U.a. sei hier die meisterhafte, weniger als 1 Minute dauernde Fantasie in c-moll (BWV 919) erwähnt, deren ungestümer „Drive“ echten Ohrwurm-Charakter hat: Das ist in der Tat „jugendlich“, aber im besten Sinne! Die Suiten BWV 823 + 832 sowie die bezaubernden Ouverturen BWV 820 + 822 stehen dem in nichts nach; zudem hat es auf beiden CD’s echte J.S. Bach-Trouvaillen, deren angeblich apokrypher Charakter von Andrea Padova himself in seinem blitzgescheiten CD-Kommentar ins rechte Licht gerückt wird und der sich so wohltuend von den üblichen Hagiographien „wohlmeinender“ CD Kommentar-Schreiberlinge unterscheidet.


    Zum zweiten ist Padova’s Spiel zwar präzise und dennoch zugleich so federnd-elastisch, dass dies mich stellenweise an die mediterrane Klarheit seiner Kompatriotin Maria Tipo (deren Bach- und Scarlatti-Spiel ebenfalls diese unerträgliche Leichtigkeit des Daseins an den Tag legt) erinnert: Die attacca-ähnliche Manier, mit der er z.B. die bekannte a-moll-Fantasie BWV 922 „kommen“ und geschmeidig wieder „gehen“ lässt, habe ich in dieser geschmacklichen Vollendung nur noch bei Andreas Staier gehört. Bach-Pianisten, zieht Euch warm an!


    Was seine Einspielung der Busoni/Bach-Transkriptionen (ebenfalls bei Stradivarius erschienen) taugt, kann ich nicht beurteilen, weil ich mir diese m.E. schwülstigen Ergüsse nicht antue (damit will ich niemandem auf die Füsse treten, aber ich bin nun mal eher fürs Original!).


    Leider glaubte Signore Padova, auch im Crossover-Gebiet Flagge zeigen zu müssen und gab eine „Landscape in Motion“ CD-Elaboration heraus, die ich – diesbezüglich vermutlich unverbesserlicher Ajatollah und gnadenlos rückständiger Gralshüter; mea culpa) ebenfalls grossräumig umfahren habe. Ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren, falls Taminos mir hier argumentativ aufhelfen!

    Musica autunnale zum Zweiten


    Liebe Fairy Queen, danke für Deinen Willkommensgruss sowie Deine empathische Reaktion – und nicht zuletzt auch für die Schnelligkeit der Antwort: Die alten Römer hätten gesagt „bis dat qui cito dat“ - doppelt gibt, wer schnell gibt! Das muss man Euch Taminos/as lassen: Am Abend einen Beitrag ins Forum gestellt - und justament am nächsten Morgen zum Frühstück durch einen response geweckt - Respekt! „Pourvu que ça dure“, wie Laetitia, Napoleons Mutter so schön sagte.


    Die raison d’être, weswegen ich Tamino aus Neugierde beigetreten bin, liegt vermutlich genau in der Heinrich v. Kleist’schen Erwartung „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (was ist der Tamino-Austausch anderes als dialogisches Reden?). Eine dank Mitglieder-Kritiken/Anregungen in Bewegung gehaltene aufsteigende Erkenntnis-Spirale – was kann es Schöneres geben?

    Danke auch für Deinen wertvollen, mir neuen Hinweis auf die asiatische Konzeption einer fünften (Spätsommer-)Jahreszeit; für mich war diese 5. Saison bis jetzt nur für krachlederne Anlässe à la Kölner Karneval bekannt. Der Früh- (oder je nach Geschmack Spät-)Herbst als Ernte des Sommers, als Stifter’scher Nachsommer ist - da stimme ich Dir vollkommen zu - eine Epoche des Übergangs: Bivalent, zeitlich doppeldeutig (sowohl nach hinten wie nach vorne gerichtet), schmerzhaft und süss zugleich, ein Weg auf eine Krete, wie wir dies hier in der Schweiz nennen (leitet sich vom franz. „crête“ ab), kurz: Ein Amalgam von Zwischenwelten/Zwischentönen/“altered states“, die nochmals den Reichtum des Sommers heraufbeschwören und zugleich die Insignien des Abschieds in sich tragen. Der Geruch einer kurz vor dem Verblühen stehenden Schafgarben-Blüte sagt darüber mehr aus als tausend Worte.


    Auf die Musik übertragen: Über die von mir im letzten Beitrag genannte Beispiele hinaus repräsentieren für mich solche Übergangs-Stimmungen u.a. die – wortwörtlich! – un-erhörten Mittelteile der Schumann-Klavierfantasie C-Dur op. 17 mit Pollini bzw. des Largos der Chopin h-moll-Sonate op. 58 mit Lang Lang (ja, eben genau der, der mit pseudo-chinesischen Sirup die Olympia-Eröffnungsfeier mit-verunstaltet hat; hingegen spielt er beim Chopin-Largo überirdisch empathisch uns stellt zudem mit 14.10 Min. Satzdauer vermutlich den Langsamkeits-Weltrekord auf ). Unter den Vokalwerken scheint mir „A Chloris“ und „L’automne“ des m.E. völlig unterschätzten Reynaldo Hahn paradigmatisch für diese Stimmungslage zu sein. Wobei ich immer etwas Schwierigkeiten damit habe, dass der Text die Musik bereits à tout prix „herbstlich“ einfärben will; das Ergebnis ist oft über-redundant, d.h. dem Hörer wird der Inhalt eingetrichtert, statt ihn diesen selbst entdecken zu lassen.


    Der Punkt, auf den ich hinziele, ist dabei folgender: Gibt es bezüglich der „grossen“ Themen (wie z.B. „Herbst“, „Norden“, „Werden/Vergehen“ etc. etc.) korrespondierende Codes, welche wir in der entsprechenden Musik wiedererkennen – und zwar instinktiv, nicht kortikal? Ich glaube ja – sonst wäre die „instinktive“ Übereinstimmung der Sensiblen hinsichtlich der Expressivität und des Gehalts von solcherlei Musik nachgerade obsolet. Dies ist nicht in erster Linie ein Sujet der analytischen Wissenschaft (Hermeneutik, Semantik, Kognitions-Neurologie etc.), sondern des consensus der Gnostiker, die eine ähnliche Wahrnehmung aufweisen. Die gute alte Homöopathie hat uns vielleicht mit ihrem „similia similibus curantur“ den Weg vorgespurt: Ähnliches aktiviert Ähnliches – sei dies innerhalb einer Person (= Übereinstimmung zwischen Idee und künstlerischem musikalischen Ausdruck) wie auch zwischen Personen, deren Austausch aufgrund ähnlicher Codes viel flüssiger vonstatten geht…


    Du als lebendiges Gegenbeispiel meiner „Sucht“-Hypothese überzeugst durchaus – wobei Deine disziplinierte Taktik der Wertanreicherung (sinkende Frequenz bei steigender Intensität) ja schon fast an „weise“ Desintoxikation grenzt… ich meinerseits bin da geradezu masslos, indem ich mir z.B. im Moment alle 555 Scarlatti-Sonaten süchtig-gierig (manchmal verschlucke ich mich fast dran…) auf CD’s reinziehe, um die für mich als Hobby-Pianist noch spielbaren Stücke auszusondern. Bis jetzt hat mich dieser Drogen-Trip (ebenso wenig wie Dich als auf Deine Weis Co-Süchtige…) reif für die Klapsmühle gemacht (nebenbei: Was für eine wunderbare Vorstellung, eine Verwahranstalt für Musikopathen - sollte man sich da nicht fast freiwillig einliefern? Das neueste, anregende Buch von Oliver Sacks „Der einarmige Pianist – über Musik und das Gehirn“ macht da schon richtig Appetit drauf!). Aber was nicht ist, kann ja noch werden...


    Deine Bemerkungen i.b. auf den Jahreskreis des Kirchenjahrs lassen mich davon träumen, einmal ein Jahr konsequent mit den entsprechenden Bach-Kantaten durchzuleben; in einem ist Bach uns Zeitgenossen allerdings voraus, indem für ihn die Jahreszeiten vom einschlägigen Kanon der kirchlichen Ereignis-Abfolge (Christi Geburt-Kreuzigung-Ostern-Epiphanie etc.) geprägt waren und sich dementsprechend fugenlos in die Polarität „Werden-Vergehen“ mit den entsprechenden Heilserwartungen einfügten: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, vgl. BWV 106. Diese Codes sind für viele von uns heute brüchig geworden („ach wie flüchtig, ach wie nichtig“…) .Die ehemals festgefügte Tektonik der Jahreszeiten wird laufend unterspült: Dies fängt bei den aus Israel importierten Erdbeeren im Januar an und hört bei den uns angekündigten zukünftigen klimatischen Verwerfungen auf: Wir laufen in eine Zeit-Anästhesie hinein, deren Dramatik m.E. derjenigen der Erderwärmung in nichts nachsteht. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch des schon fast eschatologischen Schreckens, der uns 1999 angesichts der epochalen Sonnenfinsternis erfasste – ein durchaus therapeutischer Schock! Umso mehr rekurrieren wir wieder auf die Idee der Jahreszeiten (vgl. meinen ersten Beitrag), welche mit der „inneren“ Meteorologie unserer eigenen 4 (oder wie viel auch immer) „stagioni“ korreliert.


    Interessanterweise vermag ich, obwohl kenntnismässig einigermassen fit, bei Bachs Instrumental-, insb. Klavierwerken (nur diese zählen hier, weil die Sakralwerke ihre eigene Jahreszeitlichkeit haben, siehe oben) diese kaum jahreszeitlich zu positionieren – möglicherweise (aber dies wäre schon ein eigener Thread) weil sie sich aufgrund ihrer überragenden Qualität jenseits aller zeitgeistigen Codes befinden und somit über-zeitlich sind: Ein anderes Wort für ewig! Für Freud war das Unbewusste a-spatial und a-temporal, also un-räumlich und un-zeitlich: Vielleicht sind sich die beiden Herren ähnlicher als man’s gemeinhin glaubt: Aber das ist (um mit dem alten Fontane zu reden) wiederum ein weites Feld!

    Musica autunnale


    Nein, ein Trivial-Thread ist die Frage nach dem Kontext von Musik und Jahreszeit ganz und gar nicht! Wobei zu unterscheiden wäre, ob man die entsprechende Musik vorwiegend zu bestimmten Jahreszeiten hört oder ob sie - was etwas ganz anderes ist und natürlich nur subjektiv beantwortet werden kann - „jahreszeitlich“ wahrgenommen wird. Letztere Frage interessiert mich deutlich mehr, da hier letztlich die Idiosynkrasie eines jeden von uns durchschlägt, d.h. wie wir z.B. „Herbstlichkeit“ aus/in bestimmter Musik heraus- bzw. hineinhören, also projizieren.


    Damit meine ich natürlich nicht die diversen Programm-Musiken, die ja keineswegs erst in der Spätromantik (à la Liszt & Co.) endemisch wurden, sondern als normierte Versatzstücke à la Vivaldi/quattro stagioni schon immer existierten (was ihre Qualität keineswegs mindert): Diese Art von Winken mit dem Zaunpfahl ist den jeweiligen Zeitläuften geschuldet wie z.B. der Gebrauch von Hörnern und anderer da caccia-Instrumente, um Jagd = Herbst zu signalisieren; auch Bach bediente sich wie seine Zeitgenossen ja vieler lautmalerischer Patterns, so z.B. in seinem berühmten Capriccio BWV 992, wo er mit der „Aria die Postiglione“ eine wehmütige herbstliche Abschiedsstimmung schafft. Diese fast immer gemäss den zeitgeistigen Gepflogenheiten genormten Versuche, Naturstimmungen in musikalische Expressionen zu transponieren, folgen der jeweiligen Affektenlehre, was m.E. eher Futter für musikwissenschaftliche Exegesen ist.


    Was mich umtreibt, ist vielmehr die Frage, welche Musik vom sensiblen (und nicht unbedingt vorgebildeten bzw. vorverbildeten) Hörer spontan - bleiben wir angesichts des Kalendermonats beim Herbst - als „herbstlich“ empfunden wird. Selbstverständlich ist dies wiederum (siehe oben) nur rein subjektiv zu beantworten und hängt vom „Herbst“-Begriff des Hörers ab: Für den einen repräsentiert dies vielleicht den Rilke’schen Herbst à la „wer jetzt allein ist , wird es lange bleiben“ als Vorbote des nahenden Winters, für den anderen möglicherweise einen Stifter’schen Nachsommer, für einen dritten vielleicht die Apotheose des gerade zu Ende gegangenen Sommers: Alles völlig legitime, absolut subjektive Wahrheiten! Und dementsprechend subjektiv und dennoch eigenartig stimmig fiel ein per Neugierde gemachter Test mit meinen beiden persönlichen Lieblings-Repräsentanten herbstlicher Musik schlechthin aus:


    a)Silouans Songs von Arvo Pärt (in der prächtigen ECM-Aufnahme): Dieses lediglich 5-minütige, scheinbar spröde, monotone und dennoch (oder deswegen?) unglaublich eindringliche, schon fast verzweifelt obstinate Stück steht wie ein erratischer Block vor dem Hörer und verschlingt ihn (mindestens mich) mit Haut und Haar. Hier ist eine (vom Komponisten möglicherweise nicht einmal so intendierte) extrem expressive Herbheit-Bitterkeit-Kargheit fast körperlich zu spüren; etwas banaler-zahnmedizinischer formuliert - eine ausgesprochen Mundhöhlen-adstringierende Musik in ihrer schönsten, naturbelassenen Form! Mein (selbstverständlich keinesfalls statistisch aussagefähiger!) „Test“ bestand darin, dass ich dieses Stück 5 Bekannten (alles Klassik-Afficionados im weitesten Sinn) zu Gehör brachte und sie dazu einlud, beliebige Jahreszeiten hierzu assoziieren: In 3 von 5 Fällen war es „Herbst“ (wovon 1x Spätherbst). Die Deutung möchte ich Klügeren überlassen; immerhin meine ich, dass in diesem Stück alle denkbaren Herbst-Wahrnehmungen (vgl. die 3 obigen, nicht erschöpfenden Beispiele) übereinkommen und vielleicht gerade deswegen die Dichtigkeit des Eindrucks steigt. Ich persönlich sehe bei dieser Musik (zweifellos durch die estnische Herkunft des Komponisten unzulässig beeinflusst) unendliche finnische, herbstlich glühende Birkenwälder mit einem irgendwie „tragischen“ Geheimnis – sorry für diesen Cinemascope-Kitsch, aber warum sollte man lügen!


    b)J. Brahms: Fantasien op. 116 (insb. Intermezzo Nr. 6 E-Dur), Intermezzi op.117 (insb. Nr. 2 b-moll), Klavierstücke op. 118 (insb. Nr. 2 A-Dur) – insbesondere wenn von Ausnahmepianisten wie Radu Lupu oder auch der neuerlich so vielgeschmähten Hélène Grimaud gespielt (zur Zeit der Brahms-Aufnahme war sie noch keine solche Marketing-Ikone wie heute ; ihr Gestöhne à la Glenn G. nimmt man angesichts der interpretatorischen Qualität aber gerne in Kauf): Dies sind für mich (i.G. zu Arvo Pärts herbstlicher-„harter“ Bitterkeit) die Paradebeispiele einer „weichen“, deswegen nicht weniger eindrücklichen bitter-sweet-Herbstlichkeit. Brahms‘ Zeitgenosse und Biograph Richard Specht beschrieb übrigens Brahms‘ eigenes Klavierspiel als „köstlich, melodiös und reich an Licht und Schatten“(sic!). Natürlich sind diese Stücke auch Produkt des eigenen Brahms’schen Lebensherbstes, was ihren resignativen, melancholischen abgeschatteten Duktus erklärt – aber auf welchem künstlerischen Niveau! Die „Wiegenlieder meiner Schmerzen“ (= Brahms‘ eigene Bezeichnung für seine Intermezzi op. 117) sind für mich eines der schönsten und ergreifendsten Ergebnisse eines reifen herbstlichen Sublimationsprozesses.
    Der analoge Test mit meinen 5 „Opfern“ (welche allerdings i.G. zum Pärt-Stück ausnahmslos „ihren“ Brahms kannten) ergab in allen 5 Fällen eindeutig „Herbst“ (wovon 3 Früh-, 2 Spät-Herbst).


    Was ich mit all dem sagen will (Achtung: Jetzt oute ich mich als hoffnungslos veralteter Platoniker!): Möglicherweise schlummert in uns bzw. unserem genetischen Code eine Idee von „Herbst“, welche durch eine einschlägige Musik – wortwörtlich – zum Re-sonnieren, d.h. zum Wieder-klingen gebracht wird – eine Idee notabene, welche durch sog. empirische Erfahrungen nur sehr begrenzt modifizierbar ist . Wenn diese Idee (welche für mich eher individuell als Teilhabe an einem kollektiven Unbewussten ist) und ihr Entsprechung, d.h. die ästhetische-musikalische Gestalt in uns übereinkommen, multipliziert bzw. potenziert sich dadurch der Impact, aus a + b wird d: Die „Hochzeitsnacht“ beider ist denn auch entsprechend gewaltig – die Musik durchdringt uns bis in die Wurzelspitzen unseres Seins; vgl. hierzu auch den Thread “wenn es Bing macht“.


    Das klingt alles sehr spekulativ – und ist es wahrscheinlich auch; immerhin habe ich einen Euch hoffentlich unverdächtigen Zeugen für den „Ideen“-Ansatz, nämlich Glenn Gould: Mich hat immer gewundert, dass angesichts seiner (auch von mir hochgeschätzten, wenn allerdings auch differenziert zu beurteilenden) Klavier-Aufnahmen seine sonstigen Produktionen z.B. vor seinem Rückzug von der Konzertbühne, total ins Hintertreffen geraten sind, insb. seine Broadcast-Features für den kanadischen Rundfunk: Hier gibt es (bei CBC Records) seine bei Kennern hochgeschätzte „Solitude Trilogy“, wovon ich auf Teil 1 hinweisen möchte, nämlich „The Idea of North“: Hier wird der kanadische Norden metaphorisch und (natürlich!) kontrapunktisch in einer absolut innovativen Weise aufgearbeitet, die m.E. noch einer wirklich Glenn-würdigen Einordnung bedarf. Kurz: Die Idee des Nordens wird sozusagen kompartimenatlisiert und findet sich als Puzzle in kleinsten „Chunks“, welche zudem noch überlagert werden (Einzelheiten erspare ich mir aus Zeitgründen). Das Ergebnis ist keine – wie auch immer geartete – „Definition“ der Idee des Nordens, sondern sozusagen eher deren emotionales Acting-out – und damit letztlich gar nicht so weit weg von den beiden oben erwähnten Herbst-Beispielen. Der Kreis schliesst sich.
    Noch ein tröstliches Wort zum Schluss: Wenn es stimmt, dass ich (wie vermutlich die meisten von Euch Forianern ebenfalls ) Musik-süchtig sind, dann haben wir armen Addicts mindestens dem kommunen Süchtigen etwas voraus: Kürzlich las ich eine charmante Definition von pathologisch werdender Sucht , nämlich steigende Frequenz bei zunehmend sinkender Befriedigung: Wenn dem so ist, so scheint mir unsere Sucht eine der antizyklischsten und gesündesten zu sein, nämlich steigende Frequenz bei ebenfalls steigender Befriedigung: Willkommen im Club!

    Danke Sagitt - Du hast es exakt auf den Punkt gebracht: Der Sinn dieses Forums resümiert sich lfür mich etztlich in der Einladung an sich und andere, die Wahrnehmung zu schärfen, eben genauer hinzuhören.


    Bei mir war z.B. die Wahrnehmung von Angela Hewitt durch die gängigen Vorurteile getrübt bzw. nivelliert (z.B. die assoziative Exklusiv-Kombination "Bach-Kanada-Glenn"), durch welche Hewitt a priori immer nur eine Mitläuferrolle erhielt. Bis ich eben genauer hinhörte...


    Wobei Du i.b. auf ihre Bach-Klavierkonzerte recht hast - die sind bei mir nicht top-gesetzt, was ich allerdings z.T. auch der wenig inspirierenden Begleitung durch das australische Kammerorchesters zuschreibe. Meine Einflugschneise zu Hewitt war eindeutig Ravel, insb. der Gaspard de la nuit - umwerfend und der (für mich) Referenz-Aufnahme mit Ivo Pogorelich qualitativ absolut gleichzusetzen; ich höre da schon Protestgemurmel...


    Apropos Fazioli; der Klang ist tatsächlich unglaublich sonor und erinnert mich an die "singenden" Bechsteins zu ihren besten Zeiten. Natürlich toll für Hewitt, die ja u.a. am Lago die Trasimeno lebt, mal schnell zur ganz in der Nähe liegenden Fazioli-Fabrik rüberzumachen und die neusten Babies ein bisschen einzuspielen. Für den alten Bach waren ja schliesslich dessen Orgelproben auch ein (kulinarisches wie pekuniäres) Festival.


    Dass sich der Fazioli-Klang allmählich als mindestens gleichberechtigt neben der lieben Konkurrenz zunehmend etabliert, zeigt sich an einem skurillen Detail: Die amerikanische Firma Synthogy (synthogy.com) bietet als Midi-Klangpattern unter dem Produktnamen Ivory nebst der heiligen Trias (Steinway/Bösendorfer/Yamaha-Konzertflügel-Klänge) jetzt auch Fazioli an - vermutlich aus markenrechtlichen Gründen nicht als solcher bezeichnet, sondern als "Italian Grand". Mal 'reinhören lohnt - um sich (jedenfalls in meinem Fall) mit Grausen vor diesem Fake wieder abzuwenden und halt noch ein wenig weiterzusparen (!) für einen echten Fazioli: Die in den Verkaufsräumen stehenden Faziolis haben allerdings bisweilen die dekadente Unart, auf der Flügel-Innenseite mit pseudo-venezianischen, historisierenden Gemälden verunziert zu sein.
    So ist sie nun mal, die squadra azzurra!

    Nicht verzweifeln! Sennheiser hat ganz neu das digitale wireless-System MX W1 auf den Markt gebracht (Kosten ca. 320 Euro): Dank der innovativen digitalen Kleer-Übertragungtechnik hat man einen absolut astreinen Klang, zumal die relativ kleinen Ohrhörer ein erstaunliches Volumen zu bieten haben. Einzige Inkonvenienz (möglicherweise liegt's an meiner komischen Ohr-Form): Durch sog. Twist-to-fit-Ohrpolster sollen die Ohrhörer mittels Drehung stabil im Ohr verankert werden, was bei mir nicht immer klappt, d.h. bisweilen fallen sie raus, was evtl. auch meiner Ungeschicklichkeit resp schlechtem Handling geschuldet ist.


    Ansonsten lautet mein Urteil nach 4 Wochen Intensivtest: Recht empfehlenswert, zumal das Kabel-"Gebambel" endgültig passé ist. Über dem Hals muss die Freiheit wohl grenzenlos sein... als passioniertem Radler sind mir so die Goldbergvariationen mit der neuen Freiheit mein treuester mobiler Begleiter geworden! Natürlich muss man die Grenzen
    eines solchen Liliputs kennen - meinen Referenz-Kopfhörer "Orpheus"
    von der gleichen Firma würde ich nie und nimmer dafür tauschen.

    Als Tamino-Novize wollte ich eigentlich ein Bresche für Angela Hewitt schlagen und zu einer Entmystifierung des m.E. mehr als zweifelhaften Ehrentitels „Bach-Queen“ beitragen – bis ich die wundervolle Eloge von Glockenton las: Das ist fast deckungsgleich mit dem, was ich anlässlich des WTK I + II-Rezitals an 2 Abenden in Zürich empfand: Das Spektakuläre war eben das Nicht-Spektakuläre, der Verzicht auf alle Mätzchen und jedweden interpretatorischen Narzissmus – ohne dass Hewitt jemals ins Gegenteil à la steriler „Werktreue“- (sic!) Wiedergabe des Meisters gefallen wäre und das Parfum historisierender oder wie auch immer gearteter Langeweile zerstäubt hätte, wie dies in den Musentempeln m.E. so oft Usanz ist.


    Last but not least hat sie den unglaublichen tänzerischen Duktus von Bach (gerade auch im WTK und nicht nur in den a priori tänzerischen Partiten und engl./franz. Suiten etc.) so - wortwörtlich! - sinn-lich herausgearbeitet, dass es einen nachgerade - sogar bei Fugen wie z.B. der unglaublich spritzigen, Toccata-ähnlichen f-moll-Fuge im WTK II - im Bein zuckt und man sich beherrschen muss, auf dem Platz zu bleiben.


    Was mir auffiel: Im Gegensatz zu vielen, eher Adrelanin-lastigen Tasten-Kollegen reagiert Angela Hewitt bei „heiklen“ Stellen wie z.B. der polyrhythmisch-interpretatorisch unglaublich vertrackten A Dur-Fuge aus dem WTK I oder der überraschenden Coda des Cis Dur-Präludiums aus dem WTK II sozusagen antizyklisch, indem sie dank ihrer stupenden Souveränität leicht aufs Bremspedal tritt: Nie fällt etwas unter den Tisch, nie verschwindet etwas in diesem tödlichen Nebel an „Auffassung & Pedal“!


    Ich habe murmeln gehört, dass Hyperion Angie nach Vollendung ihrer WTK-World Tour - gleichsam als summa ihrer on stage-Erfahrungen - das WTK nochmals einspielen lässt: Eine hervorragende Idee, zudem von einer Generosität, die aufhorchen lässt (zumal in einem Zeitalter, wo andere Majors à la EMI ihre wahren Talente rausschmeisst bzw. auf merkantile Schrumpfkonzepte à la „3 Tenöre“ reduziert).


    Bleibt noch zu erwähnen, dass die Hewitt-DVD „Bach performance on the Piano“ ein ganz ausgezeichnetes, ausgesprochen spannendes Mittel ist (z.B. für mich als mittelmässig spielenden Wollegern-Amateurpianisten), den Grauschleier der treudeutschen Bach-Interpretationsauffassung („Millionen können sich nicht irren“) aufzuheben - zugunsten eines frischeren, mehr tänzerischen und rhythmisch ziselierten Bachspiels: Ein Selbstversuch zeigte: Es wirkt! Was Caesar73 in anderem Zusammenhang völlig zu Recht schrieb, wurde hier wortwörtlich wahr: Angela Hewitt gewährt Einblick in ihre Werkstatt!


    Auf die Gefahr hin, als kritikloser Hewitt-Propagandist kolportiert zu werden (meine Kritik habe ich notabene für einen zweiten Beitrag geplant): Nicht nur ihre erstaunliche Repertoire-Breite als solche überrascht, sondern auch die scheinbaren nicht-Bach-„Nebenfelder“, welche sie mit ebenso grosser Souveränität besetzt: Ihr Couperin, Rameau oder Ravel lässt sich ohne weiteres mit dem kongenialen Alexandre Tharaud messen.


    Nicht zuletzt finde ich auch die Bach-Arrangements absolut hörenswert (auf der Hyperion-CD sind 3 von Angela Hewitt selbst arrangiert, durchaus mit Geschmack und Mut zu dissonanten Vorhalten; sie unterscheiden sich wohltuend von der typischen „Zugabe“-Ästhetik der totgespielten Kempff’schen Bearbeitungen).


    Der Schlussstein des Hewitt-Kompendiums lässt allerdings noch leider auf sich warten, d.h. die Kunst der Fuge: Hoffentlich weniger bracchial-„martellato“ gespielt als von Pierre-Laurent Aimard (den ich sonst sehr schätze). Den Benchmark hat hier m.E. der weitgehend unbekannte Amerikaner David Lively mit seiner Live-Aufnahme (!) gesetzt. Doch das reicht in einen anderen Thread hinein, wo sich kompetentere Tamianer als ich schon zu Wort gemeldet haben….