Beiträge von Michael M.


    Zinka Milanov (Gioconda) - 3
    Giuseppe di Stefano (Enzo) - 5
    Rosalind Elias (Laura) - 3
    Leonard Warren (Barnaba) - 4
    Plinio Clabassi (Alvise) - 3
    Belén Amparán (La Cieca) - 5


    Chor und Orchester der Academia Santa Cecilia, Fernando Previtali - 3
    (Der Dirigent klingt hier eher nach Postmortali. So was Lahmes habe ich selten gehört.)


    Studioaufnahme von 1958
    TQ 4


    Wertung (26/7) 3,71


    Grüße,
    Micha

    Ich hörte gerade zum ersten Mal eine Aufnahme des Franzosen Jean-Marc Luisada, eine Schumann-Platte mit einem eher eigenartigen Cover:



    Mir gefällt diese Aufnahme außerordentlich gut. Luisada spielt mit perfektem, in allen Registern ausgewogenem Anschlag und einem schönen Ton, der mich an den von mir hochverehrten Casadesus erinnert - französische Schule eben -, und mit einem deutlichem Hang zum rubato, das aber immer durchdacht erscheint und die rhythmischen Zusammenhänge nicht zerstört.


    Außer für Schumann ist er offenbar Spezialist für Chopin. Hat denn sonst schon mal jemand etwas von ihm gehört und kann andere CDs empfehlen?


    Grüße,
    Micha

    Zitat

    Original von Barbirolli


    So eine Aussage Neys sollte jeden Beethoven-Freund gruseln und darüber nachdenken lassen, mit welchem Impetus die Dame ihr Werk verrichtet hat. Hier findet sich eine Empfindung und Instrumentalisierung der Musik, die man doch nicht übersehen kann.


    Instrumentalisierung kann ich in diesem Zitat nicht finden. Empfindung schon. Mit der gleichen Empfindung, der gleichen tiefen Begeisterung, dem gleichen Idealismus, den ich aus den Aufnahmen ihres Beethoven-Spiels noch heute heraushöre, hat Elly Ney ihren mörderischen Führer begrüßt. So ist es.


    Dass ich das weiß, entwertet mein Musikerlebnis mit ihren Aufnahmen nicht. Musik ist eben keine Propaganda. Sie transportiert Gefühle, aber keine Inhalte – nicht, auf was sich die Gefühle richten. Ich muss keine Angst haben, Nazi zu werden oder zu sein, weil mich das Begeisterte im Spiel dieser Nationalsozialistin begeistert.


    Natürlich bleibt, auch beim Hören, ein gespenstischer Rest. Das Wissen um die Biografie dieser Frau verleiht ihren Aufnahmen etwas zusätzlich Doppelbödiges. Das nicht wissen oder nicht wahrhaben zu wollen, käme mir nicht in den Sinn. Vom ästhetischen Standpunkt aber ist mir in der Tat die glühend begeisterte Nationalsozialistin, in deren Spiel ich glühende Begeisterung wahrnehme, lieber als der berechnende Mitläufer, in dessen Interpretationen ich nichts als - Berechnung höre.


    Grüße,
    Micha

    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    (wie heute noch einige an die edlen Motive der EU glauben - und deren diktatorischen Charakter nicht sehen - oder nicht sehen wollen -


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich darf bei dieser Gelegenheit einmal mehr darauf hinweisen, daß politische Statements in diesem Forum unerwünscht sind.


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    Ein paar Doppelköpfe aus dem taminesken Themenspektrum (mit besonderem Gruß an Jacques Ridejanus):


    rendezö
    Da ich viel in Theaterkreisen verkehre, war mir diese Vokabel erst nur in ihrer Bedeutung Regisseur bekannt. Einmal besuchte ich mit meiner Frau ein großes Festival, und im Eingangsbereich sah ich einen jungen Mann, der eine Armbinde mit der Aufschrift rendezö trug. Ich dachte an das legendäre "Ich bin schuld"-T-Shirt des Choreographen Johan Kresnik und fand's witzig, dass sich der Mann öffentlich als Regisseur outet. Dann sah ich aber, ebenfalls bei der Eingangskontrolle, noch einen mit eben dem gleichen Accessoire, und einen dritten... und lernte schließlich von meiner Gattin, dass rendezö in der ursprünglichen Wortbedeutung nichts anderes als einen Ordner bezeichnet.
    Was übrigens wohl auch erklärt, warum es in der Budapester Staatsoper kein eigentliches Regietheater zu sehen gibt. Sondern nur ordentliche Inszenierungen.


    (beiseite: "Wirst du wohl den Dosenöffner weglegen, Pandora!")



    verseny
    Wer zuhause originale Hungaroton-Platten stehen hat (oder, auf ostdeutsch, zu stehen hat), kennt so lustige Worte wie zongoraverseny (Klavierkonzert) oder hegedüverseny (Violinkonzert). (Auszusprechen übrigens circa: Songorawärschänj bzw. Häggädüwärschänj)
    Verseny begegnet einem aber auch in ganz anderen Zusammenhängen, nämlich etwa mit Olympischen Spielen, und bedeutet eigentlich und ursprünglich Wettbewerb. Die Ungarn haben offenbar, Liszt lässt grüßen, ein ziemlich sportives Verhältnis zur Musik. Ich vermute stark, dass die musikalische Bedeutung des Wortes Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, als es galt, das Ungarische von allen Internationalismen zu befreien und das Wort koncert ersetzt werden musste. So ganz ist das hier übrigens nicht gelungen: die Ungarn gehen weiterhin ins koncert und benutzen im alltäglichen Sprachgebrauch eher nicht das Wort hangverseny (Konzert, wörtlich: Tonwettbewerb).
    Auf die naheliegende Frage, wie denn etwa ein Wettbewerb um das schönste Klavierkonzert benamst wird, habe ich noch keine Antwort gefunden: ist das dann ein zongoraversenyverseny?


    Grüße,
    Micha

    Ich weiß nicht, was da gerade bei den Elfjährigen los ist, aber mein Sohn und einige seiner Freunde entwickeln zur Zeit eine große Begeisterung für altmodische Worte. Sie beschimpfen sich gegenseitig als Ganove , Kindskopf oder Schurke, und als ich ihn letztens fragte, was denn in Mathe gerade anliegt, antwortete er: "Bruchrechnung und so'n Firlefanz."


    Ich habe noch nicht rausfinden können, ob es da ein Vorbild irgendwo in der Popkultur gibt oder ob die Jungs von selbst auf den Spaß an diesen Wortschatzerweiterungen gekommen sind. Wie auch immer: nachdem ich mir lange ziemlich verkommenes Vokabular aus der Rappersprache anhören musste, ist mir dieser neue Trend eine unglaubliche Erleichterung.


    Grüße,
    Micha

    Auch von mir vielen Dank für diesen Link, der mich sicher noch lange beschäftigen wird...


    Eine weitere reich sprudelnde Quelle für historische Aufnahmen, von denen die meisten nie auf CD veröffentlicht wurden, ist "http://nealshistoricalcorner.blogspot.com/". Besonders zu empfehlen für Klaviermusikfans und für Anhänger von E. van Beinum. Viel Spaß auch damit!


    Grüße,
    Micha

    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Aber woher weiß man, ob ein Name/Träger überhaupt Katalane ist?


    Bei Männervornamen merkt man's meist daran, dass das -o aus der geläufigeren spanischen (korrekt natürlich "kastilischen") Form verschwindet:
    Francisco wird zu Francesc
    Antonio zu Antoni
    Federico zu Frederic
    Enrico zu Enric
    Alberto zu Albert
    nur Pablo eben nicht zu Pabl, sondern zu Pau, denn Pabl kann man nun wirklich nicht aussprechen. Selbst als Kalatane nicht.



    Zitat


    dass die das S, wenn es nicht intervokalisch oder vor stimmhaften Konsonant und somit stimmhaft ist, sehr scharf, wie ein Mittelding zwischen SCH und S artikulieren, möglicherweise indem sie mit einer SCH-Mundstellung ein stimmloses S sprechen.


    So kenne ich das auch: scharf zwischen den Zähnen mit ganz viel Luft.


    Grüße,
    Micha

    Da fällt mir eine liebe französische Freundin ein, die sich über ein bestimmtes deutsches Wort immer scheckig gelacht hat. Es klang in ihren Ohren wie die Bezeichnung einer seltsamen psychischen Krankheit: der Wahn, von blauen Zwergen verfolgt zu werden. Das Wort lautet


    Strumpfhose


    Grüße,
    Micha




    Zur Erklärung: frz. les Schtroumpfs - die Schlümpfe

    papíripari - Papierindustrie
    Ja, Papier heißt tatsächlich papír. Eines von jener Handvoll Worte, die man sich als Deutscher recht leicht merken kann.


    paripa - Ross, Wallach
    Wäre ich Besitzer einer Papierfabrik in Ungarn, würde ich ein besonders edles Briefpapier herstellen, das ein Ross als Wasserzeichen trägt, und es paripapapír nennen. Hätte ich damit Erfolg, könnte eine ganze Industrie daraus entstehen: eine paripapapíripari.


    - Schnee
    Der Schlachtruf des amerikanischen Weihnachtsmannes, "Ho, ho, ho!", wird verständlicher, wenn man weiß, dass der Mann eigentlich ein ungarischer Emigrant ist, der weiße Weihnachten ankündigen will. Merke: die Ungarn sind überall, und sie haben alles erfunden.


    - See
    Den Grund für den synchronen Gleichklang dieser beiden letzten ungarischen Worte und ihrer deutschen Übersetzungen soll mir mal ein Linguistenkünstler erklären!


    menedzser
    Nicht wirklich ein so unglaublich schönes Wort - aber sieht es nicht perfekt ungarisch aus? Seine Bedeutung und Herkunft erklärt sich dem Rest der Welt von selbst, wenn man weiß, das dzs im ungarischen als weiches "dsch" ausgesprochen wird.


    zongora - Klavier
    Das ist eines jener Kunstworte, die im 19. Jahrhundert von ungarischen Intellektuellen neu erfunden worden, um fremdsprachige Bezeichnungen (hier wohl pianoforte) zu ersetzen, und die sich dank einer rigorosen Sprachpolitik tatsächlich durchsetzten. Zongora ist ein lautmalerisches Wort, das den Klang des Klavieres nachbilden soll. Ich habe den Verdacht, dass es bei einem jener Konzerte Franz Liszts entstand, bei denen damals bekanntlich reihenweise Klaviersaiten gerissen sein sollen - zong!


    Grüße,
    Micha


    der auf Eure Lieblingsworte auch aus anderen Sprachen gespannt ist

    Ich bin ein großer Anhänger des gepflegten Theaterschlafes. Diese Neigung stammt noch aus einer Zeit, in der ich beruflich ständig Premieren besuchen musste, wobei meist die Gespräche hinterher von erheblich größerer Bedeutung waren als die Aufführung selbst.


    Es ist eine wunderbare Weise, sich ein Werk neu anzueignen, wenn man es, während der Aufführung in den Halb- bis Dreiviertelschlaf, dieses Zwischenreich zwischen Wachen und Träumen, versinkend, quasi weiterträumt. Oft bin ich tatsächlich aus solchen Theater-Träumen erwacht und musste feststellen, dass das Stück auf der Bühne viel langweiliger weitergegangen war als in meinem Traum. Auch das ist eine, wenn auch schwer mit Anderen zu teilende, Möglichkeit, das Werk im Kopfe des Betrachters neu entstehen zu lassen. Solange der Schläfer nicht schnarcht, halte ich sie für absolut zulässig.


    Ich weiß nicht mehr, von wem das Zitat stammt, aber ich glaube, es war ein zeitgenössischer Regisseur (Tabori vielleicht?):
    "Im Theater schlafen heißt dem Regisseur vertrauen."


    Grüße,
    Micha

    Zitat

    Original von bachiana


    Thomas' Zitat, nicht meins. Ich würde es (ich glaube, auch in Einklang mit Erika Fischer-Lichte) etwas anders formulieren - vor allem ohne das einschränkende "nur":


    Was uns vorliegt, in Form der Partitur und des Librettos, möglicherweise deren verschiedenen Fassungen, Vorstudien des Komponisten etc., in Form unseres Wissens um die Entstehungsgeschichte und die Aufführungstradition, in Form unseres Mitdenkens und Mitrezipierens von Kontextuellem jeglicher Art, ist Material. Werk wird daraus in dem Moment der Aufführung, und zwar in jeder Aufführung neu - aufgrund der inszenatorischen Entscheidungen eines Regieteams, aber auch aufgrund der spezifischen Aufführungssituation des Abends, zu der das Publikum maßgeblich beiträgt.


    Das so zu sehen, impliziert nicht eine Entscheidung darüber, welche Teile dieses Materials (und mit obigem Hinweis auf Kontextuelles ist Material eingeschlossen, das nicht vom "Autor" stammt) ein Regisseur/Dirigent als Grundlage einer Aufführung hernimmt. Es impliziert allerdings, dass der Begriff der Werktreue zur Tautologie wird, da das Werk eben in der Aufführung je erst entsteht und also nur zu sich selbst treu sein kann.


    Grüße,
    Micha

    Zitat

    Original von Alviano
    Diese enormen Repetitionen, auch in der Bewegung, wären mit der Musik nicht gegangen. Dazu die Rhythmisierung des Textes, wo der Ausdruck (oft) über dem Inhalt steht, die extremen Dynamikwechsel, das ist in der Oper nicht abbildbar


    Ist es wohl - man muss nur den Mut haben, in die Partitur einzugreifen. EIN in dieser Hinsicht aufgeschlossener Dirigent an entscheidender Stellung in einem Opernhaus, und vieles wäre möglich.


    Mir fällt die "Turandot" aus Peking ein, die letztens im Fernsehen lief. Einzig interessant an dieser Inszenierung schien mir (zumindest während der halben Stunde, die ich sie verfolgte) das eindrucksvolle asiatische Trommeln zwischen den Akten. Natürlich KÖNNTE man ALLES auch IN einen Opernakt einbauen, wollte man denn.


    Aber allmählich bekomme ich ein schlechtes Gewissen und hoffe, dass es morgen gelingt, diesen thread wieder zu der eigentlichen Intention des thread-Starters zurückzuführen.


    Gute Nacht,
    Micha

    Lieber Alviano,


    danke für die Anmerkungen; du weißt, nach langen postings ist man dankbar, nicht ins Leere geschrieben zu haben


    Zitat

    Original von Alviano


    Ich weiss nicht, ob Castorf nach "Otello" (in Basel) überhaupt nochmal Oper gemacht hat - aber ich würde vermuten, dass sich seine Vorstellung von Theater in der Oper nur unzureichend umsetzen lassen.


    Jaaa, aber WARUM? Liegt es wirklich nur am "Betrieb"?


    Zitat

    Original von Alviano
    Mich hätte immer interessiert, wie der von mir hochgeschätzte Einar Schleef Oper inszeniert hätte...


    Mich auch. Andererseits: war das nicht schon viel zu opern-affin, was er im Sprechtheater tat? Mehr noch als bei Thalheimer? Wären nicht seine unglaublich starken uniformierten Sprechchöre notwendigerweise zu 08/15-uniformierten Opernchören mutiert, wie sie in nahezu jeder Inszenierung heute zu sehen sind?


    Zitat

    Original von Alviano
    Demnächst gerne mehr.


    Darauf freut sich
    Micha

    Zitat

    Original von Ulli


    Das von Ulli Zitierte geht mir den ganzen Tag schon nicht aus dem Kopf. Es enthält ein nachgerade eschatologisches Denkmoment, das ich verflixt verführerisch finde (vielleicht auch nur, wenn man das Zitat geschickt missversteht, aber egal):


    Wenn es tatsächlich die 'Wahrheit' eines Werkes gibt, der Interpretation näher kommen kann, dann bestehen zwei Weiter-Denk-Möglichkeiten:


    - eine teleologische: den informierten Interpreten angenommen, müsste der Fortgang der Interpretationsgeschichte Interpretation für Interpretation der Wahrheit des Werkes um "Augenblicke" näherkommen - jeder, der eine neue Interpretation erstellt, wird aufbauen auf dem bisher schon Erreichten, bis irgendwann, Schrittchen für Schrittchen, die ontologische Wahrheit des Werkes eingeholt und ein paradiesischer Endzustand, das Ende der Interpretationsgeschichte (zumindest dieses einen Werkes) erreicht wäre. (Quatsch, weiß ich doch. Aber: eine traumhaft schöne Vorstellung oder ein Alptraum?)


    oder


    - eine dialektische: wenn jeder Interpret ein (vielleicht auch mehrere) Augenblickchen der Wahrheit des Werkes zu erkennen vermag - sollte es dann nicht im Vermögen eines idealen Hörers stehen, irgendwann einmal aus allen gehörten Interpretationen innerlich die Synthese zu ziehen und so, für sich, die Wahrheit des Werkes zu erlangen? (Und ist der verborgene Wunsch danach der heimliche Grund, warum wir Aufnahmen sammeln?)


    Grüße,
    Micha

    Lieber Thomas,


    über das hier


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Wichtiger als die Frage, wie gespielt wird, scheint mir jedoch die Frage, was gespielt wird. Die Oper natürlich, scheint die Antwort zu lauten. Aber ist das wirklich so? Im Theater ist es durchaus üblich, das jeweils gespielte Stück nur als Material anzusehen, mit dem nach Belieben umgegangen werden kann. Es ist interessant sich zu überlegen, ob das in der Oper auch so sein kann.


    habe ich heute auch nachgedacht. Der Begriff "Regietheater", der hier in letzter Zeit sehr strapaziert wird, scheint mir auf kaum eine Operninszenierung, die ich je wahrgenommen habe, zu passen, wenn ich dazudenke, was im Sprechtheater mit dem Begriff "Regietheater" beschrieben wird. Ich bin theatralisch mit den Regisseuren Jürgen Kruse und Frank Castorf Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre sozialisiert worden, habe bei beiden als Jungspund auch hospitiert und ihre Arbeitsweise von innen erlebt. Den frei-assoziativen Umgang mit dem Text-Material, den ich bei diesen (und als Zuschauer auch bei anderen) Regisseuren erlebt habe, gibt es in Musiktheaterinszenierungen praktisch nicht. Am ehesten wohl noch in Operetteninszenierungen an Sprechtheaterbühnen: in Christoph Marthalers Inszenierung von "La vie parisienne" an der Volksbühne und wohl auch in Castorfs Hamburger "Fledermaus" von 1997 (die ich leider nicht gesehen habe, aber das Programmheft erwähnt u.a. Baudrillard, Rammstein und Q. Tarantino als Textdichter des Abends).


    Heute ist es vor allem der in Deutschland lebende und arbeitende Ungar David Marton, der Opernpartituren sehr intensiv auseinandernimmt, neu zusammenbaut und durch Fremdes ergänzt. Von ihm habe ich in Berlin eine "Freischütz"-Version 2004 und "The Fairy Queen" 2005 gesehen. Spätere Arbeiten wie "Der feurige Engel" und "Wozzeck" kenne ich nur vom Hörensagen. Marton arbeitet allerdings nicht in Opernhäusern (wohl weniger, weil er nicht wollen würde), sondern im "Edel-Off" (Sophiensaele Berlin, Kampnagel Hamburg) und in letzter Zeit auch in Schauspielhäusern (Volksbühne, schauspiel hannover).


    In Opernhäusern bleiben Partituren unangetastet (von durch Tradition legitimierten Strichen abgesehen), und das Dogma von der "Werktreue" ebenfalls - das wird ja, auch hier im Forum, von Anhängern "moderner" Inszenierungen ebenso vehement in Anspruch genommen wie von denen "konservativer". (Warum "Werktreue" ein unhinterfragbarer Wert an sich sein soll, ist mir, aber das liegt an meiner oben skizzierten Theatersozialisation, schleierhaft.) Es sind die "Modernen", die vielfach gegen eine "verschlampernde Tradition" die "Originalgestalten" der Werke (Urfassungen, zu öffnende Striche undsoweiter) ins Feld führen. Zu Recht natürlich, wenn es gegen eine unbegriffene Tradition geht. Zu Unrecht, finde ich, wenn es gegen eine konkrete Aufführungssituation geht, die m. E., wenn es dafür Argumente gibt, jeden Eingriff in die Partitur legitimieren kann.


    Paradoxerweise scheint es mir so zu sein, dass alle Modernisierungen in der Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte eben gerade vom Performativen weg geführt haben, das im "Staubi"-Zeitalter auf eigentümliche Weise längst bestand:


    die berühmte "Vierte Wand", deren Fall im Sprechtheater den Umschwung vom realistisch-naturalistischen zum narrativen (Brecht-)Theater bedeutete, war ja in der Oper in Zeiten, da die Protagonisten ihre Arien von der Rampe aus ins Publikum schossen, gar nie vorhanden.


    Die Interaktion "von unten nach oben" fand, oben habe ich's schon erwähnt, mit Beifalls- oder Missfallenskundgebungen mitten in der Aufführung ganz unmittelbar statt.


    Die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Oper war, da sie in Übersetzung gesungen wurden, viel unmittelbarer möglich als heute, da ein Originalsprachendogma (und der internationale Starbetrieb) die Zuschauer zu Übertitellesern macht.


    Das "Aus-der-Rolle-fallen" des Darstellers, die Publikumsbeschimpfung habe ich oben mit der Vickers-Anekdote beschrieben. Sicher war es nicht das einzige Mal, das in der Oper so etwas vorkam. Dass ich es erwähnte, war nicht bloß anekdotisch gemeint. Eigentlich in jeder Castorf-Inszenierung der 90er Jahre war es meist der wundervolle Herbert Fritsch, der mindestens einmal (inszeniert) aus der Rolle fiel und sich in wundervollen Beschimpfungen des Publikums oder des Regisseurs oder seiner Kollegen erging.


    Nicht gesehen habe ich leider Michael Thalheimers Operninszenierungen: "Katja Kabanova" in Berlin und "Rigoletto" in Basel. Thalheimer hat in seinen Sprechtheaterinszenierungen das An-der-Rampe-direkt-ins-Publikum-sprechen zu ungeheurer Intensität entwickelt. Wäre kurios zu erfahren, ob er diesen virtuosen Sprechtheater-Kunstgriff in die Oper, wo er auf eine alte Tradition des An-der-Rampe-Singens traf, hat übersetzen können.



    Grüße,
    Micha


    der hofft, nicht missverstanden zu werden:
    Nein, das hier ist kein "Früher-war-alles-besser"-Beitrag. Ganz im Gegenteil.