Lieber Thomas,
über das hier
Zitat
Original von ThomasNorderstedt
Wichtiger als die Frage, wie gespielt wird, scheint mir jedoch die Frage, was gespielt wird. Die Oper natürlich, scheint die Antwort zu lauten. Aber ist das wirklich so? Im Theater ist es durchaus üblich, das jeweils gespielte Stück nur als Material anzusehen, mit dem nach Belieben umgegangen werden kann. Es ist interessant sich zu überlegen, ob das in der Oper auch so sein kann.
habe ich heute auch nachgedacht. Der Begriff "Regietheater", der hier in letzter Zeit sehr strapaziert wird, scheint mir auf kaum eine Operninszenierung, die ich je wahrgenommen habe, zu passen, wenn ich dazudenke, was im Sprechtheater mit dem Begriff "Regietheater" beschrieben wird. Ich bin theatralisch mit den Regisseuren Jürgen Kruse und Frank Castorf Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre sozialisiert worden, habe bei beiden als Jungspund auch hospitiert und ihre Arbeitsweise von innen erlebt. Den frei-assoziativen Umgang mit dem Text-Material, den ich bei diesen (und als Zuschauer auch bei anderen) Regisseuren erlebt habe, gibt es in Musiktheaterinszenierungen praktisch nicht. Am ehesten wohl noch in Operetteninszenierungen an Sprechtheaterbühnen: in Christoph Marthalers Inszenierung von "La vie parisienne" an der Volksbühne und wohl auch in Castorfs Hamburger "Fledermaus" von 1997 (die ich leider nicht gesehen habe, aber das Programmheft erwähnt u.a. Baudrillard, Rammstein und Q. Tarantino als Textdichter des Abends).
Heute ist es vor allem der in Deutschland lebende und arbeitende Ungar David Marton, der Opernpartituren sehr intensiv auseinandernimmt, neu zusammenbaut und durch Fremdes ergänzt. Von ihm habe ich in Berlin eine "Freischütz"-Version 2004 und "The Fairy Queen" 2005 gesehen. Spätere Arbeiten wie "Der feurige Engel" und "Wozzeck" kenne ich nur vom Hörensagen. Marton arbeitet allerdings nicht in Opernhäusern (wohl weniger, weil er nicht wollen würde), sondern im "Edel-Off" (Sophiensaele Berlin, Kampnagel Hamburg) und in letzter Zeit auch in Schauspielhäusern (Volksbühne, schauspiel hannover).
In Opernhäusern bleiben Partituren unangetastet (von durch Tradition legitimierten Strichen abgesehen), und das Dogma von der "Werktreue" ebenfalls - das wird ja, auch hier im Forum, von Anhängern "moderner" Inszenierungen ebenso vehement in Anspruch genommen wie von denen "konservativer". (Warum "Werktreue" ein unhinterfragbarer Wert an sich sein soll, ist mir, aber das liegt an meiner oben skizzierten Theatersozialisation, schleierhaft.) Es sind die "Modernen", die vielfach gegen eine "verschlampernde Tradition" die "Originalgestalten" der Werke (Urfassungen, zu öffnende Striche undsoweiter) ins Feld führen. Zu Recht natürlich, wenn es gegen eine unbegriffene Tradition geht. Zu Unrecht, finde ich, wenn es gegen eine konkrete Aufführungssituation geht, die m. E., wenn es dafür Argumente gibt, jeden Eingriff in die Partitur legitimieren kann.
Paradoxerweise scheint es mir so zu sein, dass alle Modernisierungen in der Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte eben gerade vom Performativen weg geführt haben, das im "Staubi"-Zeitalter auf eigentümliche Weise längst bestand:
die berühmte "Vierte Wand", deren Fall im Sprechtheater den Umschwung vom realistisch-naturalistischen zum narrativen (Brecht-)Theater bedeutete, war ja in der Oper in Zeiten, da die Protagonisten ihre Arien von der Rampe aus ins Publikum schossen, gar nie vorhanden.
Die Interaktion "von unten nach oben" fand, oben habe ich's schon erwähnt, mit Beifalls- oder Missfallenskundgebungen mitten in der Aufführung ganz unmittelbar statt.
Die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Oper war, da sie in Übersetzung gesungen wurden, viel unmittelbarer möglich als heute, da ein Originalsprachendogma (und der internationale Starbetrieb) die Zuschauer zu Übertitellesern macht.
Das "Aus-der-Rolle-fallen" des Darstellers, die Publikumsbeschimpfung habe ich oben mit der Vickers-Anekdote beschrieben. Sicher war es nicht das einzige Mal, das in der Oper so etwas vorkam. Dass ich es erwähnte, war nicht bloß anekdotisch gemeint. Eigentlich in jeder Castorf-Inszenierung der 90er Jahre war es meist der wundervolle Herbert Fritsch, der mindestens einmal (inszeniert) aus der Rolle fiel und sich in wundervollen Beschimpfungen des Publikums oder des Regisseurs oder seiner Kollegen erging.
Nicht gesehen habe ich leider Michael Thalheimers Operninszenierungen: "Katja Kabanova" in Berlin und "Rigoletto" in Basel. Thalheimer hat in seinen Sprechtheaterinszenierungen das An-der-Rampe-direkt-ins-Publikum-sprechen zu ungeheurer Intensität entwickelt. Wäre kurios zu erfahren, ob er diesen virtuosen Sprechtheater-Kunstgriff in die Oper, wo er auf eine alte Tradition des An-der-Rampe-Singens traf, hat übersetzen können.
Grüße,
Micha
der hofft, nicht missverstanden zu werden:
Nein, das hier ist kein "Früher-war-alles-besser"-Beitrag. Ganz im Gegenteil.