Zunächst möchte ich mal auf ein paar historische Tatsachen verweisen:
1. Regie als eigenständige Kunstform existiert im engeren Sinn erst seit dem 20. Jhdt. - Davor agierten die Darsteller entweder nach strikten Schemata (griechische Tragödie, No, Kabuki, Peking Oper), die eine individuelle Ausgestaltung durch die Darsteller verunmöglichen oder in einer Kulisse im Wesentlichen nach eigenem Gutdünken mit viel Improvisation (Shakespeare, Nestroy). In der Oper agierten sie zunächst zumeist gar nicht, sondern traten auf (an die Rampe) und sangen - im Übrigen war das Publikum an der Szene selbst ohnehin nur mäßig interessiert, sondern mauschelte in den Logen (nachzulesen bei Dumas).
2. Libretti enthalten meist nur Angaben zu Auftritt/Abtritt und zur Kulisse - das Handeln (Bewegung, Berührung, Gestik, Mimik) muss stets neu "erfunden" werden. Elaborierte Libretti (etwa Wagner) enthalten wiederholt Szenenanweisungen, die praktisch gar nicht umsetzbar sind - wer hat etwa schon einmal Brünnhilde auf ihrem Ross in den Scheiterhaufen galoppieren gesehen?
3. Das Zusammenwachsen der Kunstformen - Oper ist auch Theater und nicht nur Gesang in Kulisse - ist Faktum; siehe auch das (in Wien erst seit Mahler und gegen den Willen des Publikums) gedämpfte Licht in der Oper. Das beinhaltet auch den Einzug der Interpretation eines Werks durch die ausführenden Künstler (inkl Regie).
4. Zumindest bis Mozart war es völlig selbstverständlich, dass in historischen Sujets die Personen in Gewändern der Gegenwart auftraten (so wie auch die Figuren- und Umgebungsdarstellungen in Gemälden nicht "historisch korrekt" war - Troja im Hintergrund von El Grecos "Laokoon" ist etwa zweifelsfrei Toledo; Ritter in Bibeldarstellungen gibt es wie Sand am Meer).
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Für mich ist es bemerkenswert, dass konservative Opernbesucher unter Regie stets primär (wenn nicht sogar ausschließlich) die Ausstattung verstehen. Tatsächlich aber ist Regie das Zusammenspiel und die Koordination der handelnden Personen auf einer Bühne. Das muss überzeugend funktionieren - wobei sich der Charakter von Bühnefiguren nur aus einer Interpretation ihres Textes und ihrer Musik entwickeln lässt, also mitunter eine rechte breite Palette der Ausgestaltung offenlässt.
Ein paar Beispiele:
Die bereits angesprochene Serban-Inszenierung der "Indes Galantes" ist ein hinreißendes, kunterbuntes Spektakel - für ein Werk, das als Spektakel konzipiert war und keinerlei Anspruch auf historische Korrektheit erhebt.
Christoph Loys "Lucrezia Borgia" - die Kostüme sind teils zeitgenössisch, die notwendigen Requisiten sind da, das Zusammenspiel der Personen ungemein intensiv. Die Kulisse existiert freilich gar nicht - aber ist es unbedingt notwendig, Pappkulissen von Palästen aufzustellen, wenn aus dem durch kein szenisches Brimborium gestörten Spiel umso mehr Handlung ersichtlich ist?
In Pellys "Elisir d'amore" fährt Dulcamara im Verkaufs-LKW vor - ist das ein ernsthaftes Problem, wenn sonst alle Facetten dieses charmanten Scharlatans hinreißend ausgespielt werden? Derselbe Regisseur inszenierte "La vie parisienne" als großartige Parodie des gegenwärtigen Paris (so wie Offenbach bei dessen Kreation) - das soll gegen das Libretto sein?
Herzogs "Orlando"-Inszenierung aus Zürich zeigt die Rückführung eines liebeskranken Helden zum Krieger - so wie es das Libretto vorsieht. Nur halt nicht in einer mittelalterlichen Zauberwelt (durch einen Magier) sondern in einem "Zauberberg"-Sanatorium (durch einen Psychiater). Das soll ein Problem sein?
Im Übrigen gibt es jede Menge traditioneller "librettotreuer" Inszenierungen, die dem Inhalt eines Stückes viel mehr gewalt antun als ein Schauplatz- oder Zeitwechsel (wenn etwa Figaro oder Cosi zu platt-harmlosen Boulevard-Blödeleien mutieren, oder der Mesner in der Tosca als schrullig-netter Onkel dargestellt wird).
Insgesamt ist gute Oper und gutes Theater nur möglich, wenn die Regie eine ganz wesentliche Rolle einnimmt - nur dann wird ein Werk wirklich ein großes Ganzes. Natürlich geht bei diesem "Regietheater" immer mal auch was richtig schön daneben - aber wie arm wäre die Welt der Bühne, wenn es diese ständigen Versuche, nicht gäbe, ein Werk für die Gegenwart zu übersetzen oder ihm Aspekte zu entlocken, die bisher unentdeckt geblieben sind. Auch haben viele Künstler damit weit weniger Probleme als Teile des Publikums - aber die müssen sich ja auch eine Rolle irgendwie zu eigen machen.
Theater ist kein Museum, sondern lebt (nur) durch den immer neuen Schöpfungsprozess. Fehlschläge gehören zur Entwicklung und zum Fortschritt wie das Amen zum Gebet - und wenn schon; dann halt beim nächsten Versuch anders. Das Werk überlebt notfalls jede Inszenierung - und was gefällt/berührt/begeistert ist auch oft davon geprägt, wie man selbst zu einem Werk/Sujet steht.
P.S.: Selbst unter Katholiken besteht weitgehend Konsens, dass es wenig Sinn macht, die Bibel wörtlich zu nehmen - und ausgerechnet bei einem Opernlibretto wollen wir damit anfangen?!