Beiträge von martello

    Der Vollständigkeit halber sollte nicht unerwähnt bleiben, wie Verdi auf diesen Brief reagierte:


    Er zahlte; allerdings mit der Auflage, dass sich der Briefschreiber verpflichten musste, nie wieder die Aufführung einer Verdi-Oper zu besuchen.


    Ich halte Aida übrigens für eine großartige Oper - die nur häufig unter übermotivierten SängerInnen leidet und szenisch von Komparsenheeren zerquetscht wird. Dazu - und meinen Lieblingsaufnahmen - in Kürze mehr.

    Als wenn zeitgenössische Kunst je der totale Renner und praktisch unumstritten war. Wie war das noch mit den "zu vielen Noten" bei Mozart?


    Extreme Anhänger des Zeitgenössischen (also die fast alles vorher für veraltet halten) sind ebenso autistisch, wie Totalverweigerer, für die die Musikgeschichte etwa 1950 abgeschlossen wurde - es gibt halt (logischerweise) nur weniger davon. Ich persönlich möchte mich durch diese und andere Genregrenzen nicht stören lassen - ob ich jetzt Händel, Wagner oder Ligeti höre ist rein stimmungsabhängig. Freundlicherweise gibt es auch immer mehr Künstler, die zeigen, dass Werke unterschiedlicher Epochen doch wunderbar zu einem Programm zu vereinen sind. So die CD "Credo" von Helene Grimaud oder ein wunderbarer Etuden-Abend mit P.-L. Aimard, der zwischen ca. 15 Ligeti-Etuden solche von Haydn, Beethoven, Debussy und anderen plazierte.


    Zur geringen Repräsentation in den Foren:
    Viele threads beschäftigen sich mit der Erinnerung an große Künstler und ihre besten Einspielungen. Weitere mit unterschiedlichen Einspielungen eines Werks, wobei zwischen den Interpretationen bald 100 Jahre liegen können und es oft auch mehrere Dutzend gibt. Was soll man hier bei Werken, die vor 10 Jahren geschrieben und erst einmal aufgenommen wurden diskutieren? Das wird sich aber schön langsam ändern - "zugänglicheres" (zB Britten) wird systematisch häufiger aufgenommen, bei den Cellosuiten gibt es mittlerweile zumindest 5 Kompletteinspielungen (aber 4 davon aus den letzten knapp 10 Jahren); bei Ligeti, Boulez oder Berio wird das nochj ein wenig länger dauern.


    Ich werde Alfreds "Anregung" aber gerne dazu nutzen, euch mit einschlägigen Themen zu quälen.

    "Isoliert" finde ich bei den nicht mehr aktiven oder verstorbenen Sängern George London besonders beeindruckend. Stewart war mir beim ersten Hören auch etwas zu leichtstimmig; andererseits passt diese Stimme wunderbar zur szenischen Gestaltung der Rolle im Chereau/Boulez-Ring (die generell auf leichtere/schlankere Stimmen ausgerichtet ist, weil auch das Orchester ganz anders klingt).


    Aktuell präferiere ich John Tomlinson (finde ich wirklich gut in der Barenboim-Aufnahme) und Falk Struckmann - der aber meines Wissens in dieser Rolle noch nicht "konserviert" wurde.


    Eine Prognose gestatte ich mir:
    Der Wotan der Zukunft ist für mich der Waliser Bryn Terfel, ein intelligenter Rollengestalter mit einer einer phänomenalen Stimme. Wotans Abschied hat er schon auf CD und in Lucerne, jeweils unter Abbado, aufgenommen bzw gesungen; derzeit feiert er sein komplettes "Ring"-Debut in Covent Garden.
    Zu hören übrigens Sa, 17.09.2005 auf Ö1!

    Bin ich am Ende ein aus versehen nach Wien geratener Piefke?
    Oder warum spricht mir GiselherHH so weitgehend aus der Seele?


    Danke jedenfalls für deine Ausführungen, denen ich mich wie gesagt weitgehend anschließen kann (wobei ich Mortier wie gesagt tatsächlich mochte, sogar auch als Person).


    Zur Fledermaus hat es in Österreich übrigens heftige Debatten gegeben - bis hinein in Zivilprozesse und zugehörige juristische Fachliteratur (darunter - inhaltlich eher sehr dürftig - der Junior des Staatsoperndirektors der tatsächlich Betrug(!) belegen wollte). Mal ganz davon abgesehen, dass ich es bis heute nicht kapiert habe, dass man ein Charakterschwein den Eisenstein als Sympathiefigur darstellen kann - und der Rest dieser Gesellschgaft ist ja kaum besser - aber auch dass mag ein österreichisches Rezept sein: Wer nicht gemeuchelt werden kann, wird halt zu Tode umarmt.


    Wie bereits angedeutet gibt es viel wunderbare Literatur, um Wien und die Wiener kennen zu lernen:
    - Horvath, Schnitzler, Merz/Qualtinger, Bernhard, etc.
    das manches davon schon gut 100 Jahre alt ist, ändert nichts an der Aktualität - Wiener haben "Beharrungsvermögen", wie uns Alfred ja bereits dargelegt hat.

    Die Bewertung der beiden Davis-Einspielungen fällt für mich unter "Geschmackssache" - allein der sehr unterschiedlichen Interpretationen des Aeneas durch Vickers bzw Ben Heppner wegen. Da aber die jüngere immer schon sehr günstig war und die ältere (wohl wegen dieser Konkurrenz) auf ein ähnliches Preisniveau in gleicher Ausstattung gebracht wurde kann man ruhig beide besitzen.


    Zu den DVDs:
    Die Gardiner-Aufnahme ist wirklich exzellent, sowohl orchestral (mit einigen Musiksplittern, insb Percussionsinstrumente, die sonst weggelassen werden) als auch hinsichtlich der Stimmen.


    Die Cambrelling-Aufnahme aus Salzburg unterscheidet sich insbesondere durch ein kompromissloser durchgezogenes Regiekonzept (Herbert Wernicke) als auch durch die Tatsache, dass Deborah Polaski tatsächlich Kassandra und Dido sang - eine fast irrwitzige tour de force. Insofern ist diese Aufnahme wohl eher polarisierend als die neue aus Paris.

    Nein, keine Sorge - ich bin nicht "verkapselt". Aber ich bin halt auch "Wien" und möchte nicht bis zu meiner Pension warten, um hier auch die Sachen hören zu können, die mir schon jetzt gefallen.
    Niemand hindert irgendwen etwas zu ignorieren - aber das soll er bitte privat und nicht institutionell machen.


    und ja, ich war immer ein glühender Fan von Mortier und Peymann - aber das hast Du dir vermutlich eh schon gedacht. :lips:

    Nachdem Alfred eines meiner postings zum Anlass genommen hat, diesen thread wieder nach oben zu schieben (Danke übrigens) muss ich hier natürlich auch was abliefern.
    Um Alfreds Wunsch überzuerfüllen lege ich mir zusätzlich folgende Beschränkungen auf:


    - Ich nenne keine bereits angeführte Aufnahme (schade, wären ein paar dabei gewesen)


    - zu den von mir angeführten Werken gibt es mehrere Konkurrenzeinspielungen, meist aus den letzten Jahrzehnten


    Nun gut:


    Beethoven "Die 9 Symphonien"
    Wiener Philharmoniker, Simon Rattle
    (2003 EMI)


    Beethoven "Die Klavierkonzerte"
    COE, Harnoncourt; P.-L. Aimard
    (2003 Warner)


    Beethoven "Klavierkonzerte 2 & 3"
    Mahler CO, Abbado; Argerich
    (2004 DGG)


    Tschaikowsky "Violinkonzert"
    Kirov Orchester, Gergiev; Repin
    (2002 Philips)


    Ravel "Sonaten und Trios"
    Capucon, Capucon, Braley
    (2002 Virgin)


    Shostakovitch "Symphonie Nr. 11"
    LSO, Rostropovitch
    (2002 LSO-live)


    Berg "Violinkonzert"
    BBC Symphony, Watkins; Daniel Hope
    (2004, Warner)


    - Fortsetzung folgt

    Kurz zusammengefasst sind diese Interpretationen relativ ruppig und nicht immer mit den optimalen Stimmen besetzt. Dies auch weil sie im Rahmen seines Zyklus an der Züricher Oper entstanden sind - manche SängerInnen mussten sich das Fach erst erarbeiten, manche Männerrollen wurden aus aufführungstechnischen Gründen transkribiert. Als Pionierleistung aller Ehren wert (und auch immer noch nicht schlecht) - aber eben von der nächsten Generation übertroffen.


    Bei Monteverdi würde ich derzeit neben Garrido die exzellenten Einspielungen von Rene Jacobs (harmonia mundi) empfehlen, die auch ein stimmlich perfekt ausbalanciertes, auf diese Epoche spezialisiertes Sängerensemble aufweisen.


    Zum "Orfeo" gibt es noch Konkurrenz durch Emanuelle Haim (Virgin) - unglaublich spritzig, historische Instrumente aber schon ziemlich frei interpretiert. Das Staraufgebot (Botridge, Dessay, Gens, Ciofi) ist enorm und - noch beeindrucknder - exzellent für die Partien ausgewählt.

    - sozusagen mein persönliches Kontrast- bzw Ergänzungsprogramm zu Aimard ist der junge russische Pianist Arcadi Volodos.


    Ein beeindruckender Virtuose mit einem Faible für atemberaubend gespielte Transkriptionen - dennoch aber kein reiner Fingertechniker, die musikalische Linie wird immer behalten. Das Repertoire ist primär auf Rachmaninow, Skrjabin und Liszt konzentriert.

    Neben der wunderbaren Stimme ist auch das breite Repertoire von Barock bis zu Zeitgenössischen bewundernswert. Daher noch ein paar empfehlenswert Aufnahmen:


    - "Il tenero momento" Mozart und Gluck Arien


    - "Songs of Ned Rorem"


    - Händel "Alcina" (mit Christie; Fleming, Dessay)


    - Jack Heggie "Dead man Walking"


    - Berlioz "Les Troyens" (Gardiner) - DVD

    Ist schon richtig, ich leide nur immer wieder an Gesprächspartnern, die meinen Welststars könnten nur in Wien, oder bei den Salzburger Festspielen "geboren" werden.


    Da kommen KünstlerInnen die im europäischen Ausland, in Übersee oder vielleicht nur einem etwas ausgefalleneren Bereich der Klassik Stars sind - und was hört man in Wien?
    - Von dem/r hab' ich noch nie was gehört. Aber wenn jemand erst in dem Alter nach Wien kommt, wird's wohl nichts so besonderes sein.


    Das liegt vermutlich auch daran, dass in Österreich keine Kulturiournalisten über den nationalen Tellerrand hinaussehen (die FAZ schreibt zB über eine Opernpremiere in Paris oder London mehr als Presse und Standard zusammen über eine an der Wiener Staatsoper).

    Die Zeit der "Tyrannen" ist insofern vorbei, als manches Gehabe, das vor 80 oder auch nur 50 Jahren allgemein akzeptiert war, so heute nicht mehr möglich ist. Auch die klassische Musik existiert ja nicht im luftleeren Raum sondern kommuniziert mit dem realen Leben (gelegentlich zumindest). Wer in den 30ern oder 50ern bei Widerworten vom Vater ansatzlos und gesellschaftlich akzeptiert geschlagen wurde, verhält sich auch bei Anweisungen eines Vorgesetzten anders, als jemand, der in einer demokratischen Diskussionskultur aufgewachsen ist.
    (dies nicht um zu politisieren, sondern um den Wandel sichtbar zu machen).


    Heute spielt es einfach nicht mehr "Befehl und Gehorsam" sondern "Motivation und Überzeugung". Die Resultate sind deshalb keineswegs schlechter und für herausragende Interpretationen bedarf es primär herausragender Persönlichkeiten als geborener Diktatoren.


    Zu Harnoncourt:
    Er ist vermutlich ein Grenzfall; jedenfalls ein Mensch mit außergewöhnlicher Autorität und einer gewissen Kompromisslosigkeit, wenn es um die Durchsetzung seiner Werksicht geht. Angesichts von Probenbesuchen würde ich ihn aber nicht als "autoritär" oder "autokratisch" im klassischen Sinne bezeichnen, da er immer bemüht ist zu erklären, warum etwas so und nicht anders klingen soll. Auch erweist er sich gegenüber Kollegen als teamfähig (Oper Zürich) und betrachtet Regisseure als gleichberechtigte Partner.
    Natürlich ist jede Werksicht individuell gefärbt. Dennoch denke ich macht es einen Unterschied im Selbstverständnis eines Dirigenten, ob er versucht, das originale Notenmaterial zu interpretieren, oder von Kollegen (vielleicht gar sich selbst) "verbesserte" Partituren verwendet. Und er ist definitiv kein Selbstdarsteller.

    Also da hab' ich nun wirklich meine Zweifel. Erstens ist das Wiener Publikum eines, das Entwicklungen auch im Bereich der klassischen Musik grundsätzlich hinterherhinkt - die HIP war ja in anderen Teilen Europas schon voll etabliert, wo die Ensembles bei uns noch um Aufführungsmöglichkeiten betteln mussten. Auch wurden Vetrtreter einer anderen Sicht auf Mozart (Harnoncourt, Gardiner) von einer Gruppe von Karajan-Adoranten mit der Aggressivität von Kampfhunden attackiert. Es ist ja peinlich, dass der bedeutendste österreichische Dirigent der letzten 20 Jahre seine Mozart-Aufnahmen praktisch nur mit dem persönlichen Freundeskreis oder im "Exil" in Amsterdam machen konnte.


    Angesichts der Tatsache, dass in Wien von "Mozart-Kennern" Böhm, Muti oder Karajan immer noch Harnoncourt, Gardiner oder Jacobs vorgezogen werden, handelt es sich bei Wien wohl eher um der Welt führendes Mozart-Museum.


    Ach ja, die musikhistorische stilbildende Epoche "Karajanismus" wird es Gott sei Dank nicht geben - selbst wenn das dem seelige Herbert von möglicherweise sogar als angebracht erschiene.

    Selbst der alte Sturschädel - nicht despektierlich gemeint - Harnoncourt wird ja immer entspannter. Vielleicht, weil er als einer der wenigen bedeutenden Österreichischen Künstler des 20. Jhdts. seine weitreichende Anerkennung und Achtung noch erlebt hat.


    In einem - humoristischen - Mini-Lexikon der styriarte stand übrigens mal


    "Harnoncourt, Nikolaus: ... Unter ihm spielen sogar die Wiener Philharmoniker ganz anders als gewohnt. Vermutlich weil er so böse dreinschauen kann."


    Bin ja gespannt, ob er sich jetzt nach Bruckner, Dvorak und Bartok vielleicht Schöngberg, Berg, Stravinsky oder Shostakovitch vornimmt - und zum 100sten Geburtstag dann Boulez :D

    In Wien hat er vor nicht allzu langer Zeit ein wunderbares Dvorak-Programm (u.a. Cellokonzert mit Rostropowitsch) abgeliefert. Sonst wird er leider von seinem Chef in der Staatsoper regelmäßig für Werke eingesetzt, die nicht unbedingt ideal für ihn sind.


    Exzellent finde ich auch seine Stravinsky-Interpretationen, so "Oedipus Rex" (gibt's jetzt auch auf DVD) und "Rakes Progress" mit dem Saito Kinen Orchestra und Rolfe-Johnson / McNair in den Hauptrollen (Philips, aber vermutlich gestrichen).

    Hinsichtlich der historischen Interpretationspraxis zeigt sich ja auch schon bei Werken des 19. Jhdts., dass allein durch die Aufführungspraxis sehr eigenwillige Mutationen eintreten - man denke an die immer wieder auftretenden (und nie geschriebenen) Spitzentöne in manchen Verdi-Opern. Harnoncourt hat in einem Interview zu seiner Aida-Aufnahme mal gesagt, er sei ganz erstaunt gewesen, welche dynamischen Abstufungen, wieviele beinahe kammermusikalischen piano-Stellen in der Partitur stehen. Aber gehe man in ein Opernhaus, höre man nur: forte - forte - forte.


    Abgesehen davon ist ja auch die HIP einem Wandel unterworfen. Waren die frühen Aufnahmen noch Dokumente nachgerade wissenschaftlichen Ehrgeizes, eine vergangene Epoche wieder auferstehen zu lassen (und dementsprechend spröde), so ist auch hier mittlerweile Lust und Improvisationsfreiheit eingekehrt (allein der unvollständigen Partituren und Orchestrierungen wegen). Beispiel: Die Interpretation der "Overture" von Monteverdis "L'Orfeo" zwischen Harnoncourt und Emmanuelle Haim.


    Insofern würde ich hier keinesfalls einen Mangel an Spontaneität oder ein Übermaß an kühler Distanz diagnostizieren - oft eher das Gegenteil. Die Interpretationen von "Il Giardino Armonico" gehören für mich zu den glutvollsten und packendsten Orchesteraufnahmen von Barockmusik - voll Temperament und Lebensfreude (bei Bach zugegeben ein Grenzfall, bei Vivaldi, Biber u.a. aber genial). Und die Freiheiten, die Rene Jacobs in seinen jüngsten Aufnahmen seinem Cembalisten für Improvisationen lässt, muss man wirklich mal gehört haben.

    Bei Wagner ist das sicher nicht unrichtig - allein mit der Wagnerschen Einschätzung seiner selbst als Künstler verträgt sich ohnehin keine nicht von ihm geleitete und überwachte Aufführung. (Und mit Wagners Ideen wie ein Künstler wie er behandelt zu werden hat werden selbst viele fans seiner Werke nicht mitkönnen).


    Klar ist jedenfalls, dass auch die Nachkriegsinszenierungen von Wieland dem Egomanen Richard nicht gefallen hätten - insofern witzlos wieder mal der Regie den Status als eigenständige Kunst absprechen zu wollen.


    Volle Unterstützung hingegen für die Kritik an pseudohistorischen Inszenierungen die dann als "dem Geist des Werkes entsprechend" gepriesen werden.

    Ich bin kein wirklicher Fan von A.S. Mutter, halte sie aber jedenfalls für eine ausgezeichnete Geigerin. Ihre Interpretationen sind für meinen Geschmack nur häufig etwas zu "schön" und in ihrer Stilistik zu "romantisch".


    Toll finde ich aber, dass sie ihre Popularität nutzt und (ihr gewidmete) zeitgenössische Stücke (Rihm, Penderecki, Previn) aufführt und auch aufnimmt. Diese CD's sind im übrigen wirklich empfehlenswert. Ich halte auch erst die Aufnahmen der post-Karajan Zeit für wirklich interessant, weil sich erst hier die eigenständige Künstlerpersönlichkeit zeigt.


    Was negativ sein soll an der Verbindung Mutter-Previn würde ich ganz gerne wissen (und wieso soll's die DG nicht ausnutzen?). Mir fallen in dem Zusammenhang Sutherland/Bonynge und Gruberova/Haider ein - und diese Paarungen sind künstlerisch sicher fragwürdiger.

    Und wer - lieber Alfred - sagt eigentlich dass die von Dir angeführten historischen Referenzaufnahmen nicht auch bloß eine "vorübergehende Zeiterscheinung" waren?


    Leider wissen wir ja nichts von Referenz"aufnahmen" des 17. bis 19. Jahrhunderts.
    Und ich vermute denoch, dass gerade die Erkenntnisse der musikwissenschaftlichen Forschung (HIP, etc.) dazu beigetragen haben, dass bestimmte Änderungen von Dauer sein werden, weil sie schlicht ohne Verfälschung der Originalpartituren arbeiten.
    Man frage bitte einmal Harnoncourt oder Rattle nach von berühmten Dirigenten "bearbeiteten" Partituren von Mozart oder Beethoven.


    Bei der Gelegenheit fällt mir auch ein, wie Karajan mit A.S. Mutter (als Teenager, insofern nicht "strafmündig") und den Philharmonikern Vivaldis "4 Jahreszeiten" verunstaltet hat.

    Auch ich möchte der französischen Fassung den Vorzug geben; ist ja recht witzig, wenn der thread mit "Don Carlos" betitelt wird und die ersten Einträge nur "Carlo"-Aufnahmen anführen.
    Zudem plädiere ich dringend in jeder Sprachfassung für die 5-aktige Version, da damit die Dramaturgie der Oper viel schlüssiger wird.


    Meine Empfehlung:


    "Don Carlos" aus der Pariser Oper unter Antonio Pappano
    als CD-Box (EMI) oder DVD (Warner)


    Carlos - Roberto Alagna
    Posa - Thomas Hampson
    Philip - Jose van Dam
    Inquisitor - Eric Halfvarson
    Elisabeth - Karita Mattila
    Eboli - Waltraud Meier


    ganz bewusst ohne typische Verdi-Haudegen (damit nicht ein "Carlo" auf französisch gesungen wird) - damit gelingt dann wunderbar zu zeigen, dass der "Carlos" in der originalfassung wirklich ganz anders klingt. Besonders möchte ich die DVD empfehlen, da alle Beteiligten in einer wunderbaren Regie von Luc Bondy auch ausgezeichnet spielen.


    Noch etwas:
    Ich halte die Konwitschny-Arbeit "Don Carlos" für ganz ausgezeichnet und kann sie jedem empfehlen, der aufgeschlossen ist für Regie, die zum Mitdenken anregt und den Inhalt eines Werks pointiert szenisch umsetzt, ebenso wie die Doppelbödigkeit von Texten (insb Philips Lamento) entlarvt.
    Für Basilios und andere gibt's in der Staatsoper ja auch noch einen "Carlo" in klassischer Rampentheater-Optik - also kein Grund zur Verzweiflung.

    * für Nicht-Wiener: es handelt sich bei diesem "Häh!?" um einen typisch wienerischen, grunzlautartigen Ausdruck völligen Unverständnisses.



    Die Crux bei diesen Alt-Referenzen ist aber, dass viele davon stilistisch so nicht mehr gehört werden können. Thielemann hat ja schon bedauert, er würde gerne Bach dirigieren - freilich im Stile von Furtwängler - was aber mittlerweile unmöglich sei. Wenn ich diese Bach-Interpretation nun als Referenz benenne (oder auch nur die Karajan-Aufnahmen) muss ich der betreffenden Person ein Konzertverbot für diese Musik erteilen, weil sie ja gegenwärtig nichts "richtiges" geboten bekommt.


    Und hier liegt das Problem:
    Wenn man via CD auf Interpretationen fixiert ist, die 30 Jahre und mehr auf dem Buckel haben, kann es im Konzertsaal zum Kulturschock kommen. Daher empfehle ich Einsteigern Referenzaufnahmen möglichst mit Künstlern, die immer noch aktiv sind oder deren Interpretationsansatz im Rahmen der aktuellen Aufführungspraxis liegt.

    Da muss ich mich gleich mal selbst rügen; Alfred hat nur von "gottähnlicher Verehrung" gesprochen - ist mir aber auch noch viel zu extrem.


    Im Übrigen ist es mir in hohem Maße suspekt, wenn - vor allem junge - Menschen als Referenzaufnahmen ständig Künstler anführen, die sie selbst nur als Tonkonserve kennen (können).
    Wie zB Caruso live geklungen hat, weiß heute aus eigener Erfahrung kein Mensch mehr - und aus den Tonkonserven lässt es sich günstigstenfalls erahnen.


    Dazu kommt, dass auch das Singen in Technik und Stilistik Strömungen unterliegt und auch aus diesem Grund Stimmen heute oft ganz anders klingen als in den 30er, 40er oder 50er Jahren. Im Theater kann man diese Entwicklung noch viel deutlicher beobachten.

    Dauerhaft wohl nur in Ausnahmefällen. Allerdings kann es durchaus zu mehrjährigen Verzögerungen kommen. Aus eigener Erfahrung - ich habe mit 19 ohne jede Vorbildung angefangen und mich unsystematisch immer weiter in die unterschiedlichsten bereiche vorgearbeitet - möchte ich folgendes sagen:


    Junge Neueinsteiger beginnen fast immer mit nicht-optimalen Aufnahmen (weil sie sich die Vollpreis-Referenzen nicht leisten können). Das Gehör sensibilisiert sich aber mit der Zeit, insbesondere durch den Besuch von Aufführungen. Mit ein wenig Geduld findet jeder aber binnen relativ kurzer Zeit die Art der interpretation von bestimmten Werken, die ihm am meisten zusagt. Und dann bedarf es nur noch der Lust am Immer-wieder-was-Neues-entdecken.


    Viel gefährlicher ist, wenn Kinder oder Jugendliche von ihren Eltern zum Klassik-"Genuss" gezwungen werden - am besten noch zu völlig unpassenden Werken. Dann kann es tatsächlich ein "Trauma" geben, dass sich in einer unterschiedslosen Abneigung ausdrückt. Und das kann leider tatsächlich dauerhaft sein.

    Zusätzlich möchte ich vielleicht noch anbringen, dass viele Labels in der Fixierung auf ihre "cash-cows" - und zwar selbst als diese schon tot waren - vergessen haben, zu zeigen, dass es immer wieder großartige und spannende neue Künstler gibt. Hier spielt vielleicht auch mit, dass sich bei einigen/vielen Meinungsbildnern der Klassikszene ein Hang zur Vegötterung des Vergangenen etabliert hat. "Gottgleiche Verehrung" zolle ich aber prinzipiell niemandem.


    Dass ich mit Alfreds apokalyptischen Visionen vom totalen Unterang der Kunst durch ahnungslose Intendanten und unfähige Interpreten nicht viel halte ist ja nichts neues; daher nur zwei Anmerkungen:


    Natürlich gibt es immer noch großartige junge/jüngere KünstlerInnen - und die Ikonen unterliegen mittlerweile einer Verklärung die wohl ein wenig die Wahrnehmung trübt. Beispiele:
    Callas - ein Phänomen, zweifellos; aber ebenso ein psychischer Krüppel (sorry für das unkorrekte Vokabel). Wenn das der Preis für diese Ausnahmestellung ist, verzichte ich als Humanist auf "echte" Nachfolgerinnen - wie ich mich auch als Barock-Fan mit countertenören statt Kastraten begnüge.
    Corelli - für mich ein vokaler Zirkusartist, aber halt alles nur Show (und manchmal hat man das Gefühl, er gehört in eine psychiatrische Abteilung).
    Wunderlich - eine beeindruckende Stimme; aber wenn er bei Harnoncourt, Jacobs oder Gardiner so anfängt Mozart zu singen landet er (zu Recht) auf der Straße.


    Die Aufnahmequalität dessen, was derzeit unter "live" läuft ist mitunter kaum von früheren Studioaufnahmen zu unterscheiden (und auch dort kann bei der abmischung gepfuscht werden) - insbesondere, wenn sich "live" nur auf die Aufnahmetechnik bezieht, aber kein Publikum anwesend ist. Beispiel: "LSO-live" mit einigen wirklich beeindruckenden Aufnahmen.

    Ich möchte mich hier im Wesentlichen anschließen. Menschen die alles was in der Schönberg-Nachfolge steht (musiktheoretisch, nicht unbedingt altersmäßig) für grauenhaft und "eigentlich keine Musik" halten, sind mir ziemlich suspekt. Erschütternd, wie wenig Begeisterung ein von Boulez/Barenboim aufgeführtes phänomenales Schönberg-Klavierkonzert im Sommer in Wien auslöste (Motto: "Danke für die Missionierungsarbeit, aber jetzt bitte unseren Bruckner"). Ebenso lächerlich finde ich Modernisten, die alles ablehnen, was auch nur im entferntesten gefällig klingt oder markante Melodien bietet.


    Musik (Kunst allgemein) kann nie ohne vorher bestehendes existieren, genausowenig aber darauf verzichten, neue Wege und Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen - die Zeitgenossen dürfen sich entscheiden, ob sie diese Wege für richtig oder falsch halten, die Lösung werden sie allerdings selten erleben.


    Insofern bin ich der festen Überzeugung, dass Ligeti, Boulez oder Cerha in 50 Jahren einen festen Platz in der Musikgeschichte haben und zumindest so selbstverständlich aufgeführt werden wie mittlerweile ein Bartok oder Shostakovich.


    Viel schlimmer als alle neuen "Irrwege" (Ansichtssache!) finde ich aber die Verunstaltungen barocker und frühklassischer Werke durch "Bearbeitungen" und "Verbesserungen" durch Komponisten und Dirigenten (die dann nicht einmal als solche gekennzeichnet wurden) insbesondere in der Romantik und zu Beginn des 20. Jhdt.
    Was hier einem Mozart oder Beethoven angetan wurde, ist nicht nur musikalisch eine Zumutung, sondern stellt die wohl größtmögliche Beleidigung eines Künstlers durch spätere Generationen dar. Peinlich eigentlich, dass sogenannte "Musikkenner" und "Klassikexperten" immer noch die Wände hochgehen, wenn ihnen bei Mozart zur Abwechslung mal ein Naturhorn entgegen kommt oder bei Beethoven das Orchester keine Bruckner-Dimensionen aufweist.

    Vermutlich weil's den meisten HörerInnen völlig egal ist - nur so ein Schluss aus der Kirchenbesuchsstatistik. Und für die Vermittlung von Spiritualität gehörten solche Werke auch in Kirchen und nicht in Konzertsäle und müssten obendrein bei freiem Eintritt gespielt werden.


    Mal ganz davon abgesehen, dass es sich hier wesentlich um vorkonziliare katholische Werke handelt, die daher zwingend in Latein sein mussten - alles andere wäre nämlich evangelisch-ketzerisch gewesen.


    @Johannes:
    Bei "Giovanni" und anderen Opern in italienischer Sprache, hab' ich dann aber immer wieder die Brüche zwischen Sprachmelodie und dem Orchester - mal abgesehen davon, dass man auch deutsche Operntexte erst bei mehrfachem Hören weitgehend versteht.


    Ganz nett finde ich in diesem Zusammenhang "Zwitterfassungen" wie sie jüngst einige Male bei Offenbach-Operetten aufgetaucht sind:
    (Neue) Sprachfassung in der Landessprache, Lieder und Arien im französischen Original - ist nur ganz am Anfang gewöhnungsbedürftig, bringt aber viel für das inhaltliche Verständnis bei gleichzeitiger Bewahrung der Musiksprache.

    Gut, Cover wie die Badewanne oder die besonders freizügigen (vor allem mit irgendwelchen Models) sind ja im wesentlichen bei Samplern zu finden. Da haben die Knstler keinerlei Mitsprache sondern das entscheiden irgendwelche Marketing-Deppen.


    Insofern gebe ich dir Recht - da muss der Inhalt schon herausragend sein, um mit der peinlichen Aufmachung zu leben.
    Ich erinnere an die peinliche (Sony?)-Serie mit "Mozart für Manager", "Bach zum Bügeln" und ähnlichen Intelligenzleistungen.

    Eine Rezension in der FAZ (20.08.2005) zu den von der Staatsoper auf "Orfeo" veröffentlichten "Don Carlo(s)"-Aufnahmen wirft für mich die Frage auf, ob historischer Lokalpatriotismus und persönliche Eindrücke mitunter dem Urteilsvermögen im Wege stehen.


    Während in Österreich (insbesondere Wien) der 70er "Carlo" (Stein; Janowitz, Corelli, Wächter, Ghiaurov) ja hymnisch gefeiert wurde, bekommt er von Jürgen Kesting (nicht unbedingt ein Nobody) einen veritablen Verriss; in Auszügen:


    Wächters italianita "eine angestrengte Imitation"


    zu Corelli: "In stilistischer Hinsicht aber ist auch das Singen des Italieners - das unsaubere Angleiten der Töne statt genauer Portamenti, die grell geöffneten Vokale, die in klangarmen Phrasen-Enden versackenden Diminuendi, das rezidivierend zwischen den Zähnen guillotinierte "S" - nur für jene Materialfetischisten erträglich, die sich für singende Silbertrompeten begeistern."


    "Die danach folgende Auseinandersetzung des Königs (Ghiaurov) mit dem von Martti Talvela gesungenen Großinquisitor gerät zu einem Zyklopenkampf, der selbst bei meterdicken Palastwänden nicht überhörbar gewesen wäre. ... Beide reizen die Extreme des Ausdrucks dergestalt aus, dass sie den Gesangston verlassen , blaffend-rauh deklamieren."


    Fazit: "Trotz großer Stimmen ein Dokument zweitklassigen Rampentheaters."


    Wer kennt die Aufnahme oder hat gar die Aufführung miterlebt - und was meint ihr diesen Differenzen in der Bewertung?

    Unbedingt in diese Auflistung gehört auch


    John Claggart, master at arms
    (Benjamin Britten, "Billy Budd")


    - wer einen anderen (physisch) zerstören will, (nur) weil dieser erstmals in ihm menschliche (homosexuelle?!) Gefühle in ihm weckt, hat sich hier zumindest eine Erwähnung verdient. Wobei es sich auch hier wieder um eine hochkomplexe Charakterzeichnung handelt, die nur beim ersten Auftritt - auch musikalisch - an den monolithischen Großinquisitor im "Carlos" erinnert.