Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei Fidelio teils mit zweierlei Maß gemessen wird. Nur weil der 2. Akt von einer unübertroffenen Dramatik und Geschlossenheit ist, die kaum irgendein Komponist je erreicht hat (mir fällt jedenfalls keiner ein), heißt das nicht, dass es dem Werk überhaupt zuträglich gewesen wäre, diese Spannung von Beginn an aufzubauen.
Ich weiß nicht, welche Oper überhaupt übrig bliebe, wenn man sie mit der Schärfe kritisierte wie das bei Fidelio gemeinhin getan wird.
-Warum oder wie die Glaubwürdigkeit (ist die der Handlung oder der moralischen Aussage gemeint?) in Zweifel gezogen werden soll, versteh ich gar nicht. Lassen wir mal allen Zauberkram weg, eben so den Buffa-Slapstick, wo niemand auch nur auf den Gedanken kommt nach Palusbiliät zu fragen, aber haben z.B. Tosca, Rigoletto und Maskenball glaubwürdigere Handlungen? Angeblich beruht Fidelio sogar auf einem konkreten Fall im postrevolutionären Frankreich.
In einer ordentlichen glaubwürdigen Oper hätte Leonore natürlich mindestens mit Rocco und Pizarro ein Verhältnis angefangen, um ihren Mann zu befreien, am Ende hätten sich dann alle gegenseitig erdolcht und nur Jaquino, Marzelline und der Minister (segnet die Leichen) wären übriggeblieben
-Längen im ersten Akt. Wenn 5 min Goldarie "Längen sind", weiß ich nicht, was der gesamte erste Lohengrin-Akt, das Gekabbel von Fricka und Wotan in der Walküre sein sollen oder was von dem "Loch" im 2. Akt des Don Giovanni, zumal in den Mischfassungen zu halten ist...etc. pp.
-Banalität. Es ist ein Klischee und ein Mißverstehen der jeweiligen Stücke, aber La Donn' e mobile ist m.E. mindestens so banal wie etwa die Goldarie; beide sind indes nicht unwichtig zur Charakterisierung der Figur, die sie singt; die Banalität des Bösen oder des rücksichtslosen Hedonisten oder des Mitläufers. Oder die harmlose oder auch schlitzohrige Biederkeit einiger Arien Massettos oder Papagenos, da schreit auch niemand "banal" usw...
(Das Zankduett und Marzellines Arie sind zwei ganz großartige Stücke, das erste von einer luftigen Feinheit, die man Beethoven kaum zutrauen würde, das zweite kann man als einen durchaus ernst zu verstehenden Ruf nach Freiheit sehen, sozusagen Marzellines "Komm Hoffnung" en miniature)
-Bombast im Finale. Wiederum locker u.a. von der Nürnberger Festwiese oder vom ägyptischen Triumphzug übertroffen. Und hier geht es immerhin um eine Lebensrettung und den Sturz eines Tyrannen, letztlich eben um die gesamte utopische Idee, die dier Oper illustriert. Es mag Zeitgenossen geben, auf die das wie auch die 9. Sinfonie heute banal oder übertrieben wirkt, auf mich nicht. Und ich frage mich, wie diejenigen dann irgendein Stück von Wagner oder Strauss, Mahlers 2. und 8. oder Schostakowitschs 5. ertragen können.
Gewiß hat Beethoven sehr lang daran rumgedoktert und das Stück ist keineswegs ohne Schwierigkeiten, aber wie schon gesagt, wenn man mit solchem Maßstab mißt, bleiben mit Müh und Not vielleicht zwei oder drei Opern des gesamten Repertoires übrig, die das musikalische und dramatische Niveau des Fidelio erreichen und diese Probleme nicht aufweisen.
viele Grüße
JR