Zitat
Original von Swjatoslaw
Doch, Bernd, es gibt gute junge Pianisten. Und einige wenige sind sogar sehr, sehr gut. Berezowsky hat mich z.B. unlängst im Konzertsaal (als Einspringer für Elisabeth Leonskaja) schwer begeistert. Volodos und Bronfman ebenfalls. Wenn man heute ins Konzert gehen und Live-Musik hören möchte, ist man ja ohnehin auf diese heute aktiven Pianisten angewiesen. Sie müssen sich aber schon dem Vergleich mit den Pianisten-Generationen vor ihnen stellen. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht nur an ein sehr junges, unerfahrenes Publikum wenden, sondern sich einem Publikum präsentieren, das Michelangeli, Richter, Horowitz, Gilels, Serkin, Arrau oder Kempff noch gehört hat. Und wenn man dann mal ehrlich ist und einen echten Vergleich anstellt, meine ich schon, dass das Ergebnis ganz eindeutig ausfällt. Warum soll ich mir David Frey anhören, wenn ich mit Glenn Gould groß geworden bin? ....
Vielen Dank für deinen Beitrag. Er brachte mich dazu, zu überlegen, was eigentlich mit "rückwärtsgewandt" gemeint sein soll.
Ich würde es so verstehen, dass man ausschließlich die großen Meister der Vergangenheit hört und seine Ohren vor dem verschließt, was derzeit tatsächlich aktuell auf dem Markt ist. Dazu kommt dann noch das Vorurteil, dass die meisten der jungen Musiker eh nur von Plattenfirmen und Musikkritikern gehypt werden.
Eien solche Einstellung würde ich als rückwärtsgewandt in einem abwertenden, negativen Sinne verstehen und bezeichne sie als schädlich für die Musik. Denn sie läßt neuen Interpreten keine Chance. Aber was soll es bedeuten, wenn neue, junge Musiker mit den Altmeistern verglichen werden. Dass sie technisch ihr Instrument beherrschen, davon kann man eigentlich bei den allermeisten ausgehen. Im Gegenteil: ich habe manchmal den Eindruck, dass die technischen Fähigkeiten, also die Möglichkeiten, die Möglichkeiten seines Instruments vollkommen auszureitzen, eher noch gestiegen sind. Nun mag das nicht viel heißen, denn entscheidend ist doch, was macht der Musiker mit seiner Virtuosität ? Und das ist dann die Frage der Interpretation. Dann drängt sich doch aber die Frage auf, kann man "moderne", "aktuelle" Interpretationen mit denen vergangener Zeiten vergleichen ? Wenn man einmal zugibt, dass jede Epoche ihren eigenen "Zeitgeschmack" hat, dann kommt man auch zu einer anderen Definition von "rückwärtsgewandt". Dann geht es nämlich darum, dass man aus Gründen des Geschmackes an "veralteten" Interpretationen festhält.
Folgendes Beispiel: Glenn Gould hat mit seiner Einspielung der Goldbergvariationen auf dem Klavier Massstäbe gesetzt. Das ist sicherlich richtig. Das darf meines Erachtens jetzt aber nicht dazu führen, dass sich jede neue Aufnahme daran messen lassen muss, nach dem Motto "Klingt wie Gould - ist gut" oder "Klingt nicht wie Gould - böse". Die Entwicklung ist musikgeschichtlich, wie auch interpretatorisch - von der Aufnahmetechnik mal ganz abgesehen - weitergeschritten. Wer Gould in diesem Sinne immer noch Referenzstatus einräumt, ist meines Erachtens nicht bereit, neuen Entwicklungen vorurteilsfrei zu begegnen.
Ein anderes Beispiel aus meinem Sammelgebiet, den Suiten für Cello Solo von J.S.Bach: die Aufnahme aus den dreißiger Jahren von Pau Casals ist sicherlich von größter Bedeutung für die Geschichte der Aufnahmen dieser Stücke überhaupt. Sie war die erste komplette Aufnahme der Suiten. Eine Einstellung, dieser Aufnahme immer noch einen Referenzstatus einzuräumen, obwohl es seitdem hunderte neuer Aufnahmen gibt, von denen viele in jeder Beziehung - technisch, interpretatorisch und aufnahmetechnisch - besser sind, würde ich als in negativem Sinne rückwärtsgewandt bezeichnen.
Ich weiss nicht, ob jetzt klargeworden ist, was ich meine und will daher versuchen, es mit anderen Worten zusammenzufassen: Als im negativen Sinne rückwärtsgewandt würde ich die Einstellungen bezeichnen, die 1) sich jeder neuen Entwicklung prinzipiel verschließt oder 2) jede Neuaufnahme nur an den bereits etablierten "Referenzen" mißt, ohne die Eigenheiten dieser neuen Einspielungen recht würdigen zu wollen.
Und ich habe beim Lesen vieler Threads, die mich interessieren, leider den Eindruck, dass viele Tamonianer in einem solchen negativen Sinne rückwärtsgewandt erscheinen.
Viele Grüße, Bernd
Nachtrag: ich habe mein ursprüngliche Posting in dem fettmarkierten Bereich korrigiert, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, als hielte ich jede Aufnahme nach Casals für besser; es gibt unter den neueren Einspielung sicherlich auch schlechtere.