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Original von Johannes Roehl
Ich muß gestehen, daß ich Antracis' Hypothese für wenig wahrscheinlich halte. Regietheater mit "Herumturnen" gibt es vielleicht seit 30 Jahren und nicht mal sehr verbreitet.
Das Regietheater ist nur die Extremform, die Belastung durch die Bewegung in der Tat nur ein Aspekt. Tatsache ist aber, dass seit Anfang des letzten Jahrhunderts die schauspielerische Präsenz (und zwar nicht in einer stilisierten Form der Operngeste!) zunehmend wichtiger wurde. „Nicht mal sehr verbreitet“ mag eine Extremform des Regietheaters sein, eine stetig wachsende Bedeutung der optischen Aspekte finden sich aber mittlerweile sogar in New York und Wien.
Das entscheidende ist ja gerade, dass beispielsweise ein Sänger wie Melchior die gesamte Rolle in Ihrer vokalen Signatur erfasst hat, so dass man Ihn gar nicht zu sehen braucht. Der Hinweis „Ja, aber den muss man auf der Bühne sehen“, zieht sich als roter Faden zunehmend durch die Rezensionen neuerer Opernaufnahmen – eben als Substitution vokaler Defizite durch visuelle Aspekte. Das hat aber mit dem „Singen“ an sich nix zu tun.
Und dieser Ansatz wird immer häufiger.
Eine Netrebko wird als neue Idealverkörperung der Violetta gefeiert. Bezeichnend ist aber, dass sie den Gefühlsgestus im „Sempre libera“ nicht durch die Koloraturen machen kann, dafür fehlen ihr schlicht die sängerischen Mittel. Sie reduziert sich auf einen schönen, voluminösen Ton, die klanglichen Schattierungen sind ebenfalls beschränkt. Dem Text wird sie nur gerecht mit Mimik, Gestik und Ihrem Aussehen.
Das ist im Übrigen bei Greindls Osmin wenig anders. Er behilft sich vor allem – was er brilliant beherrscht – mit histrionischen Effekten, und auch hier sollte man ihn angeblich zusätzlich auf der Bühne gesehen haben. Die extreme Virtuosität für die Rolle , Mozart schrieb sie ja einem Sänger eigens auf den Leib, hat er nicht. Und die wenigsten interessiert halt heute, ob er einen Triller überhaupt singt oder gar – und das ist das wichtigste - als musikalischen Ausdrucksgestus nutzt.
Man setzt die Rollen vielmehr aus einer stimmlichen Signatur und anderen Komponenten zusammen, die wenig bis gar nix mit dem Singen zu tun haben.
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Es ist auch eine Binsenweisheit, daß Bühnenpräsenz und überzeugende Darstellung sehr viel wettmachen können, daher scheint mir der Vergleich von Tonaufnahmen mit Dingen, die eben nur im performativen Gesamtkunstwerk funktionieren, nicht unproblematisch.
Nicht unproblematisch erscheint mir aber auch, dass nach allem, was wir aus der Frühzeit der Schallaufzeichnung schließen können, früher deutlich andere Schwerpunkte in der Interpretation gesetzt wurden. Aus einer Tradition, die an Uraufführungen viel näher dran ist, als viele heutige Sänger.
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Überdies gibt es ja auch immer noch genügend Sänger(innen), die ähnliche Wuchtbrummen sind wie die übliche Karikatur einer Diva, und es gab auch damals schlanke und bewegliche Sänger(innen).
Diese Aussage ist nur möglich in Unkenntnis der historischen Aufnahmen. Denn beispielsweise eine Netrebko wäre nie am Anfang des 20. Jahrhunderts oder noch in den 30er Jahren zum Star an der Met geworden. Das ergibt sich aus der Rezension der entsprechenden Zeit, die Anforderungen hervorheben, die sie nie erfüllt hätte. Und so ist es mit vielen aktuellen Sängern. Unbeweglichkeit und gutes Aussehen ist eine Sache, die möglichst vollständige Erfassung der Rolle durch vokale Mittel eine ganz andere. Beides kann zusammen auftreten oder isoliert. Aber das Vokale bleibt die Grundlage, sofern man Oper nicht mit dem Theater verwechselt.
Wie gesagt, man kann über den angeblich gesunkenen Standard des Gesanges viel philosophieren – oder man kann einfach nur die Livemitschnitte beispielsweise der MET aus den 30-40er Jahren hören und mit den aktuellen Livemitschnitten vergleichen. Für mich ergibt sich da ein eindeutiges Bild.
Aber das scheint niemand nötig zu haben. Man kann das anscheinend schon beurteilen allein aus der Einschätzung, dass es sich bei Leuten, die sich mit der Historie des Kunstgesanges auf Tonträgern beschäftigen, eben um eine nostalgische, “kauzige Minderheit" handelt. Mit den technischen Aufnahmegegebenheiten und den Aufnahmen an sich muss man sich erst gar nicht auseinander setzen, da reicht offenbar die Spekulation aus.
Das es Leute gibt, die jene Teile des Opernforums, die sich primär mit Interpretation und dem Gesang beschäftigen, für den intellektuellen Bodensatz von Tamino halten, wurde ja schon in anderen Threads deutlich. Aber auch so etwas muss es geben.
Ich gestehe in der Tat zu, dass es mittlerweile in der Interpretation eher ein „anders“ als ein besser oder gar schlechter gibt. Das bezieht sich aber auf die künstlerische Gesamtleistung. Und da solche Veränderungen aber unzweifelhaft mit Verlusten behaftet sind, plädiere ich schon dafür, dass man die akustische Vergangenheit ernst nimmt. Das sie eben Beachtung deshalb verdient, weil der vokale Gestus nicht nur ein Teil der Oper ist, sondern einer, der nur ihr eigen ist.
Wir leben im Zeitalter der Regisseure, folglich glaube ich, dass sich später aus diesen Jahren primär optische Zeugnisse erhalten werden, die interpretatorische Beachtung unter Sammlern, Fachleuten und Liebhabern (oft, aber nicht immer Deckungsgleich :D) erlangen. Der Stuttgarter Ring ist ein großartiges Beispiel. Nehmen wir nur mal die Walküre: Visuell großartig, aber wer wird sich in 50 Jahren noch einen Wotan wie Rootering oder gar eine Brünhilde wie Renate Behle rein akustisch antun wollen ?
Das Projekt zeigt aber auch die Ausnahmen: Denokes Sieglinde könnte auch auf CD überleben.
Gruß
Sascha