Auf was kann man sich noch verlassen in Gelsenkirchen? Im Musiktheater wurde bereits Fußball gespielt (ein Musical, die WAZ berichtete), in der Arena steht ein Tenor, wenn auch nicht im Tor. Verkehrte Welt. Oder: Eventkultur der Emscher.
Aber "Turandot" ist kein Musical. Auch wenn ein Herr in der ersten Pause sagt, Starlight habe ihm doch etwas besser gefallen. Sein Nachbar rettet die Ehre dieser bizarren Produktion, ehe er in eine Bratwurst beißt: "Das mal optisch gesehen zu haben, ist schon toll." Samstag sahen mehr als 27 000 Zuschauer das, was sich "die größte Opernproduktion aller Zeiten" nennt. Die größte, weil man dafür 86 Sattelschlepper braucht, 500 Mitwirkende, 5000 Kostüme, eine Bühne, die 143 Meter breit und 42 Meter tief ist. Das ist alles sehr groß - und in mancher Hinsicht traurig klein.
Denn wer immer die Idee propagiert, man käme dem Kern einer Oper näher, so man ihr den Charakter des maßstabsgetreuen Originalschauplatzes gibt, irrt. Nichts ist gewonnen mit Elefanten bei Aida, nichts mit Tenören, die für Verdis Troubadour im Golf von Biskaya schwimmen. Und so wundert es gar nicht, dass die "Verbotene Stadt" in Gelsenkirchens Arena übers Mächtige kaum hinaus wächst. Im Gegenteil: Man denkt ans Phantasialand oder glaubt, Rudi Assauer wäre auf die Idee verfallen, einen gigantischen Asia-McDrive zu errichten.
Glück hat, wer ganz vorn sitzt. Das kostet zahlende Gäste zwar 135 Euro und es zieht hier sehr, aber dafür kann man manchmal sogar die Gesichter erkennen. Manche haben das erst lernen müssen. "Die Carmen damals", sagt eine Frau in Reihe 10 und blickt mitleidsvoll zur Nordkurve (47 Euro), "die hab ich geseh´n wie ´ne Ameise."
Ja, man kann vieles groß machen, den Palast, aus dem die grausame Kaiserstochter Turandot tritt, Rätsel zu ersinnen, die ihre Verehrer um Kopf und Kragen bringen. Man kann Videoleinwände aufbauen, riesige Treppen, prächtige Tänzerinnen und Armeen, die immer wieder von rechts nach links - und umgekehrt - wandern. Aber den einzelnen Menschen dieser kostbaren, expressiven und vielleicht künstlerisch gewichtigsten Oper Puccinis, den kann man nicht für Arenen aufblasen. Das Individuum, das liebt, kämpft, hofft, bangt - so wie es Prinz Kalaf und die sanfte Liù tun - wird weggedrückt vom Pomp der Kulisse. Das mag man nur mit gutem Willen als Regieleistung des (Film-)Regisseurs Zhang Yimou deuten: dass der Einzelne zu vergehen droht im Würgegriff mächtiger Traditionen. Aber das wäre viel Wohlwollen, wo es doch meist beim chinesischen Flohzirkus mit vokaler Beteiligung bleibt.
Die freilich hat noch in all der Masse Klasse und schenkt selbst Veltins einen Hauch Verona: Nicola Martinuccis Kalaf bringt die nötige Stentorstimme mit: viel Kraft und eine schöne metallische Höhe - wen wundert´s, dass er das "Nessun Dorma" mit der Sicherheit eines altgedienten Elfmeterschützen verwandelt.
Irina Gordeis Turandot hat bezwingende Stimmgewalt und düstere Bühnenpräsenz, wenn auch ein leicht orgelndes Vibrato. Betörend noch in der wackligen, mitunter katastrophalen Arena-Akustik, in der die Töne auch mal ein Achtel länger brauchen, um in der letzten Reihe anzukommen: Yao Hongs Liù, die den Hörern delikate Piano-Raffinessen schenkt. Schade, dass Maestro Janos Acs dem kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Die erste Begegnung Turandot-Kalaf, kann überwältigendes Musiktheater sein - rhythmisch komplett verschenkt. Aber was kann man auch erwarten von einem italienischen Mittelklasseorchester (Orchestra Giuseppe Verdi di Salerno), in dem die Geiger vor aller Augen Kaugummi kauen.
Mit Kunst hat das nicht die Sojabohne zu tun. Ein Spektakel, zu dem man übrigens auch Frühlingsrollen reichte. Die waren im Grunde ganz der Abend: süß-sauer.