Betrachten wir doch noch einmal den Notentext:
Das ist das, was Ravel notiert hat. Also zwei Viertel Auftakt, durch die Balkensetzung unterteilt in vier Achtelgruppen von jeweils vier 32steln, von denen durch den sekundären Balken jeweils zwei zu Vierteleinheiten verbunden werden. Wenn man das vollkommen gleichmäßig und ohne jeden Akzent spielt (worauf neben dem Fehlen jeglicher dynamischer Differenzierung auch der überlange Legatobogen über den ersten viereinhalb Takten hinweist), ist diese Gruppierung allerdings nicht bzw. nur als eine von mehreren Möglichkeiten hörbar. Ich hatte als denkbare und hörbare Alternative die Aufteilung 3-3-2 vorgeschlagen:
Dr. Kaletha meint hingegen, es sei eine andere Aufteilung gemeint, die "ziemlich eindeutig und unzweideutig" einen Daktylus darstelle ("Der duft aus dem garten noch leis"):
Da stellt sich schon einmal die Frage, warum diese Aufteilung "eindeutig" gegenüber der anderen zu bevorzugen sein soll. Das wird noch fragwürdiger, wenn man eine weitere, bisher ungenannte Möglichkeit betrachtet, nämlich 2-3-3:
Von all diesen Möglichkeiten scheint mir die Kalethasche mit Abstand die unnatürlichste zu sein, weil sie erstens aus der metrisch schweren ersten Note gegen den Notentext eine Auftaktnote macht, und weil zweitens am Anfang und am Ende der Viertelgruppe jeweils ein einzelnes 32stel für sich steht. Wenn man das letztere zu einer Zweiergruppe mit dem Beginn der nächsten Einheit verbindet, hat man genau die Aufteilung 3-3-2, von der Kaletha (fälschlicherweise) behauptet, sie ergäbe "gar keinen Rhythmus". Möglich ist auch diese recht komplizierte Variante, aber mit welcher Begründung soll sie "ziemlich eindeutig und unzweideutig" die sein, welche der Komponist "genau so und nicht anders gemeint" hat? Kalethas Begründung dafür ist, dass im Notentext jeweils "zwei Vierergruppen mit einem Balken zusammengefasst" sind, aber das wäre natürlich bei allen anderen Varianten genauso möglich (ich habe das in den Notenbeispielen nicht gemacht, weil ich auf die Schnelle die Funktion für die sekundären Balken nicht gefunden habe).
Mein Fazit ist: Die komponierte Struktur erlaubt mehrere metrische Varianten, sowohl auf Seiten des Spielers als auch des Hörers. Die jeweils wahrgenommenen Strukturen müssen nicht einmal bei beiden identisch sein, sondern es kann der Hörer etwas anderes wahrnehmen als der Spieler denkt und umgekehrt, und beide können beim Hören bewusst oder unbewusst von einer Variante zur anderen umschalten. All diese Möglichkeiten sind im Notentext angelegt.
Das sind so weit die analytisch belegbaren Fakten. Über mögliche Konsequenzen in der Umsetzung hatte ich weiter oben etwas geschrieben. Korrigieren muss ich mich in einem Punkt: Ich hatte bisher nur von zwei möglichen metrischen Varianten geschrieben, tatsächlich sind es mehr, neben den bisher genannten z.B. auch noch 3-2-3. Dass dieses Vexierspiel, diese komponierte metrische Unklarheit der Kern der Sache ist, zeigt sich übrigens auch an den zwei Vierteln Auftakt, mit denen das Stück beginnt: Es ist, wenn man nicht (gegen den Notentext) die Eins im ersten Volltakt betont, völlig unmöglich, das übergeordnete Metrum herauszuhören, und der Einsatz des Themas in der Linken kommt zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt. Das ist also im Großen eine ähnliche Idee wie die beschriebenen metrischen Gleichzeitigkeiten im Kleinen.