Hallo Sascha
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Für mich ist es so, dass das Timbre sicher absolut notwendig ist, um vollen Zugang zu der Kunst eines Sängers zu finden, es ist aber nicht hinreichend. Singen ist für mich schon mehr, als eine schöne Stimme zu besitzen. Problematisch am Timbre - und seiner zentralen Stellung als Brücke zwischen Interpret und Hörer - ist sicher, dass dies einer der Faktoren ist, auf den der Sänger einerseits am wenigsten Einfluss nehmen kann, der aber auch andererseits vom Kritiker am schwersten zu fassen ist.
Da stimme ich Dir natürlich zu. Ich bin auch der Meinung, daß ein professioneller Kritiker zwar eine persönliche Meinung zum Timbre haben darf dabei aber berücksichtigen sollte, daß genau das Timbre eines Sängers eigentlich nicht "kritisierbar" ist - ich kenne mich zwar nicht so gut aus, aber ich denke, es ist so ziemlich das einzige, was man nicht wirklich "lernen" kann.
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Aber woran machst Du dann fest, dass er gut ist ? Dafür muss es doch Maßstäbe geben. Selbst wenn das nicht bewusst analytisch geschieht, muss doch ein Abgleich mit Deinen Vorstellungen vom Singen und einer passenden Rolleninterpretation stattfinden. Glaubst Du wirklich, dass sich diese Vorstellung unabhängig von Deiner (Hör)erfahrung durch Tonträger und Bühne entwickelt hat ?
Könnte es nicht auch sein, daß ich in mir eine recht genaue Vorstellung davon habe, wie Don Giovanni aufgrund der Literatur und Mozart's Musik rüberkommen "muß"? oder vielleicht aufgrund meiner persönlichen Lebenserfahrung ?
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Wenn ich einen Don Giovanni auf der Bühne erlebe, der über eine Stimme verfügt, die sehr wenig geschmeidig geführt wird, er darüber hinaus Höhenprobleme hat und in keinster Weise eine gewisse Sinnlichkeit mittels Singen und Spiel ausstrahlt, ist er eine Fehlbesetzung, und wenn er einerseits nicht die Qualitäten aufweist, die ich von der Rolle erwarte und die bereits von vielen bedeutenden Rollenvertretern eingelöst wurden , andererseits dem nichts entgegen zusetzen hat, ist er halt aus meiner Sicht schlecht.
Ist diese Beurteilung wirklich nur anhand von Vergleichen mit einem anderen Sänger möglich? Ich steig nicht runter Das hört man doch, ohne Vergleiche bemühen zu müssen, wenn einer Höhenprobleme hat, das sieht man doch, wenn einer nur herumsteht, usw.....
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Wenn nun natürlich jemand gerne einem Don Giovanni zuhört, der sich hölzern durch die Partie blökt, die Spitzentöne auslässt und anstelle einen Liebhaber von Don-Juan-Typus darzustellen, lieber unseren aktuellen Bundespräsidenten Köhler auf die Bühne bringt, bleibt Ihm das unbenommen - und er darf das natürlich auch gut finden. Aber nur, weil es anders ist, kann ich dann nicht zustimmen, das es sich um einen tollen Sänger handelt.
Das ist, wie Dein Smiley auch zeigt, polemisch Einer, der "anders" ist, muß nicht in der von Dir beschriebenen Weise agieren. Bleiben wir beim Don Giovanni: jahrzehntelang war er der "charmante" Verführer, nun ist er auf den Bühnen zum brutalen Macho mutiert. Und es gibt bestimmt noch mehr Varianten, ihn darzustellen.
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Da stimme ich 100% zu. Allerdings haben sich die wirklich großen Sänger dadurch ausgezeichnet, dass viele Tugenden oder zumindest ein zentraler Vorzug extrem stark ausgeprägt waren (was wohl letztendlich auch zu einer seltenen Einstimmigkeit unter den diversen Publikationen zum Thema bei den wirklichen Knüllern führt.)
Nö. Selbst bei den Knüllern gibts Streitereien, wie man hier oft nachlesen kann
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Aber generell gehe ich sicher nicht so weit zu sagen, es gäbe kein gut und schlecht, sondern nur ein anders. Das erinnert mich sonst sehr an eine Story, die mir eine Freundin neulich erzählte. Sie hat in Ihrem Studium der Sozialpädagogik gelernt, es gäbe keine weniger intelligenten Menschen, sondern diese seien nur alternativ begabt. Finde ich diesen Ansatz seitens der Pädagogik durchaus begrüßenswert, ist er aus meiner Sicht beim Singen nur eingeschränkt möglich. Denn immerhin handelt es sich dort um eine Kunst, die sich - trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen - innerhalb bestimmter Gestaltungsmittel bewegt.
Mein Prinzip des "anders sein" bezieht sich ja direkt auf Stimme, Gesang und Darstellung. Ein Sänger, der falsch singt, dafür aber gut kochen kann, wird auch mich nicht in die WSO locken
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Inwieweit man nun für das Finden des eigenen Bewertungsmaßstabes den Vergleich bemühen möchte, ist - zumindest sofern es um den nichtkommerziellen Bereich geht - natürlich eine vollkommen persönliche Entscheidung.
Es ist so, wie mit meinen Eltern: Die gehen seit 30 Jahren in das gleiche italienische Restaurant, das zwei Häuser von ihrer Wohnung entfernt ist. Und erzählen jedem, dass es dort das beste Essen in der Stadt gäbe, obwohl sie noch nie bei einem anderen Italiener waren. Aber Ihnen gefällts halt.
Der Vergleich hinkt. Ich esse auch gerne französisch, griechisch, türkisch, chinesisch, japanisch... Zum Gesang: neben Ghiaurov konnten bei mir durchaus auch andere Baß/-baritone bestehen, wenn sie gerade an der WSO sangen. Was werden Deine Eltern übrigens machen, wenn dieser Italiener zusperrt?
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Die Frage ist, weshalb man kritisiert.
Nö. Die Frage ist, wie man kritisiert
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Ich beziehe das mal konkret auf mich und meinen angestrebten Beruf:
Wenn jemand einem Patienten empfiehlt, die Behandlung lieber von einem anderen Arzt durchzuführen zu lassen als von mir, weil der über größere Fachkompetenz für den konkreten Fall verfügt, ist das keine Verurteilung meines bisherigen Lebenswerkes, sondern ein extrem sinnvoller Hinweis für den Patienten.
Wenn dieser Jemand Dich aber gleichzeitig mies macht oder in Deinem Privatleben herumschnüffelt, wird's schon ein bissl an Dir nagen, oder? Wenn ich dringendst einen Herzschrittmacher benötigte und der fachlich Kompetentere keinen Termin frei hat, käme ich zur Not auch zu Dir Auf die Musik umgemünzt: wenn die Knüller seit Jahrzehnten tot sind, werde ich mich deshalb nicht ins Kämmerlein zurückziehen, um rauschende CDs zu hören und auf Opernbesuche verzichten. Vor allem: was nützt es mir, festzustellen, daß "früher alles besser war"? ich nehme das an, was heute auf der Bühne steht. Ein Grund meiner "Milde" mag auch sein, daß das Live-Erlebnis für mich absolute Priorität vor Tonträgeraufnahmen hat.
Austria