„So, so - du bist also dieser Taubstumme mit dem besonderen Gespür für Holz,“ sprach Friedhelm Sproß ihn an, als sie unten waren. „Man lobt deine Arbeit und dein Verständnis als höchst vollkommen. - Verstehst du, was ich sage?“
Seit das Gehör ihn verlassen hatte, pflegte Leander bei allen Menschen, die er traf, das Spiel ihrer Lippen, die Bewegungen des Kiefers und den Tanz der Zunge hinter den Zähnen zu studieren. Er hätte ganze Traktate schreiben können über Form und Vielfalt dieser außergewöhnlichen Körperöffnung, über ihre Krankheiten und Defekte, über Zahnleiden und Gerüche und was sie über den Menschen erzählen, und wie der Mund im Zusammenspiel Dutzender Gesichtsmuskeln eine sichtbare Sprache hervorbrachte, die den meisten Menschen verborgen blieb, weil sie sich mit dem Gehörten zufrieden gaben. Leander verstand die Menschen wohl, wenn er sie ansehen konnte. Also nickte er und wartete, was der Theatermaschinist von ihm wollte.
„Du sollst auch im Feinen recht fingerfertig sein, wie mir zu Ohren kam - nicht nur im Groben. Stimmt das?“
Wieder nickte Leander.
„Fürderhin wird gesagt, du würdest Noten zeichnen, ganze Melodien sogar. Warst wohl nicht immer stumm und taub.... Richtig?“
Argwöhnisch zögerte Leander, bevor er erneut zustimmte. War es ein Fehler gewesen, der Versuchung nicht zu widerstehen und beflügelt vom Geist des Ortes immer neue Fugenanfänge, Kadenzen und harmonische Spielereien in Balken und Baugerüste zu ritzen?
„Du wirst mir im alten Schlosstheater helfen - als Technicus bei den Effektmaschinen.“
Diesmal war Leander sich nicht sicher, ob er die Worte, die er wohl sah, richtig verstanden hatte. Was waren Effektmaschinen? Er kannte das Wort nicht, obwohl er eine Ahnung hatte, die ihn neugierig machte. Fragend zuckte er mit den Schultern und öffnete die Handflächen als Zeichen seines Zweifels. Friedhelm Sproß zögerte einen Moment und meinte dann mehr zu sich selber:
„Na ja - woher sollst du das auch kennen.... Ach, komm einfach mit!“
Kurzentschlossen machte der Theatermaschinist auf dem Absatz kehrt und lief in Richtung Schloss. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und winkte Leander zu sich heran: „Nun komm schon! Bist doch sonst nicht so langwierig!“ Da ging Leander mit ihm.
Im Schlosstheater probte Vinzenz van Eisenmann gerade eine Arie mit der Sopranistin und versuchte zum wiederholten Male die Dame davon abzubringen, nach dem Vorspiel des Orchesters einen halben Takt zu früh einzusetzen:
„Auf der Drei, meine Liebe - nicht schon auf der Eins! Ich kann verstehen, dass sie ihre wohlklingende Stimme dem geneigten Publikum so früh wie möglich zu Gehör bringen möchte, aber diesen halben Takt kann sie vielleicht noch warten - zumal es dann sehr viel richtiger klingt. Bei der Wiederkehr des Themas in Takt 24 ist die Eins durchaus recht. Aber dort ist es ja auch eine ganze und nicht eine halbe Note so wie hier. Zu Beginn also bitte auf der Drei einsetzen! - Und jetzt bitte noch einmal!...... Oh nein!.... Aber doch bitte jetzt nicht stören, Kollege Sproß! Jetzt doch nicht!“
Entnervt ließ der Hofcompositeur die Arme sinken und brach den Einsatz für das Orchester ab. Friedhelm Sproß winkte ihm kurz und eilte zur Bühne.
„Es hat alles seine Richtigkeit, mein lieber Eisenmann. Ich bitte ihn lediglich um eine kleine Unterbrechung! Dieser Bursche hier wird uns bei der Effektentechnik unterstützen. Wir müssen nur einmal für einen kurzen Moment auf den Oberboden hinauf. Danach mag Er weiter probieren.“
Verblüfft sah der Kapellmeister zu, wie Friedhelm Sproß und Leander zwischen den Kulissen auf das Dach über der Bühne kletterten und auf dem Schnürboden verschwanden. Dann, nach ein paar Sekunden der Ruhe, rumpelte es so heftig im Donnerschacht, dass die Musiker im Orchestergraben vor Schreck zusammenzuckten und die Sopranistin auf der Bühne quiekte. Kapellmeister Vinzenz van Eisenmann schaute konsterniert zum Schnürboden hinauf.
Dort oben stand der fremde junge Mann, umfasste mit beiden Händen die Bretterröhre des Donnerschachts, als wollte er sie umarmen, und lächelte mit geschlossenen Augen. Mit jeder Faser seines Körpers spürte Leander Lautenschläger dem verhallenden Donner der hinabstürzenden Kugeln nach und war glücklich.
(Aus meinem Roman „Leanders Passion“, Heyne 2004)