Hinter dem heutigen 4. Türchen des Tamino-Advent-Kalenders liegen die Schweizer Alpen – genauer: die Flumserberge südlich von Zürich.
Es ist ein wunderschöner Sommertag in der Mitte der achtziger Jahre. Wir – noch ohne Kinder – sind zum Wandern da. Früh brechen wir auf, steigen hinauf zu jenem märchenhaften kleinen See zwischen den Bergen, den wir bisher nur aus dem Ski-Urlaub als weißverschneite Ebene kennen. Starr und glatt ruht er nun vor unseren Augen und malt uns auf seiner Oberfläche das Abbild des herrlichen Bergpanoramas. Am Ufer liegt ein altes, verwunschenes Hotel mit spitzen Türmchen, das den Betrachter an die Kulissen aus der Verfilmung des Zauberbergs von Thomas Mann denken lässt. Ein Idyll des Friedens und der Stille, wie es schöner nicht sein kann. Wir schreiten aus, genießen den Anblick dieses Elysiums und merken mit Freude, wie die Seele zur Ruhe kommt.
Mit einem Male höre ich Musik: weiche, getragene Töne, rund und voll, wie ein fernes Rufen von irgendwoher. Es ist ein Alphorn! Die Klänge hallen von den Hängen wider und fügen sich zu einer Melodie, die ich nur allzu gut kenne. Es ist Musik von Brahms, aus seiner Ersten Sinfonie.
Kurz nach dem Adagio-Beginn des 4. Satzes mit dem zweifachen, zögernden Anlauf der Streicher im Pizzicato kommt jenes wilde Auffahren, das in einem verebbenden Paukenwirbel mündet, und dann…… Ja, was dann?
Es geht die Mär, dass Brahms nicht nur an dieser Stelle stockte und mit dem Fortgang seiner Ersten Sinfonie haderte. 15 Jahre lang beschäftigte ihn das Projekt. Ab 1862 finden sich die ersten Entwürfe. Doch die Fertigstellung gelang ihm erst 1876.
Nach jenem Paukenwirbel im vierten Satz kommt in Takt 30 eine der schönsten Wendungen der Sinfonie: eine Hornmelodie (sempre e passionato). Brahms soll lange gesucht haben, bis ihm die Idee kam, eine Alphorn-Melodie, die er einst in den Schweizer Bergen gehört hatte, als Überleitung zum Allegro des Finales einzufügen.
Er kannte diese Melodie schon lange. Am 12. September 1868 hatte er sie schon einmal an Clara Schumann als Geburtstagsgruß geschickt mit der Überschrift „Also blus das Alphorn heut“. Unter die Melodie schrieb er damals an die geliebte Clara: „Hoch auf dem Berg, tief im Tal, grüß ich dich vieltausendmal.“
Jahre später fand diese wunderschöne Melodie dann Eingang in das Finale seiner c-moll-Sinfonie.
Als ich diese Melodie in den Flumserbergen hörte, durchfuhr mich ein köstlicher Schauer. Wir liefen den Tönen nach, kamen um eine Biegung, und da stand der Alphornbläser, in zünftiger Tracht, das lange Rohr mit beiden Händen fest umfassend. Den Trichter des Instruments hatte er zum See gerichtet und auf einem Baumstumpf aufgestützt. Niemand sonst war da. Wir gingen zu ihm, sprachen ihn an.
„Das ist doch Brahms!“, sagte ich. „Ach ja?“ erwidert er. - Er wusste es nicht einmal! Wir suchten in den Noten, konnten zunächst nichts finden. Dann blätterte er noch einmal zurück und wies mit dem Finger darauf. Tatsächlich war es dort vermerkt, ganz klein. Er hatte es immer überlesen: „Alte Volksweise, von Johannes Brahms im Finale seiner 1. Sinfonie verwendet.“
Eine Weile noch standen wir bei ihm und hörten zu. Dann gingen wir weiter in die Berge hinein und lauschten noch lange den verklingenden Weisen des Alphorns.
Immer wenn ich die Erste Sinfonie von Johannes Brahms höre, denke ich an diesen Tag in den Alpen. Ich werde ihn nie vergessen.