Beiträge von Draugur

    Ich hoffe, der Thread ist in dieser Form in Ordnung. Ich war lange nicht mehr im Forum und weiß nicht mehr genau, was wie wohin gehört.


    Ich suche momentan eine möglichst umfassende Einspielung des J. S. Bach'schen Klavierwerks als Box-Set, die möglichst auch noch preislich erschwinglich sein sollte - falls es das überhaupt gibt. Sonst eben, was am nächsten an eine solche herankommt. Ich suche keine Cembalo-Einspielung (nicht weil ich etwas gegen das Cembalo hätte, aber mein Sinn steht momentan mehr nach modernem Klavier). Ich habe ein paar Gould-CDs, mag aber das Mitbrummen nicht. Es muss keine aus Fachpresse-Sicht alles überragende Interpretation sein, mir geht es mehr um Vollständigkeit.


    Würde mich über Tipps freuen.

    Die aufgeführten Gentle-Giant-Alben sind in der Tat sensationell - wobei ich "In a Glass House" und vor allem "The Power and the Glory" noch mit dazunähme, ebenso wie einige Alben von Van der Graaf Generator - dort vor allem "H to He Who Am the Only One", "Pawn Hearts", "Godbluff" und "Still Life". Diese Musik ist absolut aktuell und zeigt auch heute noch, was man im Rockbereich an Ausdruck und Komplexität alles verwirklichen kann.


    Stimmt, "Giant for a Day" ist nicht so schlecht, wie es auf einschlägigen Foren wie z. b. den "Babyblauen Seiten" hingestellt wird, jedoch sind die Enttäuschungen angesichts dieser schlichten Rock-Nummern ohne merkliche Ambition doch irgendwo auch nachvollziehbar.

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    Original von Glockenton


    Die Naivität kann nicht mehr zurückerlangt werden - warum auch?
    Wer über die menschliche Reproduktion aufgeklärt wurde, der glaubt eben nicht mehr an den Storch.....jetzt verstanden?


    Schon wieder so ein Vergleich... dazu ist eigentlich schon oben alles gesagt. Es geht mir nicht um Naivität, sondern wie gesagt um eine bewusste und autonome Entscheidung für dieses oder jenes Klangbild.


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    Bach wirkt nun einmal am besten mit seinem Instrumentarium.
    Der von Dir so geliebte romantische Orchesterapperat ( wie in der Filmmusik) klingt für Bachs Musik auf die Dauer im Sound aufgeblasen.


    Das empfinde ich eben nicht so. Kommt aber auch auf das aufzuführende Werk an. Eine h-Moll-Messe profitiert für mich klar von einem großen Orchester.


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    Die Klangrede, das expressiv Sprechende, lässt sich am besten mit barocken Stilmitteln und barocken Instrumenten erleben und nachvollziehen.


    Genau dieses "expressiv Sprechende" ist mir in HIP-Aufführungen oft zu aufdringlich und gewollt umgesetzt ("Seufzer" und ähnliches). Wer in jedem Detail eine klangliche Geste sehen und realisieren will, droht vielleicht den Blick für das Ganze zu verlieren. Wenn man einmal von einer omnipräsenten "Klangrede" ausgeht, hört man schnell das Gras wachsen und sieht wirklich überall irgendwelche hineinkomponierten Bezüge, die natürlich alle "expressiv" umgesetzt werden müssen. Und hier (das siehst du anders, ich weiß) wird HIP für mich schnell zur "klingenden Musikwissenschaft".


    Der Vergleich mit den französischen Gedichten, die jemand vortragen will, der nicht französisch kann, scheint mir auch ein polemischer Fehlgriff. Angebrachter scheint mir hier der Vergleich mit jemandem, der zwar hervorragend französisch kann und erfahren im Rezitieren ist, aber nicht den bahnbrechenden Aufsatz des Professors XY zur sachgerechten Rezitation französischer Lyrik des xten Jahrhunderts kennt (bzw. nicht von dessen Thesen überzeugt ist).

    Natürlich sind HIP-Aufnahmen etwas anderes die reine Umsetzung von Forschungsergebnissen. Aber Forschungsergebnisse bilden für mich kein Argument gegen "romantisierende" Aufführungspraxis.


    "Klangästhetisch" gilt es meistens "Durchhörbarkeit" (wo die HIP-Aufnahmen tendenziell verlässlicher sind) gegen eine gewisse Klangmächtigkeit abzuwägen, die große Besetzungen, das oft verschmähte "Dauervibrato" und andere Elemente "romantisierender" Bach-Aufführungen nun mal mit sich bringen. Zumindest bei homophonen Stellen überzeugt mich ein voller Klang à la Richter doch tendenziell mehr, während das Verwischen polyphoner Strukturen (was bei älteren Aufnahmen natürlich auch aufnahmetechnisch begründet sein kann) natürlich nicht zu begrüßen ist.

    Angesichts dieses Threads versuche ich mal, ein paar Überlegungen zum Thema HIP aufzuwärmen, die hier zumindest noch in keiner für mich überzeugenden Form widerlegt wurden...


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    Original von Glockenton

    Man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Wer einmal Fotos von der Erde aus dem Weltraum gesehen hat, der kann eben nicht mehr naiv daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.


    Recht bezeichnender Vergleich... kann man aus dem Weltraum auch irgendwo eine Gesetzestafel lesen, dass man heute HIP spielen muss? Ich sehe keinen aus wissenschaftlicher Erkenntnis erwachsenden Zwang zu HIP. Musikalische Aufführungspraxis leitet sich (da es um eine künstlerische Tätigkeit geht und nicht um das Aufstellen von Forschungsthesen) nicht aus den Forschungsergebnissen der Musikwissenschaft ab, das ist eine m.E. irregeleitete Idee. Aber vielleicht habe ich den Vergleich ja auch falsch verstanden? Sehr viel Zusammenhang zum Thema sehe ich jedenfalls nicht...



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    Wenn man "historisch informiert" hier immer `mal wieder in Anführungstriche setzt und Zweifel über die angeblich beanspruchte Authenzität streut (kein seriöser HIP-Musiker behauptet von sich, authentische Reproduktionen zu liefern sondern nur sich selbst gegenüber authentisch zu sein)


    Trotzdem werden als Standardargument gegen Richter und Co. immer deren anachronistische Besetzungen und Spieltechniken angeführt. Und da steht ja wohl der Anspruch "mehr Authentizität" im Hintergrund. Für mich sind diese Anachronismen Ausdruck von Autonomie gegenüber der Entstehungszeit der betreffenden Werke, nicht von Ignoranz (kann man natürlich so oder so sehen).



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    Wenn heute einer aber ernsthaft als Dirigent anfïnge, Bach im alten Richter-Stil aufzuführen, dann würde er sicherlich einen nicht unbeträchtlichen Heiterkeitserfolg erzielen.


    Die Frage ist nur, bei wem. Mir steht dieser Stil jedenfalls recht nahe (bei großangelegten Bach-Werken wie der h-Moll-Messe zumindest), und ich bin 30 und müsste damit rein generationsmäßig eher "HIP" sein. Wenn Musikwissenschaftler lachen, hat das m.E. jedenfalls aus oben schon besagten Gründen keine Aussagekraft. Dirigenten sind nicht dazu da, um Forschungsergebnisse über Musikpraxis des 18. Jhs. umzusetzen. Denn das Werk ist meiner Auffassung nach nicht untrennbar mit der Aufführungspraxis der Entstehungszeit verbunden.



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    Vielleicht gäbe es bei Tamino einige, die sich dann mit :jubel: :jubel: :jubel: -Icons überschlügen - but who cares?
    Das wären dann nur zwar legitime, aber nicht repräsentative Einzelmeinungen.


    Sobald Meinungen der eigenen Position widersprechen, sind sie nicht repräsentativ? Sehr praktisch...



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    Es wäre eine aus dem Wunschdenken Einzelner gespeiste Fehleinschätzung, auf eine heimliche Grundstimmung beim Publikum a la "back to Richter &co" zu hoffen und da sogar irgendwelche Analogien zum völlig anders gearteten Themenkomplex des Regietheaters erahnen zu wollen.


    Da hat wirklich das eine nichts mit dem anderen zu tun - abgesehen davon, dass sowohl die HIP- als auch die Regietheaterfraktion sich ideologisch meistens in der Ablehnung der Aufführungspraktiken als "spießig", "muffig", "plüschig" usw. empfundenen 50er Jahre und frühen bis mittleren 60er Jahre treffen.



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    Geschmack ist nicht nur eine relative Sache.
    Der gute Geschmack bildet sich durch eine Fülle von begründeteten Ja-Nein-Entscheidungen.
    Warum finde ich in Takt 17 die Dynamik und Artikulation beim Interpreten A besser als beim Herrn B?
    Warum wirkt das Tempo zu schnell, zu langsam, wann sind verschiedene Tempi überzeugend und warum?
    Wie macht der das genau und warum?
    Auf diese W-Fragen gibt es meistens eine fachlich nachvollziehbare Antwort.


    Hier wird schon wieder eine Unterwerfung des ästhetischen Empfindens unter wissenschaftliches Abwägen impliziert. Das finde ich eine sehr bedenkliche Angelegenheit. Geschmack ist nur gut, wenn er sich wissenschaftlich absegnen lässt?


    Ich möchte aber betonen, dass die HIP-orientierten Musiker (abgesehen davon, dass ich eine Matthäuspassion von Münchinger oder eine h-Moll-Messe von Richter bevorzuge) unbestreitbar große Verdienste im Wiederentdecken des Barockrepertoires jenseits der seit der Romantik immer wieder aufgeführten Bach-, Händel- usw. -Werke aufzuweisen haben. Daher habe ich natürlich viele HIP-Aufnahmen und höre die sehr gern. Mit anderen Worten, ich sehe das keineswegs fundamentalistisch.

    Mal auf Konzertkritiken bezogen:


    Was mich definitiv nicht ansteckt (zumindest nicht im erwünschten Sinne) sind übertrieben blumig-gezierte Rezensionen à la "butterweich perlten seine Tongirlanden durch den Saal" usw. Dann habe ich eher den Eindruck, dass der Rezensent seine eigene vermeintliche Ausdrucksfülle demonstrieren als einen ehrlichen Eindruck von dem Konzert vermitteln möchte. Eine Gewöhnung der Leserschaft an diesen geschwollenen Stil hat meiner Einschätzung nach den Effekt, dass eine positive, aber nüchtern formulierte Konzertkritik schon fast als Verriss aufgefasst wird.


    Begeisterung steckt mich wohl am ehesten dann an, wenn sie in einfache klare Worte gefasst ist.

    Auch bei meinen Eltern ist zu Weihnachten das Bachsche WO (Richter) üblich. Die Kantaten "Lasst uns sorgen, lasst uns wachen" und "Tönet, ihr Pauken" kann man natürlich das ganze Jahr hören ;)


    Zum neuen Jahr wird nach dem "Abzählen" so gegen 0.30-1.00 Uhr Beethovens Neunte fällig. Ich habe die Bassstimme des Chors auch noch ein bisschen drauf...

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    Original von farinelli


    auch in der Sphäre stilgerechter Illusion muß die Bühne auslassen, raffen, auf Bühnenmaßstab reduzieren - so daß ein Element von Symbolik, ein Meuble, das Pars pro toto für eine historische Ausstattung oder Epoche steht und daher ein surplus an Bedeutung auf sich lädt, immer mitgegeben ist.


    Ich bin auch beileibe kein Verfechter des schlecht verstandenen Regietheaters, sondern ein Sinnenmensch, der allerdings der Poesie eines Bühnenbilds jenseits historischer Wahrscheinlichkeit ihr Recht läßt.


    Kann ich für mich auch in etwa so unterschreiben. Reduktion auf entscheidende funktionelle und/oder symbolträchtige Elemente des Bühnenbilds und der Requisiten finde ich auch einen sehr wichtigen Zug einer guten Inszenierung. Im Zweifelsfall würde lieber etwas weglassen als etwas unwichtiges mit dabeihaben wollen.

    Als Wotan im "Jahrhundertring" finde ich ihn sehr überzeugend - da er auch die m.E. zur der Rolle passende Ausstrahlung hat.


    In welcher Partie ist er eigentlich auf der obigen Abbildung zu sehen?

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    Original von Johannes Roehlwoher kommen unsere Kriterien, wenn nicht auch irgendwo aus der Geschichte? Sollen wir glauben, daß wir als ästhetisch urteilende völlig autonom sind und im "luftleeren Raum" Kriterien bilden und dann urteilen? Das halte ich für unverständlich (jedenfalls solange man nicht erläutert, wie das gehen soll).


    Die ästhetischen Bewertungskriterien kommen nicht aus einem "luftleeren Raum", sondern aus Faktoren wie dem persönlichen Bildungsstand, Sozialisierung, prägenden Erlebnissen, evtl. sogar dem Erbgut usw. usw. All dies zusammengenommen bildet eine so komplexe Struktur an (vielfach sicher auch unbewussten) Empfänglichkeiten oder Unempfänglichkeiten für bestimmte Eindrücke, dass am Ende eben das subjektive ästhetische Empfinden steht. Mit Autonomie hat das nichts zu tun, aber das wurde auch nicht behauptet.

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    Original von der Lullist


    ja und ?


    Das ist genau das Problem in diesem Land, man darf in seinem eigenen Beruf nicht über den Tellerrand heraus.


    Wieso gerade in diesem Land? Hier haben wir doch die omnipotenten Regisseure. Außerdem kann ein Regisseur von mir aus nebenbei so viele eigenen Dramen schreiben, Opern komponieren und diese dann für die Aufführung beliebig umschreiben, wie er will. Falls das jemand sehen will...


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    "Regietheater" oder wie jene "Verfremdungen" genannt werden ist eine Werkgetreue Inszenierung, allein deshalb schon, weil man es immer schon so gemacht hat.
    Das muss man leider einsehen.
    Francois Francoeur und Francois Rebel haben auch einige Opern Lullys bearbeitet, neue Tänze und ganze Passagen neu verfasst (auch den Text) sowie veraltete Passagen gestrichen, Bühnenbilder und Kostüme wurden der neuen Zeit angeglichen, selbst die Instrumentierung !! der Partitur wurde modernisiert.
    "Regietheater" vom Feinsten aus dem 18. Jahrhundert.
    Solche Eingriffe in ein Werk zu tätigen würde sich doch Heute niemand mehr trauen, das was Heute gemacht wird ist dagegen doch konkreeete Kindergarten


    Den Befürwortern konservativer Inszenierungen wird vorgeworfen, dass sie den Regiestil der 50er Jahre proklamieren, und das Regietheater wird mit den (fragwürdigen) Aufführungspraktiken der Barockzeit gerechtfertigt? Das finde ich ein wenig paradox.


    Deiner Feststellung, dass das, was heute gemacht wird, Kindergarten ist, will ich jedoch nicht widersprechen ;)

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    Original von Johannes Roehl


    Shakespeare, Moliere, Mozart oder Goethe hätten wenig Verständnis für die heutige konservative Haltung gezeigt


    Toll, was du alles weißt :D


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    Warum ich das in diesem Falle problematisch finde: Weil Kehlmann einen Bestseller gelandet hat, in dem er sich in ganz ähnlicher Weise "parasitär" an historischen Figuren abarbeitet (Gauss und Humboldt), sie mit modernen Klischees überzieht und obendrein anscheinend sogar zu faul war, gewisse Dinge bei Mathematikern oder Wissenschaftshistorikern ordentlich zu recherchieren. (Kenne das Buch selbst nicht, aber das entnehme ich zuverlässigen Rezensionen.)


    Eben die Freiheit, die er sich hier nimmt, streitet er den Regisseuren ab...


    Ein Regisseur ist kein Romanautor, eine Inszenierung ist kein Roman. Das ist ein Äpfel-Birnen-Vergleich. Eine Regietheater-Inszenierung bedient sich eines Werks und wird unter dem Werktitel präsentiert (doppelt praktisch, man hat ein wehrloses jahrhundertealtes Arbeitsmaterial, kann damit machen, was man will, und das ganze auch noch unter einem populären Namen verkaufen). Das ist was anderes, als wenn sich Herr Regisseur xy hinsetzt und einen Roman verfasst, in dem er dann mit den Figuren der Wagnerschen, Mozartschen, [...] Opern (oder welchen Figuren auch immer) machen kann, was er will. Das kann er von mir aus machen, soviel er lustig ist...

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    Hat Shakespeare den Stoff "Pyramus und Thisbe" verfälscht, weil er die abstrakten mythologischen Personen zu Menschen seiner Zeit machte?


    Nein. Diese Frage hat aber auch nichts mit Regietheater zu tun. Shakespeare hat immerhin einen völlig neuen Text verfasst.


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    Original von der Lullist
    Vielleicht sollte man deshalb solche neuen Inszenierungen nicht als "Verfälschung" herabwürdigen, sondern als etwas neues begreifen.
    Denn ab wann gilt es denn, dass etwas neues geschaffen wurde?


    In diesen Fällen m.E. sicher nicht. Das "Neue" beschränkt sich in dem Fall auf ein paar Einfälle, konstruierte Bezüge, evtl. hinzugefügte Dialoge. Wer etwas Neues schaffen will, soll sich hinsetzen und eigenen Werke verfassen, nicht seine Einfälle in ein Repertoirewerk hineinzwängen und sie unter dessen großem Namen dem Publikum unterjubeln.


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    Das Problem - und das haben alle Menschen - ist die Sehnsucht ständig etwas zu konservieren, etwas zu erhalten.
    Aber so funktioniert die Welt nicht, das ist gegen die Natur des Universums - alles ist vergänglich und wird stets durch etwas anderes ersetzt - warum sollte die Kunst da eine Ausnahme sein ?


    Das mag ja sein, aber dann verstehe ich nicht, warum die Opern des 17.-19. Jhs. so oft gespielt werden.


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    Ich denke das die Intention bei den meisten Inszenierungen nur jene ist, das Stück für ein heutiges Publikum direkter, verständlicher, glaubhafter zu machen.


    So ein Publikum müsste aber permanent gedanklich ausblenden, dass das Stück nicht aus der Gegenwart stammt. Ich verstehe auch nach wie vor nicht, warum man ständig von der nervigen Gegenwart ausgehen muss und sich nicht mal mit vergangenen Epochen beschäftigen kann? Mich interessiert der historische Hintergrund von Opern des 17.-19. Jahrhunderts viel mehr als irgendwelche vom Regisseur an den Haaren herbeigezogene Gegenwartsbezüge, die ich meist sowieso nicht ernstnehmen kann. Ich habe nichts gegen Opernaufführungen mit Anspruch - d.h. für mich jedoch eine ausführliche wissenschaftlich fundierte Einführung in den stoffgeschichtlichen Hintergrund, die Entstehungsumstände usw. Wozu gibt es Dramaturgen?


    Ich verstehe nicht, warum einige steif und fest darauf beharren, eine Inszenierung müsste einem die Illusion vorgaukeln, eine Oper oder ein Drama aus einem vergangenen Jahrhundert beziehe sich auf die Gegenwart. Ich kann das einfach nicht ernst nehmen. Entweder ich konzentriere mich auf die originalen geschichtlichen Bezüge und inszeniere das ganze historisch, oder ich fasse eine Geschichte als zeitlos auf und inszeniere sie mehr oder weniger abstrakt.

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    Original von Basti


    "Werke so aufführen, wie der Dichter/der Komponist es wollte"- ja, aber wie soll das denn aussehen? Es gehört sicherlich auch zu den Absichten eines Komponisten, sein Werk unsterblich zu wissen, für alle Generationen interessant.


    Das denke ich auch, aber gibt es auch Belege dafür, dass Textautoren und Komponisten sich gewünscht haben, dass ihre Werke in einen anderen zeitlichen Kontext hineinadaptiert werden, mit erfundenen Gegenwartsbezügen und möglichst noch mit kontrastierenden Neu-Dialogen des Regisseurs?


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    Will man nun jungen Leuten eine alte Oper näherbringen, wäre es mithin der Super-GAU, dort die sprichwörtlichen "Helden in Strumpfhosen" auflaufen zu lassen.


    Nach deiner Logik dürfte auch ein junges Publikum dann auch kein Interesse an zeitgetreu ausgestatteten Historienfilmen wie Gladiator, Troja, King Arthur usw. finden. Mein Eindruck ist ein anderer. Wobei ich sagen muss, dass mir (ironischerweise) "Titus" von Julie Taymor besser als letztgenannte Filme gefällt, der ein bisschen in Richtung Regietheater geht (allerdings weniger platt).


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    Kehlmann, über den der stern treffend bemerkte: "Daniel Kehlmann nervt. Er ist 33, sieht aus wie 20 und schreibt, als wäre er 80", hat von Regietheater und Inszenierungen allgemein wahrscheinlich ungefähr so viel Ahnung wie Dieter Bohlen von den Fruchtbarkeitszyklen einer Galapagos-Schildkröte.


    Solange man dem Gegner nicht mehr als sinnfreie Polemik entgegenzusetzen hat, geht's ja noch. Der "Stern" sollte sich lieber überlegen, warum ein 33-Jähriger und nicht ein 80-Jähriger solches von sich gibt.


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    In einem anderen Thread wurde die Frage gestellt, wie man jungen Leuten am besten Wagner näherbringt. Alfred meinte: "mit einer traditionellen Inszenierung des 'Fliegenden Holländers'". Muss sich da aber nicht jeder Jugendliche meines Alters (ich bin 15, und viel früher sollte man wohl auch nicht mit dem Nahebringen Wagners anfangen, solange kein eigenes Interesse sichtbar wird) in seiner Ablehnung für Wagner im Speziellen oder gar die Oper an sich bestätigt fühlen, wenn er dort Daland mit Käpt'n-Iglo-Bart und ungruselige Untote bewundern darf oder besser muss, wenn er nicht gerade zu der von Mutti abhängigen Fraktion mit Stock im Ar..., bis zum Anschlag hochgezogener Hose und dementsprechend nichtliberalem Geist zählt?


    Warum eigentlich so unflätig gegen andere, die nicht deine Einstellung vertreten? Das klingt nach jemandem, der argumentativ mit dem Rücken zur Wand steht und nicht nach einem "liberalen Geist".


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    Warum müssen sie überhaupt schwimmen? Ach ja, "weil's da steht". Wenn am Ende der Götterdämmerung die Anweisung wäre: "Brünnhilde reitet ins Feuer, die Zuschauer rennen hinterher", würdet ihr die dann befolgen? Als Staubi müsste man das ja machen. Wäre ja werktreu.


    Du vermischst hier einfach - weil es der Polemik eben dienlich ist - die Frage danach, ob man etwas umsetzen kann und die Frage, ob man etwas umsetzen soll. Natürlich kann man die Sängerin der Brünnhilde nicht auf der Bühne verbrennen, das heißt aber sicher nicht, dass auf einmal sämtliche Anweisungen keinen Pfifferling mehr wert sind.


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    Regie darf alles. Regie muss alles. Eine Inszenierung kann, aber muss einem Werk nicht "dienen". Das Dienen heißt aber: Das Werk in die jeweilige Zeit zu den jeweiligen Menschen zu transponieren, damit die aus diesem Werk etwas fürs Leben lernen können.


    Oper ist keine Schule. Ich gehe nicht in Opern, ins Kino usw., um mich erziehen zu lassen. Immer dieser Spruch "Oper ist zum Denken, zum Lernen usw. da", vielleicht kriegt der Zuschauer dazu noch leichte Schläge mit dem Rohrstock auf die ausgestreckte Hand?


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    Wer das nicht will, der soll sich seine ollen Kamellen auf Video ansehen oder einen alten Ritterfilm gucken. Altmodische Inszenierungen sind keine Inszenierungen, sondern der krampfhafte Versuch, eine unwiederbringliche Zeit auf die Bühne zu stemmen, weil man es ja angeblich nur so machen darf. Deshalb möchte ich auch sagen, dass es nicht die Leute des Regietheaters sind, die sagen: "So und nicht anders!"


    Nach Lektüre dieses Beitrags erstaunt mich diese Behauptung nun aber doch.


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    sondern vielmehr die des verkrampften, verschlossenen und dummen Staubtheaters.


    Alles klar...

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    Original von GiselherHH


    Aber die Argumente der Gegner sind zumeist immer die gleichen geblieben. Die ewig gleiche Litanei von der mangelnden "Werktreue" kann man mittlerweile mehr als 100 Jahre zurückverfolgen.


    Dass dieser Begriff immer wieder auftaucht, mag ja sein, aber mit Sicherheit immer anders definiert. Es ist nur meiner Ansicht nach unzulässig, die umstrittenen Inszenierungen von heute mit dem Hinweis darauf legitimieren zu wollen, dass Wieland Wagner auch umstritten war, obwohl es sich um völlig verschiedene Konzepte handelt.

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    Original von GiselherHH


    Eine Entsprechung zu Nüblings Aufführung bei Wagner wäre in etwa (ich phantasiere jetzt mal ein wenig) eine Kompilation aus Bruchstücken von "Tannhäuser" und "Meistersinger" unter dem Thema: Rolle des Künstlers und der Kunst in der Gesellschaft mit Texten von Nietzsche, Mann und Brecht, dazu noch neukomponierte Stücke von Wolfgang Rihm. Außerdem weiß ich nicht, was Du dagegen hast, wenn man Stücke und Texte neu zusammenstellt und das dann auch so, wie immer wieder von den "Staubis" gefordert, als Bearbeitung kennzeichnet.


    Die Kennzeichnung ist natürlich i.O. und begrüßenswert, das macht aber die Inszenierung noch nicht toll ;)


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    Der Vergleich mit Konwitschnys "Meistersingern" geht schon allein aus quantitativen Gründen fehl, da der Diskussionseinschub gerade mal anderthalb Minuten in Anspruch nahm bei einer Gesamtdauer von ca. 4 Stunden, also knapp 0,5 % (wie müsste man dann erst die Aufführungstradition von Opern in Barock und Rokoko mit ihren auf die Solisten zugeschnittenen Einlagearien ad libitum aus verschiedenen Stücken bezeichnen - als "Theaterpraxis mit übermächtigen Sängern"?).


    Es ging mir nicht um prozentuale Verhältnisse, sondern darum, dass dort eine Collage vorliegt, egal ob der Konwitschny-Textanteil nun 0,5 oder 5 oder 50% beträgt. Die Aufführungspraxis des Barock mit ihren je nach Bedarf hinzuerfundenen Anteilen finde ich nicht vorbildlich, da sie aus einer Zeit stammt, in der Autorschaft für mein Empfinden viel zu gering geachtet wurde.


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    Außerdem war diese Diskussion nicht "politisch korrekt", da Konwitschny nicht auf eine wohlfeile Pauschalverurteilung der Schlussansprache abzielte, sondern, ganz im Gegenteil, den Darsteller des Hans Sachs die anderen Meister darüber aufklären ließ, dass "Was deutsch und echt..." aus der Zeit der Renaissance heraus verstanden werden könne, als an Fürstenhöfen das Deutsche wenig gelitten war (Karl V. etwa sprach ja kaum Deutsch) und so eine kulturelle Entfremdung zwischen Herrschern und Volk drohte. Es war also schlicht eine Erörterung der in der Rezeptionsgeschichte vielfach als problematisch empfundenen Textstelle.


    Also, für mich beginnt die PC schon damit, dass überhaupt der Schlussmonolog unterbrochen wird, damit ist die Kohärenz im Eimer und dem Publikum wird ein schulmeisterlicher Vortrag gehalten, der ins Programmheft und nicht auf die Bühne gehört. Aber das sollten wir zumindest hier nicht weiterdiskutieren, da es nicht zum Threadthema gehört.


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    Aber das genaue Hinsehen und Hinhören war ja noch nie eine Stärke der Fundamental-"Staubis"...


    Dazu kann ich nichts sagen, bin nach eigenem Dafürhalten weder "Staubi" noch Fundamental-"Staubi" (eher Befürworter von zeitlos-abstrakt wirkenden Inszenierungen, allerdings Gegner der "Entpathetisierung" pathetischer Stoffe und anderer zeitgenössischer Regiepraktiken).

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    Original von GiselherHH


    das [...] ist eine Neu-Zusammenstellung aus mehreren Werken mit zusätzlich eingefügtem Text und neukomponierter Musik


    Und deshalb kein Regietheater?


    Gerade diese Collagiererei ist doch nur im Rahmen einer Theaterpraxis mit übermächtiger Regie denkbar, die die Lizenz hat, beliebig Stoffe, Texte, Musik aneinanderzuleimen.


    Vgl. Konwitschnys "Meistersinger" von 2002, wo der Schlussmonolog von Hans Sachs durch eine politisch korrekte Diskussionseinlage unterbrochen wird. Streng genommen ebenfalls eine Collage.

    D.h. sobald Regietheater (traditionelles, konservatives o.ä. Theater ist das jedenfalls nicht) auch den Freunden des Regietheaters zu peinlich wird, ist es kein Regietheater mehr?


    Wie gesagt handelt es sich um eine Inszenierung, in die sich der Regisseur ständig mit eigenen "kreativen Einfällen" einschaltet. Das ist meiner zunächst mal wertfreien Definition nach eben "Regietheater". Das beschränkt sich nicht nur auf die vorgebrachten Zitate, diese sind lediglich ein paar ausgewählte "Kostproben".

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    Original von wiesengrund


    Sorry, aber das hat nichts mit Regietheater zu tun, da haben sowohl der Regisseur als auch der Rezipient etwas Grundlegendes nicht verstanden.


    Die Dinge sind halt doch öfter etwas komplexer und gedanklich anspruchsvoller als man gemeinhin so denkt...


    Welche Dinge?


    Warum hat das nichts mit Regietheater zu tun? Genau das ist für mich Regietheater im Wortsinn, eine Collage aus dem aufzuführenden Werk und den Einfällen des Regisseurs.

    Ich finde es etwas paradox, dass in Beiträgen, die so beflissen auf die deutsche Kleinstaaterei (aufgrund deren der Begriff einer deutschen Nationalität hier vermeintlich keine Anwendung finden darf) hinweisen, ganz unbekümmert von "italienisch" die Rede ist, obwohl es einen italienischen Nationalstaat ebensowenig gab.


    Dass es ein "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" gab, spricht auch nicht unbedingt dafür, dass es die Vorstellung einer deutschen Nationalität nicht gegeben hätte.

    Ich finde den Vergleich ganz passend... Der Vasenbemaler wäre sicher auch der Ansicht: "Porzellanmalerei ist zum Denken da, nicht zum Genießen... die Aussage der Vasenmalerei muss dem heutigen Betrachter neu vor Augen geführt werden, mit den Mitteln der Gegenwart..." Sicher hätte der Porzellanmaler gewollt, dass man "seine Vase nicht museal betrachtet, sondern sie neu erfahrbar macht..." ;)


    P.S.


    Im Anschluss an Kehlmanns Auftritt gab es bei den Salzburger Festspielen auch eine tolle Vorführung dessen, was er gemeint hat - und zwar Vivaldis Oratorium (auch das muss natürlich "inszeniert" werden) Juditha triumphans mit folgenden genialen Einfällen (Regie: Sebastian Nübling):


    - Schauspielerin Anne Tismer bringt das Orchester zum Schweigen und schreit: "Eine Milliarde Menschen auf der Erde haben kein Wasser! Da stimmt was nicht. Wer hat das verteilt?" (so aufrüttelnd kann Barock sein)


    - Ein weiteres Bonmot von Tismer: "Ich glaube nicht an Gott, aber das ist nicht das Schlimmste. Ich bin ein Kind des Satellitenfernsehens." (Verfasst von der Darstellerin. Hier wird man voll zum Nachdenken angeregt!)


    - und einer der Holofernes-Darsteller steuert den denkwürdigen Ausspruch bei: "Alles Fotzen, sogar Mutti!" (jetzt sehe ich dieses Oratorium in einem ganz neuen Licht)


    (Zitate nach Spiegel online, Bericht von Wolfgang Höbel. Ich hoffe, dass diese Angabe i.O. ist, da man ja nicht direkt verlinken soll?)

    Musikalisch gefallen mir z.B. die deutsche und die niederländische sehr gut, weil sie ihren Wiedererkennungswert aus einer originellen Melodie und nicht aus Dreiklangsbrechungen und Marschrhythmen holen. Negativbeispiele sind da z.B. für mich die Marseillaise (auch wegen des auf Mord und Totschlag abzielenden Textes) und "The Star Spangled Banner".


    Bei der Eisler-Becher-Hymne gefällt mir der Text deutlich besser als die Melodie, auch wenn letztere nicht schlecht ist.

    Wer hat denn den Begriff "linksradikal" in die Diskussion eingebracht? Es war keiner der sogenannten Staubis.


    Zitat

    Original von Mengelberg
    Mich würde immer noch interessieren, woher die Staubis ihren Wahrheitsanspruch nehmen ("Es steht ja im Libretto" ist keine Antwort, ich hoffe, es ist klar, warum).


    D.h. weil die dagegen gerichteten Hypothesen jetzt oft genug wiederholt wurden, ist es klar? Vielleicht sollte es hier thematisch auch lieber bei Kehlmann bleiben.

    Die Reaktionen auf Kehlmanns Rede sind genauso ausgefallen, wie man sie erwarten konnte - es wird insbesondere auf den autobiographischen Hintergrund ("der arme Papi") polemisch draufgehauen. Man stelle sich vor, es sei umgekehrt gewesen und Kehlmanns Vater ein vermeintlich verstoßener Regietheatermacher. Tränen der Rührung seitens linkslastiger Medien wären ihm gewiss. Obwohl es schon sehr fraglich ist, ob Kehlmann in jedem Detail geschickt vorgegangen ist, finde ich die Rede doch sehr mutig - insbesondere in ihrer persönlichen Ausrichtung. Die ultimative Widerlegung der von ihm beanstandeten Regietheaterpraktiken ist sie jedoch sicher nicht, wollte sie aber vermutlich auch nicht sein.