Habe darüber gestern (mal wieder) mit meinem Schwiegervater diskutiert.
Es gibt in der Musik sicher Moden. Dazu gehört - und da kriege ich jetzt sicher richtig Stoff - die historische Aufführungspraxis. Dann solche Norrington-Sachen (ist auch unter historisch zu subsumieren), wie vibratofreies Spielen.
Ein wesentliches Problem ist sicher, dass Klassik heutzutage mit vielen anderen Musikrichtungen konkurriert und sich kaum noch jemand ein Spitzenorchester ins Studio holt um dann einen Carlos Kleiber 40 takes einer Szene machen zu lassen. Vieles wird heute einfach mitgeschnitten und dann sind vielleicht auch mal Passagen dabei, die man gern besser machen würde.
Hinzu kommt die Psychologie. "Alt" klingt bei Klassik immer nach "besser". Ich persönlich finde es schwierig zu sagen, dass das Sibelius-Violinkonzert mit Heifetz von 1936 (oder so) besser klingt als Mutter, Shaham etc. In einer neuen, digitalen Aufnahme sitzt man gefühlsmäßig dann doch näher am Geschehen als wenn es nach Mittelwellensender klingt. Ich vertrete darüber hinaus die Ansicht, dass die Leistungsbreite heutzutage höher ist als vor 50 Jahren. Ein Ausnahmeinterpret von 1950 hatte den Status eines Popstars von heute.
Caruso (was mehr als 50 Jahre zurück liegt) ist von den Massen in New York in etwa so empfangen worden wie heute vielleicht Madonna oder Michael Jackson (vor ca. 20 Jahren).
Heute gibt es sehr viele sehr gute Künstler, aber die fallen eben weniger auf als früher. Das hat sicher auch was mit den Bildmedien zu tun. Ob Anna Netrebko, Sol Gabetta oder AS Mutter Nummer 1 oder Nummer 21 in ihrem jeweiligen Bereich sind, spielt nur z. T. eine Rolle, weil sie eben sehr gut aussehen und das die Kaufentscheidung der Menschen eben auch beeinflusst.
Das war bei Radiokonzerten natürlich nicht so. Aber 60 Jahre Frieden in den Industriestaaten haben natürlcih dazu geführt, dass mehr talentierte und fleißige Studenten die Musikhochschulen bevölkerten und dann in die Orchester, Opern, Kammermusikensembles etc. einrückten. Es sticht vielleicht niemand mehr so heraus, aber das Niveau ist insgesamt gestiegen. Da kommt gleich wieder die Retour, dass das unbewiesen ist, aber da halte ich es mit der Mathematik: Je mehr Menschen in Wohlstand, desto mehr Kinder mit Instrumenten und desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem einen oder der anderen etwas wird.
Als Musiker kann man heutzutage durchaus von seinem Beruf auch im Orchester leben, man ist ja häufig im öffentlichen Dienst. Da ein Großteil der heutigen Musiker (denke wegen meines Mozart-Streichquartett-Threads - könnt gern teilnehmen! - an das Hagen-Quartett) aus Musikerfamilien kommen, wird mit dem höheren und sichereren Einkommen der Eltern auch die Familientradition besser gefördert, somit von den Kindern auch eher mal dieser Beruf gewählt. In früheren Zeiten, als bei Haydn oder Wagner die Musiker am Hungertuch nagten, wollte das wohl keiner so recht. Aber das ist zu weit nach hinten.
Das Hoch der Einspielungen waren wohl die Jahre nach dem 2. WK. Warum? Pop gab es noch nicht, dafür wollten die Menschen sich an schönen Dingen freuen und der Wohlstand (und damit die Möglichkeit, sich einen Plattenspieler zu kaufen) stieg. Ich verweise auf die Schilderungen aus Thomas Manns Exil, wo man sich regelmäßig traf, um gemeinsam neue Einspielungen zu hören. Also, in dieser Zeit gab es das Bedürfnis nach Musik, nach Wohlklang und es gab hochrangige Musiker, die sich durch Aufnahmen finanzieren mussten, wollten und konnten. Da sind vornweg die vertriebenen jüdischen Musiker zu nennen, dazu all die, die Hab und Gut durch Krieg und/oder Vertreibung verloren. Und schließlich die um Rehabilitierung bemühten (z. B. Furtwängler). Man konnte mit Musik viel Geld verdienen (s. zB Legge und das Philharmonia-Orch.). Dann kam noch der Kalte Krieg, der Künstler wie Rostropovich im Exil quasi auch zwang, ihre Kunst zu Geld zu machen. Was wäre wohl gewesen, wäre er einfach Professor am Konservatorium geblieben.
Zu den künstlerischen Aspekten kam noch die sich entwickelnde Aufnahme- und Wiedergabetechnik, die insbesondere jemandem wie Karajan nutzte, der so seine Klangvorstellungen auch vervielfältigen konnte. Mit dem Aufstieg von Rock und Pop und den Brüchen der jungen mit der älteren Generation ("Spießertum") brach dieser Boom in den 80ern ein. Jetzt, langsam, entdeckt die klassische Musik, dass man auch aus einer schüchternen Geigenschülerin oder einem jungen Heldentenor einen Popstern machen kann. Und dass der ORF durchaus noch Opern der Salzburger Festspiele überträgt, wenn man nur die richtigen Leute auf die Bühne stellt. Klassische Musik deversifiziert sich ebenso wie die Gesellschaft als solche. Es ist ja nicht weniger Geld da, es wird nur anders ausgegeben. Die Schicht derer, die mal entspannt 300€ für eine Premierenkarte ausgibt, ist größer geworden. Und mit dem Internet sind die Zugangs- und Erwerbsmöglichkeiten gerade für klassiche Musik größer geworden (s. Tamino). Nur der Grundstock an Fans ist noch nicht wieder da. In 2-3 Generationen sprechen die Klassikliebhaber vielleicht so ehrfürchtig von Dudamel wie jetzt von Karajan.
Unterschätzen darf man auch nicht die intrafamiliäre Traditionsbildung. Wenn Opa und Vater schon immer Böhms Mozart gehört haben, bleibt das anders in Erinnerung, als sich selbst eine neue Einspielung zu kaufen. Kaufen ist Psychologie. Man hat als Erwachsener ja schon völlig durchgeschulte Sinne. Sich auf Neues einzulassen ist ein komplexer Willensakt. Und wenn ich den Verkäufer im Plattenladen frage, empfiehlt mir der entweder nach Verkaufserlös (ich entschuldige mich bei allen Plattenverkäufern) oder nach eigener Präferenz, die sich aus den merkwürdigsten Begebenheiten ergeben haben kann. Da ist das Internet mit den Hörprobemöglichkeiten tatsächlich sinnvoll, weil man ganz unbeeinflusst vergleichen kann.
Aus meiner Sicht muss sich die Tradition neuer Referenzaufnahmen erst entwickeln. Aber ich glaube schon, dass es eine ganze Reihe neuer Aufnahmen gibt, die sich nicht hinter alten verstecken müssen. Das gilt besonders für die "billigen" Aufnahmen, also Solo-Instrument oder Kammermusik. Da hat sich doch in den letzten unglaublich viel getan. Bei Orchester und Oper wird es noch ein wenig dauern, aber auch da werden neue Wege beschritten werden.
Fazit: Das Ohr entscheidet. Früher war zwar vieles anders, aber nicht alles besser. Und: Man muss sich daran gewöhnen, dass ein Klassikstar auch mal gut aussieht und die Hornbrillen von den Covern verschwinden.