Bei allen Einwänden gegen Wagners Libretti sollte man ein paar Dinge nicht vergessen:
1. Wagner lebte im 19. Jht. Da war die Sprache eben anders als heute. Wenn man Gedichte von Lenau, Rückert, Eichendorff liest, dann sind die teilweise mit unserer heutigen Sprache nicht mehr zu vergleichen und wirken für uns auch zu schwülstig und süßlich. Stichwort Comic: Das gab es zu Wagners Zeiten ja noch nicht, weshalb er kaum in einem solchen Stil bewusst schrieb.
2. Wagner war kein Schriftsteller, sondern erstmal Musiker. Wer weiß, ob umgekehrt Mozarts Opern ebenso erfolgreich gewesen wären, hätte nicht Da Ponte für ihn geschrieben. Oder was wäre, wenn Schubert sich einen vernünftigen Librettisten hätte leisten können? Wenn man die Libretti bei Verdi oder Puccini übersetzt/liest, hat man auch keine nobelpreisverdächtige Literatur in Händen.
3. Wagners Persönlichkeit findet sich in den Reimen durchaus wieder. All das Weitschweifige, Weltumstürzlerische, Chauvinistische legt sehr viel von ihm offen. Die Texte sind also zumindest ehrlich.
4. Große Literatur wie Goethes Faust folgt auch oft dem Prinzip des Reim dich oder ich fress dich. Goethes Faust müsste eigentlich von Hessen in Mundart gesprochen werden, damit alles so vorgetragen wird, wie Goethe dichtete.
5. Oper ist nicht Literatur. Wagner reizt mit der Länge seiner Werke ohnehin schon die Grenzen des physich-psychisch Erträglichen aus. 5 Stunden Oper sind schon ein Pfund. Man kommt in der Oper nicht umhin, plakativ anmutende Kürzungen einzubauen, um die Geschichte erzählen zu können. Schwarz-weiß-Denken ist für die Oper und insbesondere Wagner typisch. Das hat auch wieder mit 3. zu tun. Wenn man bspw. begönne, Kundrys Charakter und Vorgeschichte zu differenzieren, am besten noch die Beziehung zu Herzeleid darzulegen, dann würde man den Parsifal an 2 Tagen aufführen müssen. Kundry ist eine femme fatale und in der Filmgeschichte gibt es Dutzende ähnlich strukturierter Charaktere, die nur über ihre Verkürzung wirken bzw ohne Verkürzung die Geschichte unglaublich verkomplizieren. Und dann verweise ich wieder auf 1.. Im 19. Jht. wurde über die Rolle der Frau ein wenig anders gedacht als in aufgeklärten Internetforen des 21. Jht.
6. Die Sprache ist bei Wagner Mittel zum Zweck. Er verlässt die Struktur der Oper und die Sprache dient ihm einerseits, eine Geschichte zu erzählen und andererseits einen Dialog mit der inneren Stimme der Figuren, repräsentiert durch die Musik zu führen.Es ist also eine Art multimedialer Theateraufführung. Und die Geschichten, die er erzählt, sind, bei aller Absurdität, in sich stimmig. Er bedient sich ja überwiegend mittelalterlicher Sagen und Legenden als Grundgerüst, die zudem dem damaligen Publikum mehr oder weniger geläufig waren. Unter diesem Überbau war es demnach weniger wichtig, was gesagt wurde auf der Bühne, sondern wie man Musik und Sprache ineinander verweben konnte. Dadurch wird der Spielraum für die Sprache jedoch auch begrenzt und in Anbetracht der allseits bekannten Geschichte auch marginalisiert. Es ging Wagner ja um die Neuerschaffung eines musikbasierten Theaters und nicht um ein Schauspiel mit Musikbegleitung.
7. Erlösung ist eines der Kernthemen in Wagners Schaffen. Neben der Ambivalenz Liebe/Lust vs Ratio ist bis zum eindeutig christlich zentrierten, letztlich aber über das Christentum hinausreichende Neuerung eng verwoben mit Wagners Ansatz. So, wie er die Musik erneuern wollte, ist die Ausrichtung siener Werke auf Tod und Erlösung wesentlich.
Es ist keine bigotte christliche Idee, die hinter Wagners Schaffen steckt, sondern eine beinahe ketzerisch anmutende Weiterführung des messianischen Themas. Dabei dreht sich auch die Beziehung von Mann und Frau um. Man kann so weit gehen zu behaupten, dass die Frauen durch ihren Liebestod die Schuld Evas, Adam zu versuchen und damit den Verlust des Paradieses für den Menschen verschulden, sühnen. Damit kommt der Frau jedoch im Hinblick auf die christliche Lehre eine viel stärkere Rolle zu als im Sinne des Neuen Testaments, wo sie ja quasi nur als "Gebärmutter" und als Unterstützerinnen und Dienerinnen des Heilands dienen. Die Liebe, aus der Eva Adam zum Sündenfall trieb, wird in Wagners Werken umgekehrt: Durch den Tod aus Liebe wird der Held erlöst. Ob Holländer, Lohengrin, Thannhäuser, Tristan, Parsifal, überall ist der Tod des Weibes die Rettung des Helden. Gut, auch Tristan stirbt, aber letztlich ist sein Tod nicht vergebens.
Der Ring ist in seiner Struktur natürlich etwas komplexer, doch auch dort stirbt Brünnhilde für die Menschen, da die Götter sterben und damit Platz wird für die Christenheit, vulgo die Hoffnung des Menschen auf Erlösung.
Dies führt uns zum nächsten Punkt:
8. Wagner, der Revolutionär. Wagner legte sich mit allen und jedem an. Und nahm an der Revolution in Dresden teil , was ihn ins Exil trieb. Man muss deshalb die Parabel der Erlösung auch im Kontext des Widerstreits zwischen Bürgertum und Adel/Obrigkeit betrachten. Überträgt man dies auf das Modell von 7., so ergibt sich, dass die Frau als Allegorie zu sehen ist. Sie verkörpert Kampf und Blut, Unterdrückung und Unfreiheit, aber auch das Bestehende. Dies muss sterben, um eine neue Welt in Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erschaffen zu können. Das Weibliche bedeutet auch, den Status quo beizubehalten. Parsifal muss sich dem Werben der Mädchen und Kundrys widersetzen, rein bleiben, um die Welt erlösen, eine neue Welt schaffen zu können. Thannhäuser scheitert letztlich an dieser Welt und kehrt in den Schoß der Venus zurück. Im Ring sterben die männlichen Helden alle, es bedarf also eines Erlösers, der noch auf der Welt erscheinen muss. Erst im Parsifal ist dieser Erlöser da, wird die Schwelle überschritten. Die Revolutionsbemühungen haben zu einer neuen Welt, zu einer neuen Gesellschaft geführt.
9. Wagner war kein Frauenhasser. Ganz im Gegenteil liebte und verehrte er die Frauen. Nicht nur körperlich, sondern auch im Hinblick auf deren Andersartigkeit. Sie waren für ihn keine Konkurrenz wie all die - aus seiner Sicht - minderbemittelten Männer. Sie waren Wesen, denen er auf Augenhöhe begegnen konnte, die seine Musik verstanden, die für ihn Musik verkörperten. Ohne die Unterstützung von Frauen hätte seine Musik nicht den Siegeszug angetreten, wie sie es tat. Er benutzte die Frauen nicht in dem Sinne, dass er sie bestieg und sie dann fallen ließ, nein, das Körperliche ergab sich als Konsequenz, war aber nicht sein Hauptzweck (aufgrund seiner wohl von Geburt an bestehenden Leistenbeschwerden hatte er am Beischlaf vermutlich auch nur bedingt Freude). Hier darf man auch die Rolle der Sexualität früherer Zeiten nicht vergessen. Auch Frauen sind lustempfindende Wesen und nicht nur Opfer, die man an den Haaren in die Hölle schleifen muss. Man muss es auch nicht unter dem simplen Groupie-Effekt abtun, sondern unter der charismatischen Anziehung eines Genies sehen, und Charisma macht eben sexy.