Hallo Dreamhunter,
Du weißt ja bestimmt, daß die größten klassischen Musiker wie Bach, Mozart, Beethoven, Liszt usw. alle hervorragende Improvisatoren waren.
Auch war es bis ins 19.Jh. hinein nicht etwas Spezielles, Nischenhaftes, daß improvisiert wurde, sondern gehörte ganz normal dazu.
Bei vielen Klavierstücken von Bach, Beethoven oder Chopin erkennt man superdeutlich, daß sie aufgeschriebene Improvisationen sind (die vielleicht noch ein bißchen hier und da zurechtgezuppelt wurden).
(Was würde ich darum geben, Beethoven improvisieren zu hören...)
"Klassik" ist also per se überhaupt nicht improvisationsfern.
Das von Dir geschilderte Phänomen hängt m.E. damit zusammen, daß sich ab dem 19. Jh. eine immer größere musikalische Komplexität und Stilvielfalt entwickelte und zugleich der Perfektionsanspruch immer größer wurde.
Deswegen trauten sich immer weniger Musiker zu improvisieren, bzw. sie nahmen sich nicht die Zeit dazu, weil sie zuviel Zeit dazu brauchten, die schwierigen ausnotierten Stücke zur Perfektion zu bringen.
Heute ist es so, daß die meisten klassischen Musiker sich nicht mal trauen, ein bißchen zum Spaß zu improvisieren, weil sie viel zu viel Angst davor haben, "schlecht" zu klingen. Ich habe schon verschiedentlich "Klassiker" als Klavierschüler gehabt, und jedesmal war es so, daß sie erstmal zu gehemmt zum Improvisieren waren, weil sie meinten: "Ja, aber das klingt dann doch schlecht /kindisch etc.".
Außerdem kommt noch hinzu, daß in der klassischen Instrumentalausbildung Gehörbildung und Theorie i.d.R. viel zu kurz kommen und es so zu gar keinem wirklichen Verstehen des musikalischen Materials, geschweige denn zu einem kreativen Umgang damit kommt.
Ein Improvisator (wie ich z.B.) spielt ein klassisches Stück und sieht dabei auch, daß es bestimmte Elemente wie Akkorde, Harmoniefolgen, Motive, Rhythmen etc. enthält, die er interessant findet und die ihn sozusagen anregen, sie als "Legobausteine" für eigene Schöpfungen zu verwenden.
Ein typischer "Klassiker" hingegen interessiert sich dafür kaum, sondern nur dafür, eine gut klingende und vielleicht berührende oder "schlüssige" Interpretation hinzukriegen. Liegt wie gesagt am Erziehungssystem.
Zum Publikum: Man kann sagen, daß das typische Klassikpublikum in der Tat nicht an Neuem interessiert ist, sondern vor allem das, was es bereits kennt (und von dem es weiß, daß es "schön" ist) hören will. Es ist also sehr konservativ. Aber das war auch schon früher so. Die großen Komponisten mußten sich mit ihren kreativen Improvisationen und neuartigen Kompositionen stets ein sehr geteiltes Echo gefallen lassen, und nur wenige Zuhörer erkannten deren Größe wirklich.
LG,
Hasenbein