Hallo liebe Forenteilnehmer,
da melde ich mich als Neuling doch auch mal zu Wort!
Ich finde die Frage, ob es in 100 Jahren noch "Klassik" gibt, ehrlich gesagt irrelevant.
Interessant hingegen die Frage: Wie sah früher die künstlerisch hochstehende Musik aus, was für Formen hochwertiger Musik gibt es heute, und wie könnte es in Zukunft sein?
Früher (d.h. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) war ganz klar die künstlerisch avancierteste Musik die "Klassik".
Dann geriet die "Klassik" in die Krise und brachte nur noch wenige Werke hervor, die in gleicher Weise die Zeit überdauern werden wie z.B. Werke von Bach, Schubert oder Wagner. Hingegen etablierte sich in weiten Teilen der "Neuen Musik" eine Art des "Brainfucks" und der Wichtigtuerei mit Tönen.
Was hier in diesem Thread praktisch gar nicht zur Sprache kommt - was mich SEHR erstaunt!! - ist der Jazz, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer sehr differenzierten Kunstform entwickelte.
Künstlerische Verdienste des Jazz sind u.a.:
- Wiederbesinnung auf die Improvisation und starke Weiterentwicklung dieser
- Erweiterung der klanglichen und technischen Möglichkeiten von Instrumenten (besonders deutlich u.a. bei Kontrabaß, Saxophon, Trompete, Mundharmonika)
- Einführung neuer Maßstäbe für das, was man unter rhythmischer Präzision versteht
- spontane Arbeit mit Rhythmen in im Westen bisher ungekannter Vielfalt und Komplexität
- riesige Stilbandbreite von traditionell tonaler Musik über "impressionistische" Formen bis zu frei- und atonalen und selbst seriellen Konzepten
- Entdeckung, daß sich absolute Ernsthaftigkeit gegenüber der Musik und Spaßhaben nicht ausschließt u.v.m.
Was heute z.B. Brad Mehldau, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Keith Jarrett u.a. machen, kann man vom künstlerischen Wert absolut mit klassischen Meistern vergleichen! Nur daß es a) spontan entsteht und daher nur live oder als Aufnahme genossen, nicht aber nachgemacht werden kann und b) natürlich nicht die kompositorische Qualität des Jazz mit derjenigen der Klassik verglichen werden kann, denn da ist natürlich die Klassik haushoch überlegen. Aber wer sagt, daß das primär Künstlerische an Musik automatisch die Komposition ist?
Das Problem ist allerdings, daß die Klassikwelt nicht bereit ist, anzuerkennen, daß in der Chefetage der Musik nicht mehr nur die Klassik sitzt, sondern der Jazz jetzt gleichberechtigt dabei ist!
Dies ist m.E. weniger ein Problem auf der musikalischen Ebene. Jeder, der ernsthaft Mehldau oder Jarrett zuhört, weiß, daß das ganz große Kunst ist.
Nein, ich glaube, es ist mehr ein soziokulturelles Phänomen. Die gesellschaftlichen Gruppen der "Klassiker" und "Jazzer" unterscheiden sich immer noch viel zu sehr.
Im Klassikkonzert sitzen meist Besserverdienende und Bildungsbürger, die über das Ungepflegte, Chaotische, Unpünktliche und Undisziplinierte der Jazzer die Nase rümpfen.
Die Jazzer, meist eher establishmentfern eingestellt, finden hingegen Klassikkonzerte zu glatt, zu unkreativ, zu pünktlich (man kommt ja nicht mal mehr rein, wenn man ein bißchen später kommt...), zu still, zu wichtigtuerisch etc.
Das führt dazu, daß jede Gruppe aufgrund dieser rein sozialen Konventionen nicht bereit ist, sich wirklich ernsthaft auf die Musik der anderen Gruppe einzulassen und deren Qualitäten wahrzunehmen. Sehr, sehr schade!!
Eine Zukunftsprognose - welche Musik wird in 100 Jahren künstlerisch relevant sein? - ist daher schwierig; vielleicht wird der Jazz mehr anerkannt werden und sogar die GEMA Stücke mit Improvisationsteilen und Akkordsymbolen als E-Musik anerkennen???
Ich hoffe zumindest, daß dann Kategorien wie "Klassik" oder "Jazz" endlich tot sind und man sich nur dafür interessiert, ob eine Musik künstlerisch etwas zu sagen hat und Menschen bewegt. Egal ob sie swingt oder nicht, ob sie aufgeschrieben ist oder improvisiert.
LG,
Hasenbein