Franz Liszt und die zwölf "transzendentalen" Etüden
Claudio Arrau (zum 20. Todestag am 09.06.2011) gewidmet
Die 12 transzendentalen Etüden gehören meines Erachtens zu den wichtigsten Klavierwerken von Franz Liszt. Nicht umsonst hat er diese innerhalb von 25 Jahren nach Entstehen des "Jugendwerkes" zweimal [offiziell] fortgeführt, die "Mazeppa" sogar dreimal erneut niedergeschrieben. An diesen Werken kann sehr gut nachvollzogen werden, wie Liszt sich entwickelt hat und welche "Neuerungen" er in die (Klavier-) Musik eingebracht hat.
So sollen die Hintergründe von der Entstehung bis zum finalen Resultat näher gebracht werden, dabei am Rande bedingt eingegangen werden auf die teils leider immer noch - selbst von Musikkritikern und Wissenschaftlern - oft vorherrschende Darstellung unrichtiger Gegebenheiten und des Verpackens von Annahmen als Wahrheiten, wie auch – jedoch zu einem späteren Zeitpunkt – auf die (teils groben) Fehleinschätzungen von Pianisten.
Meine zur Unterstützung des Gedächtnisses herangezogenen Quellen umfassen u.a. jeweils eigene Originalausgaben von den Gesammelten Schriften in 6 Bänden (Lina Ramann), Franz Liszt. Als Künstler und Mensch (2 Bde., Lina Ramann), Franz Liszt's Briefe, 8 Bde. (La Mara), Liszts Leben und Schaffen in 2 Bde. von Peter Raabe, Bücher und Artikel seiner Schüler August Göllerich, Karl von Lachmund und August Stradal, von Alan Walker "The Virtuoso Years, 1811–1847" und die vor kurzem ins Deutsche übersetzte und erweiterte Biographie von Serge Gut.
Zum "geistigen" Nachhören dienten mir ebenfalls eigene (Erst-) Ausgaben und vereinzelte Kopien von Autographen: Dubois–Boisselot (Marseilles 1826), Hofmeister (Leipzig 1839), Ricordi (Mailand 1839), Breitkopf & Härtel (Leipzig 1852) sowie heutige Ausgaben aus der Editio Musica Budapest.
Eine Übersicht über die Tonarten und die einzelnen Bezeichnungen der Etüden in allen 3 Versionen ist beigefügt. (Bitte zum Vergrößern mit der rechten Maustaste anklicken und im neuen Fenster/Tab öffnen.)
I. Hintergründe, Beweggründe
Bereits 1822 erhielt Liszt in Wien von dem seinerzeit wohl renommiertesten Lehrer, und letzten Beethoven-Schüler, Carl Czerny kostenlosen Unterricht und wurde von Antonio Salieri in die Technik des Komponierens eingeführt. Ab 1824 übernahm dies in Paris Ferdinando Paër, der "le petit Litz" auch bei seiner ersten und einzigen Oper "Don Sanche ou le Château d'Amour" unterstützte, die bereits im Oktober 1825 uraufgeführt wurde, auch wenn sie kurze Zeit später schon wieder von den Spielplänen verschwand (sie war zu stark von Paër beeinflusst) und später lange Zeit [bis zur Wiederaufführung Mitte der 1970er Jahre] als verloren/vernichtet geglaubt wurde.
Einige (seinem Vater nach: zahlreiche) Jugendwerke unterschiedlichster Gattungen, auch Sonaten-Ansätze, sind verschollen, trotzdem haben frühe Werke für das Klavier überlebt wie z.B. die [angefragte] Variation über einen Walzer von Diabelli (1822) und verschiedene Variationswerke über u.a. Themen von Rossini und Spontini (ca. 1824).
Dazu wurde er von seinem ehrgeizigen Vater überall als Wunderkind präsentiert, angebiedert und herum gereicht, so dass ihn umjubelte Konzertreisen bereits in seinen jungen Jahren sogar bis nach England brachten.
Zwischen Auftritten in Paris und einer Konzertreise nach Süd-Frankreich entstand in Marseille (abgeschlossen) 1826 sein erstes [überliefertes] "wichtiges" Klavierwerk, welches in folgenden Überarbeitungen die Grundlage für die 25 Jahre späteren "Études d'éxecution transcendante" darstellte. Etüden (Studien, Übungen) waren damals sehr beliebt und gefragt und so ist es nicht verwunderlich, dass ein "Tastenmagier" wie Liszt seinen Beitrag dazu tun wollte, auch wenn an sich die Stücke daraus noch nicht den Liszt zeigten, den man durch seine späteren Werke kennt und die einzelnen Werke sich motorisch eng an die Traditionen von Cramer, Czerny oder Ries hielten, was bestimmt auch einer der Gründe war, warum das Werk nicht derart vom Publikum angenommen wurde.
Trotzdem zeigten sich schon vereinzelt liedhafte inhaltliche Formen [Melodik], die an die italienische Oper anknüpften, und – abweichend zu reinen Fingerübungen anderer Meister – z.B. in den Nummern 5 und 9 erste Stimmungen zum Ausdruck des Gefühls.
Auch zeigen diese [heute] eher "belanglos" wirkenden Kompositionen nicht nur Liszt's bereits ausgezeichnete Beherrschung der gesamten Klaviatur, sondern auch sein Interesse an Fortschrittlichkeit. Hier soll als Stichwort die noch kaum genutzte "Doppelte Auslösung" (Repetiermechanik) von Sébastien Érard genügen, ohne die derart hohe Anschlagsgeschwindigkeiten wie von Liszt teils angestrebt, gar nicht möglich gewesen wären.
Offensichtlich angelehnt an Bach wollte er 48 Studien erstellen, durch alle Tonarten, mit unterschiedlichen Schwierigkeiten. Es blieb jedoch, auch in der ersten Umarbeitung gut 10 Jahre später, in der noch 24 Etüden geplant waren, immer bei 12 Stücken.
Wie ernst es ihm war, zeigen u.a. auch seine Überlegungen und Notizen der unterschiedlichen technischen Schwierigkeiten für die "ersten" 12 Stücke, die ebenfalls in den weiteren Umarbeitungen ihre Gültigkeit weitestgehend behielten:
1 accords brisés (gebrochene Akkorde)
2 octaves brisées, doigté, staccato (gebrochene Oktaven, Fingersatz, Staccato)
3 cantabile, différents types de legato d'accords brisés en accompagnement (liedhaft, verschiedene Arten von Legato gebrochener Akkorde in der Begleitung)
4 succession de tierces parallèles, position des mains, croisement (Folge von parallelen Terzen, Handhaltung, Kreuzung [der Hände])
5 figures rythmiques ornées, septième diminuée (rhythmisch verzierte Figuren, verminderte Septime)
6 indépendance des mains (Unabhängigkeit der [einzelnen] Hände [voneinander])
7 autre étude cantabile, pédale, riche texture d'accords (weitere liedhafte Studie, Pedal, gehaltvolle [kräftige] Struktur der Akkorde)
8 gammes pour la main gauche (Tonleitern [i.S.v. Farbpalette] für die linke Hand)
9 étude pour la caractérisation mélodique, égalité des doigts, trilles (Studie zur melodischen Charakterisierung, Gleichheit [i.S.v. Klarheit, Trennung] der [einzelnen] Finger, Triller)
10 brillants triolets, changement de position des mains (glanzvolle [strahlende] Triolen, Wechsel der Position der Hände)
11 étude au charme délicat, théme dans le registre aigu à la main droite, accompagnement chromatique et tenues à la main gauche (Studie im zarten Charme, Thema in der hohen Tonlage [Diskant] mit der rechten Hand, chromatische Begleitung und gehalten (?) in der linken Hand [unklar, was Liszt mit "(les) tenues" genau meinte]
12 étude cantabile, avec dégradation tonale et travail des voix internes (liedhafte Studie, mit verminderter Tonalität und Einsatz der inneren Stimmen [des Klaviers])
Ein weiterer Grund, dass man die Studien seinerzeit nicht angenommen hatte, mag der [indirekte] Bezug zu Bach gewesen sein, denn ein frommer Katholik hatte sich nicht unbedingt mit den Werken des Protestanten Bach auseinander zu setzen. Luigi Cherubini, immerhin einflussreicher Direktor des Pariser Konservatoriums, hatte sogar seinen Schülern verboten, die Oratorien Bach's zu studieren, weil daraus nur der "verwegene Unsinn der Lutherischen Reformation" spreche.
Dass wiederum Liszt solche "Reglements" nicht interessierten zeigt, dass er sogar in streng katholischen Gesellschaftskreisen über den Thomas-Kantor philosophierte, worauf ihn einmal die Herzogin Aremberg mit den Worten warnte "Zweihundert Jahre früher … und man hätte Sie verbrannt!". Liszt's Antwort: "Zweihundert Jahre später …und man wird die verbrennen, die sich gegen Bach wenden!".
Dass sich letztendlich dieses frühe Werk nicht wie ähnliche "Schulen der Geläufigkeit" [später] dauerhaft in den Unterricht eingebunden hat, liegt auch an dem Widerruf Liszts' mit der finalen Ausgabe, in der er frühere Versionen für ungültig erklärte und sogar die Rechte an bisherigen Verlagsausgaben zurück forderte [und erhielt].