Wenn man bedenkt, dass der "Beruf" des Konzertpianisten ca. ab Mitte des 19. Jahrhunderts erst richtig entstand (vorher gab es ja meist nur Komponisten, die überwiegend ihre eigenen Werke aufführten), wobei der [Solo-] Konzertabend in der heutigen Form gerechter Weise Franz Liszt zuzuschreiben ist, muss man "nur" eine noch einigermaßen übersichtliche Spanne an Generationen überblicken.
Die wichtigsten Pianisten der ersten Generation kennen wir zwar namentlich aber sie lebten nicht alle lange genug, um zumindest noch auf Klavierrollen verewigt zu werden. Die Schallplatte, auch wenn die technischen Möglichkeiten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben waren, gewann erst ab ca. 1920 mehr an Bedeutung.
So verbleiben für unsere Betrachtungsweise gerade einmal knapp 100 Jahre.
Der nächste "Boom" kam erst in den 1950er Jahren durch die Langspielplatte, später gefolgt durch bessere Radioverbreiterung und lange Zeit eines der wichtigsten Verbreiterungsinstrumentarien, Einführung des Fernsehens, viel später die Digitaltechnik und CD, dann das Internet.
Je weiter der Fortschritt, desto mehr wollten davon profitieren bzw. sich darüber künstlerisch profilieren.
Wenn man also in den 1930ern Beethoven-Sonaten hören wollte, besuchte/hörte man Konzerte von z.B. Schnabel, Kempff, Backhaus, Arrau, suchte man nach Chopin so wandte man sich an vielleicht Cortot, Rubinstein oder von Koczalski.
Ob nun ein Schnabel tatsächlich Maßstab für z.B. Beethoven war oder nicht, er hatte sich mit einem Großteil eines (oder mehrerer) Komponisten beschäftigt und machte deren Werke einem breiteren Publikum bekannt. Denkt man zurück, dass in seiner Zeit die Schubert-Sonaten noch verpönt waren ("die sind ja nur was für Klavierschülerinnen"), muss man Künstlern wie Schnabel auch dafür dankbar sein, sich vehemmt für diese Werke eingesetzt zu haben.
Die wichtigsten Faktoren waren also unterschiedliche Sichtweisen von "gängigen" Werken/Komponisten und eine möglichst weit gefächerte Bekanntmachung (noch) nicht derart geläufiger Werke, wobei auch die zeitgenössische Musik eine immer wichtigere Rolle spielte.
So ist es eigentlich nicht verwunderlich, wenn man sich auch heute noch an alt "bewährtes" und bekanntes hält, an die sog. "Spezialisten" - auch wenn diese Bezeichnung inzwischen eher negativ aufgefasst wird (...der spielt ja nur den oder den Komponisten...). Sie bieten aber einfach die größere Auswahl bei einem Komponisten, für den man sich interessiert.
Was hilft es, wenn ein jüngerer Pianist gerühmt wird, die Appassionata umwerfend zu spielen, dieser aber keine weiteren Beethoven-Stücke ins Repertoire aufnimmt. Soll man sich jetzt für alle 32 Sonaten auch 32 einzelne Pianisten suchen?
Ein Großteil des heutigen Nachwuchses ist einfach nicht "fassbar", weil sie sich nicht (weder im Konzert noch auf CD) mit einem oder einigen Komponisten verstärkt auseinandersetzen (wollen, dürfen, können).
Heutzutage wird ein Künstler leider immer mehr daran gemessen, wie sein Erfolg bzw. seine Chancen auf dem Tonträgermarkt ist/sind - eine unangenehme Folge der Technisierung und des Marketings.
Ein z.B. Till Fellner (Name beliebig austauschbar) muss damit leben, dass er auf diesem Markt mehr oder weniger unbeachtet bleibt, obwohl er sich vor Konzertbuchungen nicht retten kann, obwohl er erfolgreich z.B. den gesamten Beethoven-Zyklus weltweit präsentierte und auch im Radio wesentlich häufiger anzutreffen ist als ein Lang Lang.
Schaumschläger wie der zuletzt genannte gibt es noch immer viel zu viele.
Ebenso zahlreiche "Vatermörder" (Begriff von Alfred Brendel nach seinen Ausführungen "Mit der Absicht, es anders zu machen, sollte ein Interpret an ein Werk nicht herangehen.... Ein Interpret, der auf Originalität zielt, geht in die Irre; es fehlt ihm nicht nur an Selbsterkenntnis, sondern meist auch an Talent... Wer die Vorschriften in ihr Gegenteil verkehrt, um sich oder das Stück interessant zu machen, hätte Komponist werden sollen... Der Komponist ist gewissermaßen der Vater.") wie z.B. ein Arcadi Volodos, der zu Beginn seiner Karriere viel zu hoffen gab, heute aber nur noch sich selbst zur Schau stellt und Werke großer Komponisten durch drastische Veränderungen von Ausführungsvorgaben und Hinzudichten unzähliger neuer Noten verstümmelt.
Und sagt jetzt nicht, Gould hätte das nicht auch getan! Stimmt, aber er hat sich umfassend z.B mit Bach und Beethoven auseinander gesetzt und nicht nur, im Vergleich zu Volodos, mit einer Handvoll Werken eines jeweiligen Komponisten beschäftigt.
Nur wenige der Pianisten der "jüngeren" Generation haben es geschafft, ihre Sichtweisen auf einen bestimmten Komponisten auch über Tonträger bekannt machen zu können, wie z.B. Korstick, obwohl es zahlreiche andere gibt, die es ebenfalls gut mit der "alten Garde" aufnehmen können, aber mangels Vermarktungsfähigkeit dem breiten Publikum nicht geläufig sind und wohl nie werden.
Selbst ganz junge Talente (ob nun bereits mit oder ohne CD) wie Kit Armstrong (*1992) oder Joseph Moog (*1987) [altersmäßig vergleichbar mit Lipatti oder Kapell, als diese ihre ersten großen Erfolge hatten] lassen schon heute erahnen, wie sie sich wohl in 10 Jahren weiter entwickelt und in die oberste Liga gespielt haben - wenn sie nicht von den Profitgeiern vorher schon kaputt gemacht werden...
Meine Antwort auf Alfred's Frage, ob die Stimmen der Vergangenheit tatsächlich "schöner", "individueller" oder "beeindruckender" waren, als jene die man heute angeboten bekommt, lautet daher eindeutig NEIN - nur leider bekommt man ohne Konzertbesuche und/oder Radiohören von diesen heutigen mindestens ebenso individuellen, gar schöneren Stimmen oder beindruckenderen Pianisten einfach nichts mit...