Lieber Frank!
Ich kann gut verstehen, dass man mit dem Verstörenden bei Erdmann Probleme hat. Die "Seele" der Komposition findet man dabei wohl nicht.
Die Frage ist, bei wem findet man sie oder (hier geht es um deine Frage) findet man immer nur die "Seele", die man finden will oder, aufgrund eigener Disposition, finden kann?
Ein Grund, warum es keine "ultimativen" Aufnahmen geben kann, ist sicherlich im jeweiligen Hörer selber zu finden. Wir alle gehen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und persönlichen Vorbedingungen an solche Kunstwerke heran. Filtern wir das Gehörte nicht automatisch durch unser eigenes Sein? Inwieweit gibt es ein objektives Hören?
Ich denke, ein bestimmter Klang, eine Art der Phrasierung, eine vorgenommene Betonung hier oder da spricht uns an (oder auch nicht), weil sie etwas in uns selber zum Schwingen bringt, dass mit unserer eigenen Person und eben nur mit unserer Person zu tun hat.
Frage aber: Wo bleibt Schubert dabei? Können wir überhaupt den Schubertschen Kosmos objektiv erfahren, erleben, ja mit durchleiden. Querverweis zum Parsifal. Sind wir als normalsterbliche Menschen in der Lage auf höchster Stufe, d.h. ganz und gar ehrlich, mit anderen Wesen wirklich mitzuleiden?
Ich habe da meine großen Bedenken. Sicherlich können wir rational Leiden nachvollziehen. Aber die Schwere dieses Leidens, eben der genaue Nachvollzug, das wird wohl unmöglich sein.
Und so können wir uns dann Schubert auch immer nur annähern, nie aber wirklich im Innersten miterleben.
Übrigens filtert ja nicht nur der Hörer, der Interpret tut es ja auch. Hier nun die Frage: Wo beginnt eigentlich eine schlechte Interpretation (fern von technischer Unvollkommenheit), wenn man konstatiert, dass die Schubertsche Intention doch nicht vollständig wiedergegeben werden kann?
Ist Erdmann in diesem Sinne (weil fern von Schubert) nicht vielleich doch eher eine gescheiterte oder sogar schlechte interpretation? Ich denke nicht. Aber hier komme ich, der Hörer, der ein Urteil fällt, wieder als eigene Person mit Vorlieben und Abneigungen, die durch meine Biographie und mein Sein bedingt sind, ins Spiel.
Ich mag Künstler, die ins Extrem gehen, die etwas wagen und die durchaus ein Kunstwerk auch für ihre eigenen Interpretationen "zurechtbiegen". Das ist eine Gradwanderung. Sobald es in "Vergewaltigung" ausartet, ist Schluss. Aber dies höre ich bei Erdmann noch lange nicht. Da ist viel Erdmann im Schubert, aber das heißt ja auch, dass sich dort ein Interpret mindestens auf Augenhöhe mit einem Kunstwerk trifft und mit diesem um eine neue Erkenntnis ringt. Durchaus mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit, aber immer auch (und das ist extrem wichtig) mit einer Liebe zum Werk.
Erdmann ist nicht die alleinseligmachende Interpretation. Aber es ist ein, für mich äußerst faszinierendes Teil in diesem Riesenpuzzle.
Gustav
PS: Sein Tochter, die 2. Frau Emil Noldes, ist gerade diese Tage gestorben.