Heinrich von Herzogenberg (1843-1900):
DIE
PASSION
Kirchenoratorium
in zwei Teilen für Gründonnerstag und Karfreitag op. 93
Libretto
vom Komponisten nach Texten der Heiligen Schrift.
Uraufführung
am 3. April 1897 in Berlin.
Besetzung:
Sopran, Alt,
Tenor, Bariton, Bass
Vierstimmiger gemischter Chor
Harmonium
und Orgel
Streichorchester.
Im
ersten Jahrgang der von Friedrich Spitta und Julius Smend
herausgegebenen Monatschrift
für Gottesdienst und kirchliche Kunst (1896/97)
findet
sich eine Vorstellung des Werkes durch den Komponisten selbst, die
hier ungekürzt im Wortlaut als authentische Werkeinführung
wiedergegeben wird:
Erster Teil.
Der
Einleitungschor über die Worte: „Lasset uns aufsehn auf Jesum...“
(Hebr.12,2 und Joh. 20,31) fordert die Gemeinde zur Betrachtung des
Passionsgeschehens
auf. Er ist in der Art eines Mottos, durchaus einstimmig und sehr
knapp gehalten. Die harmonische Wendung vom C-dur auf den
g-moll-Dreiklang,
die hier im vierten Takt und noch an mehreren Stellen gebraucht wird,
kehrt im zweiten Teile gleichsam als Leit-Harmonie oft wieder. Dem
folgenden Gemeindechoral: „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ ist
ein kurzes Orgelspiel voraus gestellt, welches die Anfangszeile der
Melodie „Herr, wie du willst“ imitatorisch verwendet. Als
Nachspiel dient die Umkehrung dieser Melodie.
Der
Evangelist erzählt dann von den Vorbereitungen zur
Fußwaschung; der Chor schiebt bei Betrachtung der liebevollen Demut
Jesu ein kurzes Stück ein: „Siehe, wie Jesus geliebt hatte die
Seinen“ (Joh. 13,1) In den folgenden Wechselreden zwischen Petrus
und Jesus sind die ihnen beigegebenen Motive festgehalten: Petrus
charakterisiert sich durch die sich überstürzende Natur seiner noch
nicht auf Erkenntnis beruhenden Liebe; Jesus durch die leise Wehmut,
die den feierlich-priesterlichen Ton seiner Reden durchzieht. Nach
den Worten des Evangelisten: „Da sahen sich die jünger
untereinander an, und ward ihnen bange, von welchem er redete“
klopft sich die Gemeinde (der Chor) in eignem Schuldbewusstsein an
die Brust: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz ...“
(Psalm 139, 23.24)
Johannes
thut die bange Frage: „Herr, wer ist’s?“ und Jesus giebt den
eingetauchten Bissen an Judas Ischariot. Dieser entfernt sich, „und
es war Nacht“, die Nacht der Sünde. Der Erkenntnis der Sünde
folgt Reue und Buße; so fällt der Chor mit Worten aus Psalm 130 und
51 ein. Die Aufgabe war keine leichte, diesen Stoff, den nur ein
großes selbständiges Werk erschöpfen könnte, auf den knappen Raum
einer Zwischennummer zusammenzupressen, ohne die herrliche Dichtung
um ihre Wirkung zu bringen. Ich glaubte sie durch starke aber
kurzgefasste Thematik, nahe aneinander gerückte Kontraste, vor allem
aber durch möglichst symmetrischen und durchsichtigen Bau lösen zu
sollen.
Nun
wendet sich die Betrachtung dem Abendmahle zu. Die Gemeinde singt die
beiden Strophen: „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Jesu,
wahres Brot des Lebens“; eingeleitet wird der Gesang durch ein
Vorspiel, in welchem sich die Violoncelle der Orgel anschließen und
mit ihr die erste Melodiezeile imitatorisch verarbeiten. Nach der
ersten Strophe treten die Bratschen mit Zwischenspiele hinzu; und als
Nachspiel, das weiter ausgeführt ist, auch die Geigen und Bässe.
Dieses Hereinziehen der Streichinstrumente geschah, um dem Vortrag
mehr Ausdruck und Innerlichkeit zu verleihen, als der unbewegliche
Orgelton allein geboten hätte. Ist der Musikchor von der Orgel aber
durch einen zu weiten Raum getrennt, dann muss eben auf diesen
Schmuck verzichtet werden, und die Orgel trägt diese Sätze auf
kontrastierenden Klavieren allein vor. Die Einsetzungsworte werden in
Form eines Ariosos, mit schlichten Melismen durchsetzt vorgetragen;
ihnen folgt, mit Hinzutritt der Streichinstrumente, ein Satz von
festerem Gefüge auf die Worte: „Bleibet in mir, und ich in Euch
...“ (Joh. 15,4.5).
Unmittelbar
an diese Segensworte Christi schließt sich ein großer Dankchor an.
Der Text - er ist der „Lehre der zwölf Apostel“ entnommen -
atmet den männlichen, freien und kräftigen Geist der
früh-christlichen Kirche. Um den Ton dieser alten Hymne
festzuhalten, aber auch um die Fülle des gebotenen Textes in eine
einheitliche Form gießen zu können, griff ich auf den einstimmig
rezitierenden, unbegleiteten Gesang zurück, wie ihn jene Zeiten
kannten, wie er in der katholischen Kirche sich bis auf die heutigen
Tage erhalten hat, ohne mich aber darum den musikalischen Motiven des
gregorianischen Gesanges anzuschließen.
Das
Gebet, von dem wir nur einen Teil bringen konnten, zerfällt in
einzelne Abschnitte, die jedesmal in einen litaneiartigen Ruf
auslaufen. Um die Strophen von ihren Refrains zu trennen, gab ich
erstere einem einstimmigen Männerchore, letztere dem vollen Chor mit
Hinzutritt aller Instrumente. Dadurch entging ich auch der Gefahr der
Monotonie, wiewohl sich diese Gruppe viermal zu wiederholen hat. Von
demselben Gesichtspunkte ausgehend und wohl auch angeregt durch die
größere Innigkeit zweier Stellen, ließ ich in der dritten und
vierten Strophe auch die Männerstimmen kurze vierstimmige Sätzchen
singen, jedoch unbegleitet wie ihre ganze Partie, und beiderseits
durch einstimmige Stellen eingeschlossen. An den letzten Refrain
schließt sich ein kurzes fugiertes „Amen“ des vollen Chores an.
Der
Evangelist leitet nun mit den Worten: „Solches redete Jesus, und
hob seine Augen auf gen Himmel und sprach“, in das
Hohepriesterliche Gebet über. Auch hier ist der Stoff in seiner
Ausdehnung und Bedeutsamkeit ein gewaltiger. Professor Spitta hatte
den glücklichen Gedanken, die Gebetsworte Jesu dreimal durch kurze
Chöre zu unterbrechen; mit war dadurch aber die Aufgabe vorerst nur
erschwert worden, da die Texte derselben formal und inhaltlich ganz
selbständige Gebilde erforderten. Das Stück schließt mit den
beiden Zeilen: „Liebe, dir ergeb‘ ich mich, dein zu bleiben
ewiglich“ aus dem Chorale „Liebe, die du mich zum Bilde“. Ich
stellte nun zwischen diesen Chorsätzen dadurch eine nicht nur
musikalische, sondern auch Stimmungseinheit her, dass ich die Melodie
dieser Choralzeilen unter die Singstimmen der drei vorausgehenden
Chorsätze als basso ostinato legte. Die musikalische Einheitlichkeit
war dadurch, sowie durch die immer wiederkehrende selbe Tonart dieser
Zwischensätze, gerettet; der Stimmungswert dieser vorausgreifenden
Verwendung des Chorales kann sich aber natürlich nur dem Wissenden
erschließen: ein Schicksal, das diese Nummer mit vielen ähnlichen
Gebilden bei Bach und Anderen teilt. Die Gebetsworte Jesu habe ich
bei erhöhten Momenten der Empfindung auf die alte Intonation jenes
Gebetes gegründet, das uns Jesus selbst gelehrt hat, des „Vater
unser“, wie sie nicht nur in der alten, sondern auch in der
evangelischen Kirche gebräuchlich ist.
Mit
den angeführten Choralzeilen im Sopran und einem zweimaligen Amen
schließt diese Nummer; die Orgel leitet mit dem Anfangsmotiv der
Melodie „An Wasserflüssen Babylon“ in den Schlusschoral des
ersten Teiles über, der von der Gemeinde auf den Text: „Mein
Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen“ gesungen wird.
Zweiter Teil.
Gleich
mit dem Eingangschore des zweiten Teiles wandelt sich die
Grundstimmung des Werkes um. Wie Jesus sich mit seinen Jünger vom
Abendmahle erhebt und dem Ölberge zuschreitet, so rafft sich die
Gemeinde auf, um ihm dorthin zu folgen. Der Chor singt die Worte:
„Stehet auf und lasset uns mit Jesu gehen.“ Die fugierte Form
wurde hier aus poetischen Gründen gewählt, um den allmählichen
Aufbruch der Gemeinde zu schildern. Ein homophones Seitenthema über
die Worte: „auf dass wir erkennen, dass er den Vater liebet und
also thut, wie ihm der Vater geboten hat“, tritt zuerst in der
Seitentonart, am Schlusse in der Haupttonart auf. In der Mitte des
Stückes, in der Durchführung, bringt der Text: „Es kommt der
Fürst dieser Welt, und hat nichts an ihm“ neue töne in das
Gesamtbild; und so haben wir einen breit ausgeführten Sonatensatz
vor uns. Die Gemeinde tritt unmittelbar nach dem Schlussakkord mit
der Melodie: „Mach`s mit mir, Gott“ ein und singt die beiden
Strophen: „Mir nach, spricht Christus, unser Held“, und „So
lasst uns denn dem lieben Herrn mit Leib und Seel` nachgehen“. So
öffnet sich, mit sanft ausklingenden Orgeltönen, das Portal zum
Schauspiel der Qualen und Schmerzen des Erlösers. Die Gemeinde
findet aber, im Besitz der Heilswahrheit, die Kraft und den Mut, die
Trauer um das Leiden Christi mit Akzenten des Dankes, der innigen
freudigen Gottesliebe, ja des Triumphes zu durchsetzen. Und darin
unterscheidet sich diese Passion von allen ihren Vorläufern. Von der
Handlung wird gerade nur so viel verwendet, wie als Grundlage für
Betrachtung und Gebet erforderlich war.
Die
nun folgenden Recitative des Evangelisten, auf die Melodie: „O
Haupt voll Blut und Wunden“ aufgebaut, sind absichtlich in viel
reicherem Maße mit Zwischen tönen, Erweiterungen u.s.w. durchsetzt
als diejenigen des ersten Teiles. Nur selten tritt die Melodie ganz
unverbrämt in die Erscheinung, und dann meist mit einer bestimmten,
leicht herauszufindenden Absicht; so gleich anfangs bei den Worten:
„Da nun Jesus wusste alles, das ihm begegnen sollte“, und später
sogar im Munde von Pilatus: „Sehet, das ist euer König!“ Jesus
hält durch die erste Partie, die Gefangennahme, wieder gewisse
Harmonie- und Melodie-Eigentümlichkeiten fest, die mir der Situation
zu entsprechen schienen. Die Kriegsknechte rufen ihr zweimaliges
„Jesum von Nazareth“ - das zweite Mal um einen halben Ton höher
- auf Grundlage von Akkorden, die gegen die vorhergehenden stark
kontrastieren. Hier zeigt sich schon ein Kunstmittel an, das in der
Folge stets verwendet wird, wo es gilt, auch die Chöre der Juden von
dem Übrigen loszulösen und herauszuheben; es ist, als ob ein Riss
durchs Bild ginge, so oft die feindlichen Mächte eintreten.
Ergriffen
von den liebeüberströmenden Worten Jesu: „Suchet ihr denn mich,
so lasset diese gehen“, singt der Chor über leisen und ruhigen
Harmonien: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil ...“; als
Mittelsatz tritt zu den Worten: „Darum so die Bösen an mich wollen
...“ (Psalm 27,1.2) ein heftiges und rauhes Thema in kurzem Fugato
ein. - An die weitere Erzählung vom Knechte Malchus und die Worte
Jesu: „Soll ich den Kelch nicht trinken ...“ knüpft der Chor
eine Bearbeitung des Chorales: „Was Gott thut, das ist wohlgethan,
muss ich den Kelch gleich schmecken ...“ Die Anknüpfung an das
Wort „Kelch“ ist nur eine äußerliche; die innerliche beruht auf
der Ergebung in Gottes Willen. Mit den ersten Melodieschritten, in
ihrer Verkleinerung zu Achtelnoten, durchziehen die
Streichinstrumente den ganzen Satz; die drei oberen Singstimmen
bringen dazu die Motive der einzelnen Zeilen in Viertel-, der Bass in
Halben-Noten.
Die
Erzählung schreitet bis zu den Worten Jesu fort: „Was schlägest
du mich?“; hierauf folgt ein Arioso für eine Altstimme. War es
schon an sich geraten, die allzudichte Aufeinanderfolge von
Chorsätzen einmal zu durchbrechen, so schien mir gerade der Text:
„Christus hat uns ein Vorbild gelassen ...“ (1.Petri 2, 21.23)
weniger zu lyrischer Ausbreitung geeignet. Die Begleitung -
ausnahmsweise nur dem Streichorchester überlassen - drückt in ihren
Harmonien das schmerzliche Bild des geschlagenen göttlichen
Antlitzes aus.
Pilatus
fragt: „Was bringet ihr für Klage wider diesen Menschen“, und
die Juden antworten: „Wäre dieser nicht ein Übelthäter...“.
Zum ersten Male erscheint das den Volkschören zugesellte Motiv, aus
kreischenden und heulenden Tönen zusammengesetzt; ebenso gleich
darauf: „Wir dürfen niemand töten.“ Im Verlaufe des Stückes
trachtete ich, bei jedem neuen Eintritt dieser Chöre den Sprung in
den Tonarten immer zu vergrößern. Da das Orchester stets
vorausschlägt, bietet sich der Ausführung keine nennenswerte
Schwierigkeit. - Der Sänger der Partie des Christus möge nicht
übersehen, dass in den Verhören vor Kaiphas und Pilatus auch
kraftvolle und stolze Töne angeschlagen werden; er hüte sich aber
vor aufgeregter Leidenschaftlichkeit. Den Worten: „Wer aus der
Wahrheit ist, der höret meine Stimme“ fügt das Harmonium zwei
Takte schmerzlichen und doch ergebenen Ausdrucks hinzu, die in der
Folge wiederkehren und an Bedeutung gewinnt.
Pilatus
thut endlich die große Frage: „Was ist Wahrheit?“; auf
schwankenden Harmonien wird mit dem Motiv des folgenden Stückes in
dasselbe übergeleitet; wie ein Echo tönt es vielfältig zurück:
„Was ist Wahrheit?“ Und nun wird derselbe Gedanke zuerst von
Solostimmen, dann vom Chor mit der ängstlichen Frage: „Herr, wohin
sollen wir gehen?“ erfasst. In immer dichterer Verstrickung
kanonischer Imitationen werfen sich die Stimmen das Thema zu; die
Stimmung wächst bis zu leidenschaftlicher Höhe an, um sofort zu
verzweifelter Ratlosigkeit zusammenzusinken. Da ertönt, zuerst von
einer Stimme vorgetragen, dann vom Chor aufgenommen, die erlösende
Antwort: „Du hast Worte des ewigen Lebens“; und es entwickelt
sich über die folgenden Worte: „Wer da bleibet in deiner Rede, der
wird die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird ihn frei machen“
ein Wechselgesang zwischen Solo- und Chorstimmen, der zu einem
breiten und kräftigen Schluss führt. In dieser Stimmung kann nun
die Orgel das Motiv der Frage wieder aufnehmen, denn diese hat ihre
Beantwortung im glauben gefunden; und die Gemeinde darf mit den
Liedstrophen: „Ach bleib mit deinem Worte ...“ und „ Ach bleib
mit deinem Glanze ...“ diesen Abschnitt beschließen.
Die
folgenden Partien des Evangeliums kann ich hier übergehen, da das
Allgemeine darüber schon gesagt ist. - Der Evangelist singt bei der
Stelle: „Da überantwortete er Jesum, dass er gekreuziget würde“
auf dem Wort „gekreuzigt“ eine schmerzerfüllte Tonreihe, die,
mit kleiner rhythmischer Umgestaltung, das ganze folgende Stück -
eine Bearbeitung des Chorales „Herzliebster Jesu“ - durchzieht.
Der zu Grunde gelegte Text: „O große Lieb`, o Lieb` ohn` alle
Maßen, die dich gebracht auf diese Marterstraßen! Ich lebte mit der
Welt in Lust und Freuden, und du mußt leiden!“ atmet eine so
leidenschaftliche Beteiligung der christlichen Gemeinde an den
Schreckensbildern der Kreuzigung, dass sich der Ausdruck fast bis zu
dramatischer Höhe steigern durfte.
Nach
den Worten des Evangelisten: „Allda kreuzigten sie ihn“, die der
früheren Tonfigur unterlegt sind, setzt im Harmonium ein neues Motiv
ein, welches mit seinen harmonischen Rückungen und Verschränkungen
später als Folie für die letzten Worte Jesu am Kreuz dienen wird.
Hier galt es, die furchtbare Szene mehr anzudeuten, durch wortlose
Tonsprache mehr zu verhüllen als zu schildern. In stockender und
fast flüsternder Weise vollendet dann der Evangelist seinen Satz. -
Nach den ersten, Maria und Johannes betreffenden Worten Jesu
entwickelt sich eine Bearbeitung des Chorales: „O du Liebe meiner
Liebe“. Mit der Verkürzung des Themas umspielen die Bratschen
einen freien Satz von vier Solostimmen, während dem Alt-Chor die
Melodie zugeteilt ist.
Das
Evangelium wird beschlossen: „Und neigete das Haupt und verschied“.
Hier war der Moment gegeben, die durch Christi Tod erlöste Gemeinde
aus der menschlichen Trauer zum großen Gesichtspunkt des Triumphes
zu erheben, bis zu jenem mystischen Gedanken: „Das Lamm, das
erwürget ist, ist würdig zu nehmen Ehre, Preis und Lob“.
Unvermittelt durften jedoch diese Töne nicht angeschlagen werden,
und so stellte sich der Text: „Weine nicht; siehe es hat überwunden
der Löwe, der da ist vom Geschlechte Juda“, beide Grundstimmungen
in sich vereinigend, zwischen die Trauer um den Tod Jesu und den
Siegeshymnus der erlösten Christenheit. Ich habe es seit meiner
frühesten Bekanntschaft mit Bachs Matthäuspassion immer als nicht
hingehörend empfunden, dass die Gemeinde nach dem Tode Jesu sich in
Einzelindividuen auflöst, und jeder für sich an seinen eigenen
physischen Tod denkt, statt seine Gedanken auf die Überwindung des
Todes der Menschheit durch Jesu Opfertod zu richten. Bei Professor
Spitta fand ich zu meiner Genugthuung denselben Gedankengang vor, und
so wagten wir etwas, das in dieser Konsequenz ohne Vorgang ist. Die
Zeit wird entscheiden, ob wir damit einen Missgriff gethan haben;
anfängliches Befremden allein könnte uns nicht davon überzeugen.
Diese
Nummer hat folgenden Gang: Auf einem einzelnen fremden Tone, der
anfangs noch gar keine Tonart zu erkennen giebt, klopft die Bratsche
in unregelmäßigen Pulsschlägen wie ein Herz, das im Schmerz still
zu stehen droht. Die einzelnen Stimmen des Chores rufen sich - aber
thränenüberströmt - die Mahnung zu: „Weine nicht!“ und raffen
sich bei den Worten „Siehe, es hat überwunden der Löwe...“ in
kurzer Steigerung zweimal zu höchster Kraft empor; dann sinkt der
Chor in die Tiefe: „Weine, weine nicht!“ Und nun, nach kurzer
Pause, ertönt in glänzenden, aber feierlichen Akkorden die
Siegeshymne: „Das Lamm, das erwürget ist...“ Die folgende
Amen-Fuge ist von diesen Tönen durchzogen und steigert sich in der
Koda bis zu höchster Wucht und Breite.
Unmittelbar
daran - um den Überschuss der Helligkeit gegen den Schluss hin
wieder abzudämpfen - schließt der Chor, in leisen Harmonien, die
Melodie: „O Haupt voll Blut und Wunden“ mit dem Vers: „Du hast
mich ja erlöset“, durchsetzt mit Betrachtungen der Solostimmen
über den Text: „Daran haben wir erkannt die Liebe, dass er sein
Leben für uns gelassen hat, auf daß wir in ihm Frieden haben. In
der Welt habt ihr nun Angst; aber seid getrost: er hat die Welt
überwunden.“ Die Gemeinde fällt mit dem Vers: „Hilf, dass ich
ja nicht wanke“ ein, und nach dem Beschluss: „Gottlob, es ist
vollbracht!“ erhebt sie sich, bei ihrem Ausgange noch durch ein
ernst-kräftiges Orgelnachspiel begleitet. Es liegt in einer kürzeren
und einer längeren Fassung; je nach der Größe der Gemeinde mag die
eine oder andere gewählt werden; beherrscht ist das Nachspiel von
der ersten Zeile des Schlusschorales; der längeren Fassung ist eine
Choralfuge in die Mitte gestellt.
Musste
der Komponist schon bei Abfassung dieses Werkes der allzu
persönlichen Laune seiner künstlerischen Phantasie Schranken
setzen, so hofft er, dass es ihm auch als Berichterstatter gelungen
sein wird, den Standpunkt reiner Sachlichkeit keinen Augenblick aus
dem Augen zu verlieren. Dass er aber schließlich doch für sein Werk
einstehen musste, wird ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden.