Eine Binse: Dirigieren ist die Willensübertragung eines einzelnen auf ein Kollektiv. Im Regelfall geschieht dies in den Proben, wobei Handwerk und Erfahrung eine wesentliche Rolle spielen. Wenn sich während der Aufführung durch die Inspiration des Augenblicks dann noch eine Aura des Magischen einstellt, die jeder Hörer vermutlich anders erlebt, dann mag der Vorgang des Dirigierens zum Geheimnis werden, weil die Sprache an einen Punkt gerät, wo alle Erklärungsmuster schal wirken. Mit welcher Körpersprache diese Willensübertragung geschieht, bleibt letztlich gleichgültig. Ob einer schwitzt oder tanzt oder wie ein Feldherr statuarisch regiert - die notwendige Spannung des Musizierens läßt sich auf viele Art herstellen.
Ich habe Carlos Kleiber sechsmal den Rosenkavalier dirigieren sehen, und jedesmal begann er in der Walzerszene des 3. Akts am Pult leicht zu tanzen, nicht um der Show willen, sondern weil diese Körpersprache das gesamte Orchester mittanzen ließ. Ein magischer Augenblick.
Ein Gegenbeispiel: Ein nicht unbekannter Dirigent (ich lasse aus Höflichkeit den Namen weg) dirigierte den Fliegenden Holländer. Ich dachte, er würde die Ouvertüre nicht überleben. Ein Derwisch fuchtelte mit seinem Stöckchen in der Luft herum und tobte sich ekstatisch aus, gab mehrfach Anlaß zur Besorgnis, er werde auf die Geiger fallen; das Orchester geigte und blies und trommelte, was das Zeug hielt - aber es war halt nur laut. Der Funkenflug der Inspiration wollte sich nicht einstellen. Nicht die See kochte, nur der Dirigent.
Schließlich ein drittes Beispiel, auch ein Extrem: Karl Böhm, der sich in seiner eher sparsamen Gestik ja stets an die Dirigentenregeln seines Freundes Richard Strauss hielt. Jetzt aber schleppte sich ein steinalter Karl Böhm ans Pult für letzte Fidelio-Vorstellungen in München (es war kurz vor seinem Tod), dessen körperliche Gebrechlichkeit befürchten ließ, er werde die Oper nicht durchstehen. Doch als die Musik einsetzte, gewann sein Körper eine Spannkraft, die sich auf das Orchester sofort übertrug. Böhm dirigierte mit kleinsten Zeichen, gab eher mit Kopfnicken als mit der Hand Einsätze und alle Mitwirkenden spielten und sangen wie elektrisiert. Dirigentischer Minimalismus bei größtmöglichem Spannungsaufbau. Das war sicher eines jener Erlebnisse, bei dem man Dirigieren als Geheimnis erlebt.
Daß Herr von Karajan, wie Alfred behauptet, erstmals die Standards fürs Dirigieren setzte, erscheint mir, halten zu Gnaden, reichlich kühn. Diese Palme gebürt dann doch eher den Herren von Bülow und Mahler; und die Herren Nikisch, Furtwängler und Toscanini waren sicher auch mehr als nur die Vorläufer Karajans. Karajan hat nicht die Standards gesetzt, sondern das Dirigieren zum Medienereignis gemacht. Das ist ein gravierender Unterschied. Und auch diesen Lorbeer muß er sich mit einem Kollegen teilen - nämlich mit dem Herrn Bernstein aus den USA, dem ewigen Konkurrenten. Ob die beiden wenigstens im Himmel zueinander gekommen sind?...
Florian