Eine hochinteressante Frage, die ich einmal in Bezug auf die Klaviermusik beantworten möchte.
Nach meiner festen Überzeugung schlummern noch etliche bedeutende Werke unentdeckt in den Archiven. Oder sie sind einigen wenigen bekannt, erhalten aber kaum jemals die Chance, von einem breiteren Publikum gehört/erhört zu werden. Selbst wenn sie einmal auf Tonträger erscheinen, ist ja nicht gesagt, dass sich die Werke etablieren; die entsprechenden CD´s sind oft recht schnell nicht mehr erhältlich.
Ich hatte immer schon ein Faible für „unbekannte“ Klaviermusik. Schlüsselerlebnis hierfür war eine zufällig eingeschaltete Radiosendung des WDR3, die mal um die Karnevalszeit gelaufen sein muß. Der Pianist Gerhard Puchelt spielte passenderweise nicht Schumanns Carneval, sondern die Scènes carnevalesques von Adolf Jensen. Ein herrliches Werk, abwechslungsreich, sprühend vor Laune und unverbraucht. Ehe ich reagierte und eine Kassette einlegen konnte, war der Zyklus schon fast vorüber, so dass ich nur die letzten Minuten aufzeichnen konnte.
Die Aufnahme hat es leider nie aus dem Radio-Archiv auf Schallplatte oder CD geschafft; bis heute gibt es meines Wissens nur eine einzige CD mit Werken von Jensen.
Gerhard Puchelt hat jedoch ein sehr lesenswertes Büchlein geschrieben mit dem Titel „Verlorene Klänge“ - eine Studie zur deutschen Klaviermusik zwischen 1850 und 1880, erschienen im Robert Lienau Verlag (1969). Von den dort behandelten Komponisten sind in den letzten Jahren einige Werke aufgenommen worden, wie z.B. von Stephen Heller, Adolph Henselt, Friedrich Kiel, Robert Volkmann oder Sigismund Thalberg. Andere sind nach wie vor sträflich vernachlässigt, wie etwa Theodor Kirchner, Ferdinand Hiller oder eben Adolf Jensen. Dabei waren alle diese Komponisten nicht, wie es leider oft heißt, bloße Epigonen, sondern haben ihren eigenen wertvollen Beitrag zur Klaviermusik geleistet.
Wer hat z.B. je von Louis (Ludwig) Schuncke gehört? Wenn überhaupt wohl nur deshalb, weil Robert Schumann ihm seine schwere Toccata gewidmet hat. Schuncke, wie Schumann 1810 geboren, war zeitweilig dessen Nachbar. Schumann schreibt, dass man, wenn man jemandem etwas dediziert, wünscht, dass er es vorzugsweise spiele. „Da mir kein Ton entging, den er anschlug, so hatte ich meinen leisen Ärger, dass er sich nicht darüber her machte, und spielte sie ihm, vielleicht um ihn zum Studieren zu reizen, zu Zeiten aus meiner Stube in seine hinüber. Wie vorher blieb alles mäuschenstill. Da, nach langer Zeit besuchte uns ein Fremder, Schuncke zu hören. Wie aber staunte ich, als er jenem die Toccate in ganzer Vollendung vorspielte, und mir bekannte, dass er mich einigemal belauscht und sie sich im Stillen ohne Klavier herausstudiert, im Kopf geübt habe.“ Leider ist Schuncke mit nicht einmal 24 Jahren gestorben. Seine Grande Sonate op. 3 ist ein großartiges Werk. Die CD ist leider nicht mehr erhältlich.
Besser sieht es etwa mit den Werken des Lichtensteiner Komponisten Rheinberger aus. Seine Orgelsonaten, auch Kammermusik und Chorwerke sind relativ bekannt. 1990 erschien eine CD mit ausgewählten Klavierwerken, gespielt vom Lichtensteiner Pianisten Jürg Hanselmann. Es waren sicher die Sahnestücke: die dritte und vierte Sonate, eine Toccatina und eine Toccata. Eine CD mit Werken für Klavier-Duo folgte, darunter das Duo op. 15, meines Erachtens Schubert ebenbürtig. Jedenfalls fanden sich wohl genügend Käufer (oder die Unterstützung durch das Fürstentum war groß genug), damit in den Jahren danach sämtliche Klavierwerke, bis Vol. 8, aufgenommen wurden.
Aber wer hat solche Werke oder die der anderen genannten Komponisten je im Konzert gehört? Wenn ich die von mir besuchten Konzerte (hier: Soloabende im Raum Köln, Düsseldorf und im Ruhrgebiet) Revue passieren lasse, dann war im wesentlichen zu hören: viel Chopin, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms und Bach, erstaunlich viel Haydn und erstaunlich wenig Mozart sowie Ausgewähltes von Liszt, Debussy, Bartok, Albeniz, Scarlatti und Rachmaninov, von ein paar Kleinigkeiten anderer Komponisten abgesehen. Das mag vielleicht nicht ganz repräsentativ sein, aber einigermaßen hinkommen.
Apropos Scarlatti. Warum nicht einmal Werke von Padre Antonio Soler spielen, der neben einem hinreißenden Fandango über 100 ebenfalls meist einsätzige Sonaten hinterlassen hat, die denen Scarlattis in nichts nachstehen.
Von Alfred Schmidt wurde schon auf die Einspielungen von Virtuosenkonzerten des Labels Hyperion hingewiesen. Aber wann spielt denn jemand auch hierzulande Werke von Litolff, Schwarwenka oder Rubinstein? So besteht meines Erachtens ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was Interessierte auf CD hören können und dem, was die breitere Öffentlichkeit mitbekommt.
Es ist nun mal leider so, dass das Publikum am liebsten das Altbekannte hört und sich mit unbekannten Werken keine Häuser füllen lassen. Ich will da nicht missverstanden werden, micht nicht ausnehmen. Dieses Jahr hörte ich (endlich) zum ersten Mal live den Carnaval von Schumann (mit Lucchesini) und war hingerissen. Aber ich würde mir trotzdem wünschen, auch einmal Musik etwa von Heller oder Henselt gespielt zu sehen.
Es gibt eine Reihe von Pianisten, die sich äußerst verdient gemacht haben, was die Wiederentdeckung vergessener Klaviermusik anbelangt. Doch leider haben sie nicht die Namen, die das Publikum anzieht.
Eine Ausnahme ist da allenfalls Hamelin, den ich aber noch nicht habe spielen sehen können. Nicht zuletzt durch ihn ist ein Komponist wieder endgültig der Vergessenheit entrissen worden, der für mich ein Meister der Klaviermusik ist: Charles-Valentin Alkan. Schon zu Lebzeiten so gut wie vergessen, spielten ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts immerhin noch ein paar Pianisten wie Busoni und Petri, ich glaube auch Arrau. In den Fünfzigern war es dann Raymond Lewenthal, später dann in noch stärkerem Maße der Engländer Ronald Smith, die unermüdlich für Alkan eintraten.
Markus Becker spielte im letzten Jahr in Düsseldorf Haydn, Schumann und die Hammerklaviersonate von Beethoven. Als Zugabe, nicht als Hauptprogramm, gab er Werke von Dussek und Reger. Ob es zu einer Gesamtaufnahme der Sonaten Dusseks kommt (wie bei seinem Reger), ist nach seinen Worten zu schließen wohl fraglich.
Bleibt zu hoffen, dass sich irgendwann einmal eine Wechselwirkung einstellt, zwischen sich gut verkaufenden CDs und den im Konzertsaal dargebotenen Werken und umgekehrt. Sonst bleibt es, fürchte ich, beim Dornröschenschlaf.
Gruß,
Rainer