Zitat von »Wolfram«
Beispiele für Zutaten des 19. Jhds.: Bevorzugung des Legato, Herausstreichen der Klassizität der Werke durch Einebnen von Kontrasten, Nivellierung widerborstiger rhythmischer Elemente, Spiel mit auf Laustärke optimierten und im Klang angeglichenen Instrumenten, Verzicht auf rhetorische Artikulation.
Ich behaupte einmal: das stimmt alles nicht und entstammt lediglich deinem persönlichen Wunschkatalog.
Bevorzugung des Legato
Das ist mehr eine Funktion der Orchestergröße. Je größer das Orchester, desto mehr muss man legato spielen, sonst klingt es sehr be...scheiden. Das heißt, es mögen die kleinen Ensembles in der Zeit der Wiener Klassik in der Regel mit weniger Legato gespielt haben, aber wir haben vereinzelt Überlieferungen von Konzerten mit sehr großer Besetzung (selbst für heutige Begriffe!) und da wurde mit Garantie mit mehr Legato gespielt als in der kleinen Besetzung. Das geht gar nicht anders. Und nebenbei bemerkt - die Komponisten waren meiner Erinnerung nach von den Monsterbesetzungen immer begeistert!
Hier werden doch viele Theorien aufgestellt, ohne auch nur den geringsten Beweis zu liefern! Es ist durchaus nicht so, daß das Orchester mehr legato und sostenuto spielen muß je größer es ist. Ich kann aus meiner eigenen musikalischen Tätigkeit berichten, daß sehr wohl sehr nuanciert mit 12 ersten, zwölf zweiten Geigen usw. aritkuliert werden konnte. Übrigens völlig unabhängig davon, ob mit "modernem" oder "historischen" Instrumentarium musiziert wurde. Davon abgesehen beweißen ja Harnoncourt, Herreweghe oder Järvi, um nur einmal ein paar zu nennen, daß auch mit größer besetzten modernen Sinfonieorchestern in Beethoven-Sinfonien durchaus nicht alles legato oder mehr legato gespielt werden muß als mit kleineren Orchestern!
Mich würden auch die Quellen interesieren, aus denen hervorgeht, daß die Kompnisten immer von Monsterbesetzungen begeistert waren. Es bleibt ja schon die Frage offen,warum sich Bach dann mit den Zahlen seines Entwurffes zufrieden gab, warum in den großen Städten nicht grundsätzlich mit Monsterbesetzungen musiziert wurde? Wie gesagt, mich würden die Quellen interessieren, die besagen, daß ie Komponisten immer auf die größeren Besetzungen geschielt haben!
Nivellierung widerborstiger rhythmischer Elemente
Das ist eine falsche Interpretation im Rückblick mit heutigem Wissen und vor allem heutigen Hörgewohnheiten. Beethovens Musik hatte sehr viele "moderne", sprich neue Aspekte. Die fielen dem damaligen Publikum auf, ohne im geringsten betont werden zu müssen. Wir können die Neuartigkeit überhaupt nicht mehr ähnlich erfassen - der einzige Weg wäre die überproportionale Betonung, was sich auch manche wünschen. Aber die Musiker, die Beethoven uraufgeführt haben, entstammen noch dem 18. Jahrhundert, die sind überwiegend noch Kinder des Rokoko, der stilistisch feinsinnigsten Epoche der Menschheitsgeschichte. Die haben natürlich Beethovens Herbheiten eingeebnet und so klangschön wie nur möglich gestaltet - was glaubst du denn? Dass man das so gespielt hat, wie du es aus der Partitur herausliest, ist reines Wunschdenken.
Woher weißt Du, daß Herbheiten eingeebnet wurden? Wie gut kennst Du dich mit den Instrumenten dieser Zeit aus, um zu wissen, was möglich ist und was nicht? Woher weißt Du wie diese Musiker Klangschönheit feiniert haben. Wieso ist das Rokoko, ein Begriff übrigens, der als muskalisiche Stilbezeichnung nicht üblich ist, stilistisch feinsinnigste Epoche? Wann ist für dich das musikalische Rokoko und wo? Berlin, Wien, Dresden, London, Mailand, Madrid, Bückeburg? Telemann, Homilius, C.P.E. Bach, J.Chr. Bach, Haydn, Mozart, Boccherini, Sammartini, Monn, Wagenseil, Stamitz, Beck, Holzbauer, Hoffmann?
Kennst Du die wichtigsten Instrumentalschulen des 18. Jahrhunderts (Bach, Mozart, Quantz, etc.)? Kennst du die entsprechenden Kapitel über Affektgestltung, Rhythmische Gestaltung, Artikulation, Dissonanzbehandlung, Generalbaßaussetzung (ja, das gibt es auch noch 1800!)? Wenn ja, wo steht da etwas von einebnen?
Wir können nicht sagen, wie es war, aber wir können anhand der vorhandenen Quellen ziemlich detailiierte Aussagen treffen, daß z.B. ken molto legato gespielt wurden und daß keine Dissonanzen eingeebnet wurden!
Verzicht auf rhetorische Artikulation.
Auch das ist eine Funktion der Größe des Orchesters. Wenn in einem kleinen Ensemble jeder Instrumentalist zugleich Solist ist, dann wird ganz anders artikuliert, wie in einem Symphonieorchester mit Instrumentengruppen. Außerdem ist es auch eine Frage des Könnens der Musiker. Jedes moderne Orchester mittlerer Qualität ist um Größenordnungen besser als die zusammengewürfelten Symphonieorchester von vor 200 Jahren mit lächerlichen Proben- und Vorbereitungsmöglichkeiten. Was du gerne hättest, war diesen Orchestern völlig unmöglich.
Wieso können dann Herreweghe, Järvi oder Harnoncourt durchaus eine rhetorisch sprechende Artikulation mit ihren Orchestern umsetzen?
Und was die Qualität der "zusammengewürfelten Orchester" angeht: Das wäre noch zu beweisen!
Oder kannst du mir erklären, warum ein Bach solch horrend schwierige Partien wie die Trompetenpartien des 2. Brandenburgischen Konzertes oder h-moll schreibt, wenn sie nicht bewältigbar waren. Übrigens Partien, um die viele Profitrompeter heute einen großen Bogen machen,obwohl sie doch angeblich "bessere" Instrumente haben. Warum Beethoven in seinen Sinfonien Stellen schreibt, die angeblich mit zusammengewürfelten Orchestern nur völlig unzureichend gespielt werden konnten?
Haben sie darauf gehofft oder es gar gewußt, daß in Zukunft Orchester existieren werden, die es können werden.Haben sie darauf vertraut mit diesen für ihre damaligen Orchester so schlecht spielbaren Werke, die zwangsläufig schlecht klingen müssen, ihrenLebensunterhalt verdienen zu können? War es ihnen egal, wie ihre Kompositionen klingen, obwohl sie durchaus selbst sehr gute Instrumentalisten waren?
Oder umgekehrt formuliert: Auch heute schaffen es "Orchester", de zusammengewürfelt sind mit zwei Proben Marienvesper von Monteverdi oder einen Mozart-Sinfonien-Abend hinzustellen, der professionellen Ansprüchen mehr als genügt, der sogar live für den Rundfunk mitgeschnitten wird!
Aber auch da würde ich mich über Quellen, die deine Thesen belegen freuen!
Bis dahin erlaube ich mir diese Thesen als wenig reflektierte Behauptungen anzusehen. Gerne lasse ich mich aber eines besseren belehren!