Meine Liebe zur Musik kann ich mir ohne Kirsten Flagstad überhaupt nicht vorstellen. Sie war immer dabei, eine der Säulen, auf denen alles steht, was mit Gesang zu tun hat bei mir. Sie hat hat in ganz entscheidendem Maße meine Maßstäbe gesetzt. Dabei lässt sich auch viel gegen sie sagen. Gestalterisch haben ihre wichtigen Rollen (Isolde, Brünnhilde, Fidelio-Leonore, Sieglinde, Alceste, Dido) durchaus Grenzen. Sie verausgabt sich nie, ist immer die Hohefrau. Ihr stimmliche Höhe war zu keiner Zeit optimal, ihre Tiefe zu flach. Die sich verströmende Mittellage aber, die hat nicht ihresgleichen. Flagstadt hat mich gelehrt, dass die entscheidene Wirkung beim Singen aus der Mitte kommt. Ihre Stimme, absulut unverkennbar, ist mir immer wie altes Gold vorgekommen, dessen Kostbarkeit auch nicht darin besteht, dass es keine Schrammen und Blessuren hat. Die Venus von Milo braucht schließlich auch keine Arme, um vollendet zu sein. Die Isolde in der berühmten Furtwängler-Aufnahme, in der ihr Elisabeth Schwarzkopf die C's bei der Begegenung mit Tristan im zweiten Aufzug geliehen hat, ist mehr zelebriert denn für die Bühne gesungen, denn nichts ist dem Zufall überlassen. Sie gibt (mir) eine Vorstellung davon, wie diese Partie stilistisch zu bewältigen ist. Ein Hauch von Vollendung schwebt darüber. So schön kann Wagner klingen. Die berühmten "Bühnentiere", die in diesem Werk um ihr Leben singen, was mir in Teilen auch sehr gut gefällt, haben dem Werk viel von seiner Exemplarität genommen. Sie machen gern Oper daraus, die Flagstad ist immer Kunst.
Meine liebsten Aufnahmen von ihr sind die orchestertbegleitenen Lieder von Sibelius und Grieg. Darin funkelt es wie in kostbarsten Edelsteinen. Viele Einspielungen kamen spät, manches zu spät, will man sie nur nach gesangstechnischen Maßstäben beurteilen. Der Wirkung nach hat sie in ihre letzten Aufnahmen hinein, darunter die Norwegian Hymns mit Orgel aus einer Osloer Kirche nicht aufgehört, eine der begnadesten Sängerinnen zu sein. Sie hat außerordentliche viele Platten aufgenommen und Rundfunkaufnahmen hinterlassen, die mit sammlerischer Hartnäckigkeit auch alle noch zu ergattern sind. Lieder nehmen in diesem Erbe einen größeren Rang ein als die Oper.
Besuch im Kirsten-Flagstad-Museum
Kürzlich habe ich ihr Geburstaghaus in Hamar besucht. Es ist ein Museum. Wer List hat, kann sich mal den kleinen Bericht durchlesen, den ich für eine Zeitschrift geschrieben habe:
"Nie war ich KIRSTEN FLAGSTAD so nahe wie in ihrem Geburtshaus in Hamer. Eineinhalb Eisenbahnstunden nördlich von Oslo gelegen, eine schlichte Stadt. Der stattliche Bahnhof, hier und da ein altes Haus, ein Grand Hotel, eine Terrasse unter einer Pergola lassen einstigen Wohlstand erahnen. Inzwischen hat sich eine gewisse Tristesse über Straßen und Plätze gelegt. Das Letzte, woran der Flaneur an diesem abgeschiedenen und uncharmanten Ort im Norden Europas denken würde, ist die Flagstad. Diese hohe Frau, durch und durch Dame wie es sie heute kaum mehr gibt, die nie ohne Perlenkette aus dem Haus ging, den kostbaren Pelz über die Schultern geworden. Wer sie noch persönlich erlebt hat, spricht zu allererst von der raumgreifenden Wirkung, das ihr Erscheinen hatte. Betrat sie einen Raum – von der Bühne gar nicht erst zu reden – stocke den Anwesenden der Atem. Dabei soll sie sehr herzlich ein einfach gewesen sein.
Herzlich und einfach, das sind die Attribute, die sich hauptsächlich mit ihrem Geburtshaus verbinden, weniger Pelz und Perlenkette. Das einstöckige Holzhaus, etwas abschüssig mitten in der Stadt gelegen, ist keine Villa wie jenes komfortable Anwesen in Kristiansund an der Atlantikküste, das sie auf der Höhe ihres Ruhms bis zum Tod 1962 bewohnte und das den angemessenen großbürgerlichen Rahmen für das glanzvolle Leben dieses Weltstars abgab. In Hamer muss sich der Gast Kirsten als Kind einer Musikerfamilie denken – der Vater Dirigent, die Mutter Pianistin. Ölgemälde aus späteren Jahren zeigen die Mutter streng, den Vater versonnen und selbstbewusst. Obwohl dieses enge Haus der authentischsten aller Orte ist, das kleine Mädchen, das auf der engen Stiege zum oberen Geschoss herumhüpft, konnte ich mir nicht vorstellen. Dafür sind die Devotionalien, die allesamt aus jenen Jahren stammen, als die Flagstad an der Met, an der Scala, in London, Zürich, Paris oder Wien ihre größten Erfolge feierte, zu überwältigend. Sie haben nichts mit den einfachen und schlichten Jugendjahren in diesem Provinznest zu tun. Sie sind hier untergebracht, weil es sonst keinen anderen persönlichen Ort der Erinnerung gibt. Die Villa in Kristiansund ist verkauft, die Asche ins Meer gestreut. Es gibt kein Grab von Kirsten Flagstad.
Das berühmte Kostüm der Brünnhilde mit Federhelm, Schild und Speer scheint einen der kleinen Räume fast zu sprengen. Zu sehen ist auch, was sie als Isolde, Elisabeth und Kundry trug. Hier wie da ist die allzu große Nähe der Wirkung der Modelle nicht zuträglich. Dies gilt nicht für den Schmuck, den die Flagstad als Purcellsche Dido 1951 im Londoner Mermaid Teatre trug, und der es wenig später auch auf das Plattencover der Studioproduktion von „Dido and Aeneas“ brachte. Diadem, Ohrgehänge und Kette scheinen aus purem Gold gearbeitet. In einer anderen Vitrine glänzt der Pokal, den sie bei der Verabschiedung in der Metropolitan Opera als Alceste mit beiden Armen als strahlende Siegerin hoch hält. Ein prunkvolles Bett, über das ein feiner Morgenmantel und ein Negligé aus feiner Spitze geworden sind, bildet einen grellen Kontrast zur Einfachheit des Standorts. Diskrete Besucher gehen schnell daran vorbei. Ich jedenfalls möchte nicht wissen, wie Kirsten Flagstad auf dieser Liegestatt geruht hat. Guten Geschmack verraten alle möglichen persönlichen Gebrauchsgegenstände wie Necessaires, Schminkkoffer, das grüne Reiseglas für den Cherry.
Niemand kann die Fotos zählen, die die Wände fast aller Zimmer übersäen. Sie dokumentieren eine lange Karriere, an deren Anfang nicht Wagner stand sondern das ganz normale Repertoire eines jungen begabten Soprans – einschließlich Auftritte in Operetten wie „Vetter aus Dingsda“ oder „Fledermaus“. Zeit braucht es, sich in die vielen dicken Bände mit den gesammelten Kritiken, Besprechungen und anderen Veröffentlichungen zu vertiefen. Eine Diskographie, die in den USA als Dissertation angenommen worden war, leistet das akustische Erbe der Sängerin, das bekanntlich sehr umfangreich ist, in allen seinen Verzweigungen auf. Verfolgt wird die Veröffentlichungsgeschichte jede Arien, jedes Liedes, jeder Szene. Wann, wo, wie ist welche Aufnahme erschienen? Der Autor erbringt den Beweis, dass dies tatsächlich wissenschaftliche Forschungsarbeit ist und keine aberwitzige Sammlerwut. Die freundliche und kompetente Führung erklärt geduldig. Auf Wunsch werden Platten und CDs aufgelegt. Mild und leise wie er lächelt....
Einmal das Geburtshaus von Kirsten Flagstad besuchen! Der lang gehegte Wunsch hat sich erfüllt. Ich bin zufrieden und tief bewegt. Bin ich auch der Sängerin näher gekommen? Nein. Ich bin ihr ja längst nahe, wenn ich mich in ihre Aufnahmen versenke. Das ist die Begegnung mit der Ewigkeit. Kostüme und Bettgestelle werden eines Tages nicht mehr da sein."
Wer will, kann das Kirsten-Flagstad-Museum in Hamar auch im Internet besuchen, virtuell durch die Räume gehen, in Fotoalben blättern, Bücher und CDs bestellen: http://www.kirsten-flagstad.no
Danke, Harald, dass Du dieser Thread eröffnet hast.