Beiträge von Lynkeus

    Ich höre eher selten Mahler, liebe seine Musik aber grundsätzlich sehr. Klingt paradox, ich weiß.

    Ist für mich als großer Mahler-Fan absolut nachvollziehbar. Bei nahezu jeder seiner Sinfonien gab es zunächst dieses rauschhafte Dauerhören und dem schließt sich ein maßvolles Wiederhören an, das dann aber was Besonderes sein muss. (Leider ist gerade die Siebte bei noch ohne "Klick" geblieben.)


    Geklickt hat es bei mir mal bei Debussys "La Mer". Erschien mir immer schwülstig breiig, keine Musik. Dann während eines Dänemark-Urlaubs am Meer gehört und "klick", da konnte ich sehen, was gleichzeitig zu hören war.

    Joachim Kaiser schrieb in seinem Buch Leben mit Wagner:


    „Obwohl sich Wagner nämlich immerfort erklärte, obwohl ihm nichts dringlicher war, als verstanden zu werden – findet sich kein einziges gezielt antisemitisches Wort in seinen Dramen und erst recht kein irgendwie antisemitischer Takt. Auch hat Wagner nie stolz oder aggressiv oder verlegen auf irgendeine judenfeindliche Passage in seinen Tondramen hingewiesen. Da wird nun mühselig interpretiert und gefragt, ob nicht Negativfiguren wie der Beckmesser oder der Mime oder die Kundry vielleicht doch irgendwie Judenkarikaturen seien.“

    Davon ausgehend stellt sich mir die Frage, ob es Wagner überhaupt möglich gewesen wäre, die erwähnten Negativfiguren so zu konzipieren, dass sie gänzlich frei von jeglichen Verhaltensweisen und Eigenschaften wären, die man im Laufe der Geschichte den Juden als Vorurteil angedichtet hat.

    Es existieren, soweit ich bisher gesehen habe, auch gleiche Handschriften in unterschiedlichen Farben.


    Ich lese das Buch auch derzeit, nachdem ich mir zunächst Gedanken über die "richtige" Herangehensweise gemacht habe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, zunächst das Buch "Das Schiff des Theseus" zu lesen und dabei die handschriftlichen Anmerkungen und Einleger zu ignorieren. Danach kommen die Notizen am Rand, wobei, soweit ich bis jetzt durchblicke, chronologisch zunächst die blauen und schwarzen kommen, die andersfarbigen folgen später.


    Ich hoffe, dass - so der Reihenfolge der einzelnen Schriftlegungen folgend - das Verständnis am größten sein wird.

    Lieber Holger, im Wesentlichen bin ich geneigt, dir in Vielem zuzustimmen. Eine Äußerung wie: "Mahlers Sinfonik verlangt vom Hörer Aufmerksamkeit", wäre ich auch bereit zu treffen. Dennoch wäre das nur mein subjektives Verständnis.


    Aber die Frage ist eben doch, ob bestimmte Musik und Kunst nicht verlangt, als Kunstwerk Ernst genommen zu werden.

    Es mag spitzfindig erscheinen, aber ich komme nicht umhin: Kunst kann m.E. gar nichts verlangen. Im Aufeinandertreffen von Betrachter und Werk mag ein solche Zuschreibung stattfinden und vielen Werken ist etwas immanent, das eine große Anzahl von Betrachtern zu dieser Einschätzung bringt; das war's dann aber schon. Ein Künstler kann meinetwegen auch der Ansicht sein, sein Werk verlange dies und jenes, aber da sind wir beim Ausgangspunkt, nämlich der Ansicht, der Wille des Künstlers ist unerheblich bzw. sollte dieser hinlänglich durch das Werk zum Ausdruck kommen, um die Wahrscheinlichkeit von Fehldeutungen (im Sinne des Schöpfers) zu minimieren. Formulierungen wie "wesentlicher Sinn" oder "was ein Musikstück eigentlich ausdrückt oder ausdrücken will" sind mir suspekt.


    Ein Werk muss für sich sprechen. Der Schöpfer hat sich dann Erläuterungen über den Sinn und darüber, was das Werk ausdrücken will, zu enthalten. Andernfalls ist das Werk gescheitert. Es obliegt dem Rezipienten, Sinnzuschreibungen vorzunehmen.


    Wer durch Musik unterhalten werden möchte, der soll bitte solche Musik hören, die ausdrücklich zu diesem Zweck komponiert wurde.

    Gilt umgekehrt dasselbe? Musik und Werke, die zur Unterhaltung entstanden, sind dann auch nur als solche zu rezipieren. Schluss also mit all dem analytischem Gequatsche und Interpretieren von Shakespeare-Werken?


    Der Künstler entscheidet eben nicht, wie sein Werk wahrgenommen wird. Es wimmelt ja in der Kulturgeschichte von verkannten Genies, von Menschen, deren Zeit erst kommen sollte. Und im Internet (aber nicht nur da) ist die Zahl von Künstlern und solchen, die es meinen zu sein, Legion. Leute, die mit peinlicher Prosa und lausiger Herz-Schmerz-Lyrik dem großen Musenkuss Ausdruck verschafft zu haben glauben.

    Du bringst, lieber Holger, drei nachdenkenswerte Beispiele, von denen ich jedoch zwei hinsichtlich des Threadthemas für ungeeignet halte, weil sie den Schwerpunkt verlagern.


    Zum ersten: Darf Goebbels Liszts "Les Preludes" nehmen und die Musik als Untermalung zur Wochenschau benutzen zum Zweck der Kriegspropaganda?


    Wer hat ihn denn gehindert? Das Beispiel liefert natürlich gehöriges Empörungspotenzial, trifft doch die Noblesse klassischer Musik auf die Niederträchtigkeit nationalsozialistischer Propaganda. Es geht hier aber nicht mehr darum, wie ein Rezipient die Musik hört und deutet, sondern was andere damit anstellen. Mittelbar besteht da schon eine Verbindung: Wer eine Komposition als unantastbares Kunstwerk begreift und das Hören zur Unterhaltung ablehnt, wird sicher auch eine derartige Verwendung als mißbräuchlich bezeichnen. Die eigentliche Frage in diesem Zusammenhang wäre aber für mich, inwieweit man Musikwerke auszugsweise oder auch komplett zur Erzielung und Verstärkung von Affekten gebrauchen darf.


    Zum zweiten:

    Wenn ein Klavierstück "Engel" heißt (Liszt) - der Titel zeigt an, dass es hier um religiöse Andacht geht - darf der Interpret das also wie Discomusik spielen und der Hörer das auch so aufnehmen.

    Ich kenne das Stück leider nicht, konnte es auch bei youtube nicht finden. Auch hier geht es um eine andere Frage, nämlich der nach der Veränderung von Kompositionen. Da gibt es einerseits freilich rechtliche Festlegungen, andererseits sind Variationen, Transkriptionen und dergleichen mehr in der Musik ja gang und gäbe. Prinzipiell darf aber natürlich ein Interpret das als Discomusik spielen und Hörer dürfen das so aufnehmen, wenn es ihnen denn gefällt. Ob man das persönlich für angemessen oder gelungen hält, ist eine andere Frage.


    Das steht in Zusammenhang mit deinem dritten und zur Thematik recht passenden Beispiel: Ein Kunstwerk sollte meines Erachtens einerseits eine gewisse Bedeutungsoffenheit besitzen, andererseits für sich sprechen. Und da wären wir bei den Kindertotenlieder von Mahler. Man kann niemandem verbieten, diese „zum fröhlichen Ergötzen bei Champagner und Kaviar einer angetrunkenen Junggesellenparty“ zu hören, in solchem Falle wäre dieser hier :no: mehr als angebracht. Denn sowohl textlich als musikalisch werden diese Lieder wohl kaum zu der bei solchen Anlässen erwünschten Stimmung und Atmosphäre beitragen. Gäbe es jedoch eine derartige Festgesellschaft, verriete das viel über deren Kunstverständnis oder die Lebenseinstellung der Beteiligten. Und das gälte dann auch für jene, die Liszt zur Discomucke verwursten und die, die das goutieren.

    Es geht hier darum, ob eine klassische Komposition bedingungslos als unantastbares Kunstwerk oder auch als zum Vergnügen - zur Unterhaltung der edlen Hörerschaft verfasstes Musikstück gesehen werden soll. [...] Die theoretische Frage orientiert sich vielmehr am Kernpunkt, inwieweit die Musik zum Vergnügen der Publikums geschrieben wurde, oder zur "Selbstverwirklichung" des Komponisten.


    Wenn ein Werk (völlig gleich, ob es sich um einen Text oder eine Komposition handelt), einem Publikum zugänglich wird, dann obliegt es dem Rezipienten (weitgehend), auf welche Art und Weise er es deutet oder konsumiert. Da gibt es keinen Imperativ. Der Wille oder die Absicht des Komponisten bzw. Autors etc. ist dabei unerheblich.


    Ja, mehr noch, bin ich der Auffassung, dass ein Künstler sich idealerweise mit (öffentlichen) Kommentaren und Erörterungen im Sinne von Rezeptionsanweisungen zurückhalten sollte. Derartiges hat keinen Verbindlichkeitsanspruch.

    Mittlerweile sind ja in diesem Thread zwei Dinge vermischt, die nie explizit getrennt gedacht waren. Ich verstand Alfreds Eingangsbeitrag eher bezogen auf die unterhaltende Funktion der Musik von der Konserve, quasi als Hintergrund zu anderen Tätigkeiten, im Gegensatz zum konzentrierten und analytischen Hören. Mit der Einbeziehung des Konzerts kam eine neue Ebene in die Diskussion.


    Nun gut, könnte man argumentieren, wenn Wagner von CD Unterhaltung sein kann, warum sollte Selbiges nicht auch von der Aufführung gelten. Und wenn ich nun Lohengrin zuhause im T-Shirt höre, warum nicht auch im Opernhaus? Vielleicht aus denselben Gründen, die mich daran hindern, dort lautstark in die Verabschiedung des Schwans einzustimmen, was ich zuhause vielleicht tue. Alfred hat schon recht, wenn er ein Konzert als gesellschaftliches Ereignis bezeichnet, und mit einem solchen gehen nunmal gewisse Konventionen einher, die man freilich nicht unkritisch hinnehmen muss.



    Ähnliches spielt wohl auch beim Konzert eine Rolle: Die Wahl der feinen Kleidung ist auch Ausdruck dafür gewesen, dass man einen deutlichen Schnitt macht zum Alltag, den man auf diese Weise vergessen will.

    Das klingt für mich einleuchtend. Mir kam zuerst ein anderer Gedanke im Zusammenhang mit der erwähnten Beerdigungskleidung. Diese trägt man ja auch als Zeichen des Respektes gegenüber dem Verstorbenen. Ich fühlte mich veranlasst zu sagen, das gelte auch beim Konzert: Aus Respekt vor den Aufführenden kleide ich mich festlich. Dann aber erkannte ich, welche Respektlosigkeit gegenüber den ausführenden Künstlern ich dann bereits begangen hätte, etwa im letzten Jahr in T-Shirt und kurzer Hose bei Springsteen. Das ist natürlich Unsinn. Aber dadurch wird klar, dass zwischen Ausführenden und Hörern in Kleiderfragen doch eine gewisse Ähnlichkeit besteht; sei es bei der Volksmusik, beim Rockkonzert oder in der Oper - und das kann nur zum Teil mit bestimmten Lebenseinstellungen erklärt werden, denn der leidenschaftliche Besuch des einen schließt das andere ja nicht aus.


    Wenn die Kleiderfrage ein derartiges Hindernis darstellt, warum gehen dann diejenigen, die am meisten von einem Besucherzuwachs profitieren würden, nicht mit gutem Beispiel voran? Also, Dirigenten und Musiker in selbstgewähltem Look, ganz unverkrampft?

    Was die Kleiderfrage betrifft, denke ich einerseits, dass derjenige, der nicht bereit ist, wenigstens in gehobene Freizeitkleidung zu schlüpfen, dann an der Musik auch kein sonderliches Interesse haben kann. Ich möchte im Konzert nicht neben jemanden in Jogginghose und Unterhemd sitzen. Andererseits spricht für den erwähnten Blaumannträger natürlich seine Liebe zur Musik, die ihn wahrscheinlich trotz widriger Umstände und erwartbarer scheeler Blicke zum Konzertbesuch bewogen hat. Dass es eine Schar von Handwerkern gibt, die auf der Heimfahrt von der Arbeit ein Tränchen verdrücken, weil sie ja noch gern in die Oper gegangen wären, sich aber ohne Anzug nicht trauen, ziehe ich mal in Zweifel.
    Und hinsichtlich der Aufführungsorte teile ich Alfreds Auffassung insoweit, als dass viele außergewöhnliche Orte nur des Eventfaktors wegen gewählt werden.


    Zum eigentlichen Thema:
    Mir scheint zwischen zur Unterhaltung und im Hintergrund nur ein schmaler Grat zu verlaufen. Tatsächlich stehe ich sonntags manchmal vor der Anlage und suche nach einer stimmungsvollen Musik, akustische Schmeichelei zum Früchstücksei. Unbekannte Werke kommen da nicht infrage, also Bekanntes. Aber bei dieser Sinfonie ist der dritte Satz zu hektisch und bei jenem Konzert das con brio völlig unpassend. Mozart Klavierkonzerte, ja, die gehen meist.
    Ansonsten machen die Kulursender einen recht guten Job in dieser Hinsicht. Im zurückliegenden Urlaub hörte ich NDR Kultur. Und siehe da, selbst der Blumine-Satz von Mahlers erster Sinfonie entwickelt, zum Morgenkaffee genoßen, eigene Qualitäten.

    Schlicht die "falsche" Aufnahme, lieber Lynkeus.


    Ich habe nach Hörproben gesucht und Bernstein ist wirklich gelungen, vielleicht könnte mir dieser Brahms gefallen. Ich merke ihn mir mal vor. Danke für den Tipp.


    Heute gehört:
    Allan Pettersson
    6. Sinfonie


    Nach mehreren Hördurchgängen finde ich das Stück interessant, kann mich aber nicht dafür begeistern. Im Gegensatz zur 7. fehlt mir etwas wie ein Rettungsanker. Anstrengend zu hören.

    Aber die Sinfonien Nr.1 und 2 mit Segerstam /Dänisches National PO sind aufnahmetechnisch derart daneben gearaten, dass ich persönich gar keine herausragenden Eigneschaften feststellen, geschweige denn beurteilen wollte.


    Diese Feststellung habe ich schon häufig gehört. Trotzdem hat mich genau diese Zweite derart gepackt und es gelingt ihr auch nach wie vor noch, dass ich gespannt auf andere, vermeintlich bessere Aufnahmen war. Entsprechend neugierig war ich auf die Aufnahme unter Bernstein mit den Wienern. Es tut mir leid, aber ich kann Klaus' Meinung absolut nachvollziehen. Ich empfand die Einspielung in Vergleich mit der Segerstams einfach nur enttäuschend.
    :untertauch:
    Möglicherwiese sind es aber genau die erwähnten aufnahmetechnischen Mängel, die etwas zu der Wirkung beitragen, indem sie die Farben verwischen.

    Brahms 1. Sinfonie
    Ich habe mich mit Brahms' Sinfonik noch immer nicht anfreunden können, höre aber immer mal wieder rein, auf dass ein Funke überspringe oder ich feststelle, die nötige Reife erreicht zu haben. Nun ja, allein der Beginn der ersten lastet mir irgendwie wie ein Alpdruck auf der Brust. Mir wird da fast schlecht, körperlich, ohne zu werten.

    Ich bedaure die Schließung nicht, da ich seit einiger Zeit sowieso meine Mitgliedschaft zu kündigen beabsichtigte. Der Grund meiner Mitgliedschaft war das Buchangebot, das sich aber seit Jahren auf Trivialliteratur und deren noch trivialere Trittbretterscheinungen zu beschränken scheint. (Ich habe das mal, nur halb im Scherz, als Hausfrauenliteratur bezeichnet. :untertauch: ) Dazu kam, dass die bescheidenen Preisvorteile häufig erst ab zwei gekauften Artikeln verbucht wurden.

    Seit Eröffnung des Threads habe ich hin und her überlegt, weil meine anfängliche Aufstellung etwas eintönig schien. Es hat sich aber nicht geändert, deswegen:


    Mahler 8
    Mahler 6
    Mahler 5
    Mahler 3
    Berlioz - Sinfonie fantastique


    Bleibt zu erwähnen, dass ich Mahler 9/10 noch nicht kenne. :whistling:

    Lieber Aaron.Gal,


    ich habe versucht, mir ein wenig Klarheit über deine Ausführungen zu verschaffen, gerade aber an einigen Stellen in Sackgassen.

    Lässt sich ein Werk auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen interpretieren, handelt es sich nicht um Kitsch. [...] Diese Relativität in Bezug auf denejnigen der wertet, verschwindet , wenn verständige Interessierte bewerten.


    Ist die Möglichkeit zur Interpretation auf verschiedenen Bedeutungseben nicht weniger eine Eigenschaft des Werkes als des Betrachters? Wenn ich bei der Betrachtung eines Bildes von Thomas Kinkade zu dem Urteil komme, es handele sich um Kitsch, denn es lasse eine Interpretation nur auf einer oder wenigen Bedeutungsebenen zu, ja, was kann ich denn dann erwidern, wenn man mir antwortet, mein Urteil erwachse aus dem Umstand, dass ich nicht zum Kreise der verständigen Interessierten gehöre?


    Der Kitschier glaubt sein Werk habe eine Tiefe/Dimension, die es in Wahrheit nicht hat. Unfreiwillig, denn er wünscht und glaubt ja, dass sie es hat!

    "In Wahrheit"? Ist Tiefe/Dimension messbar? Was, wenn man Tiefe und Dimension empfindet, und erfährt hinterher, dass das Werk als "Kitsch" gilt. Verschwindet die empfundene Wirkung oder wird sie falsch?

    Hier ist die zweite Fassung, die - auf den ersten Blick - der dritten zu gleichen scheint:



    Aussagen über die erste Fassung zu treffen ist aufgrund des nur vorhandenen schwarz-weißes Bildes schwierig. Persönlich aber scheint mir die Aussage, dass die erste Fassung den Kaiser in den Mittelpunkt stelle, nur bedingt zutreffend. Der Maler ermöglicht uns durch eine Lücke der Anwesenden den Blick auf Wilhelm I., aber durch die schiere Menge der Anwesenden springt er dem Betrachter nicht unmittelbar ins Auge, sondern seine Rolle wird erst bei eingehender Betrachtung deutlich. Ob auch dies Absicht war? Bekanntlich war Wilhelm I. nicht sonderlich erpicht auf den Kaisertitel.

    Anton von Werner - Die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches


    Eines der bekanntesten Historienbilder der deutschen Geschichte zeigt die am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles stattgefundene Kaiserproklamation.




    Das Bild stammt von dem Maler Anton von Werner (1843 - 1915), der Augenzeuge der Proklamation war, und entstand im Jahre 1885. Es ist die dritte und letzte Fassung dieses Bildes sowie die einzig erhalten gebliebene. Die preußische Königsfamilie gab es als Geschenk für Otto von Bismarck in Auftrag. Dies spiegelt sich in der Darstellung Bismarcks wider: In weißer Galauniform steht er, auf dessen Bestreben die Reichsgründung maßgeblich zurückgeht, im Zentrum des Bildes. An seiner Brust befindet sich der Pour le Mérite Orden. Die dritte Person links von ihm, der Herr hinter der mittleren Stufe, ist der Kriegsminister Albrecht von Roon. Doch Bismarck trug tatsächlich einen blauen Waffenrock und bekam den Orden erst 1884 verliehen, während Kriegsminister Albrecht von Roon in Versailles überhaupt nicht zugegen war.

    Caspar David Friedrich


    Folgende Winterbilder Friedrichs zeigen auch Menschen oder deren Hinterlassenschaften.


    Verschneite Hütte (Hütte im Schnee) (um 1827)
    Diese Hütte bietet keinen Schutz mehr. Wie eine vom Winter erlegte Beute steht sie, achtlos dem Verfall preisgegeben.


    Der Chasseur im Walde (1814)
    Dieses Bild kann als patriotisches Werk gedeudet werden. Ein französischer Soldat (stellvertretend für die Grande Armée?) auf dem Weg in die Dunkelheit. Ein Rabe als Todesbote auf einem Baumstumpf.


    Winterlandschaft (1811)
    Erschöpft stützt sich ein Wanderer auf seinen Stecken. Sein Blick ruht auf einer endlosen Weite, leblos. Nur mehr Stümpfe stehen von einst blühenden Bäumen. Links von ihm ein toter Baum. Welke Blätter künden vom vergehenden Leben. Rechts ein weiterer toter Baum, völlig kahl und sich wie im Fallen zum Boden neigend. Es scheint, als neige er sich im gleichen Winkel wie der Oberkörper des müden Wanderers, der wohl, anders als der rechte Baum, andernfalls stürzen müsste. Doch der Wanderer hat seinen Stock, der wiederrum dem linken Baum nicht unähnlich ist. Eine letzte Stütze also und ein Blick in die unausweichliche Zukunft?



    clck 5308

    Lieber portator,


    ein schönes Bild. Es scheint, als markiere der Bach die Grenze zwischen Winter (rechts) und Frühling (links). Während ein Vogel sich bereits im Geäst niedergelassen hat, befinden sich die anderen noch im Flug. Und die menschlichen Fußspuren? Führen sie nicht auch nach links, auf den Betrachter zu? Womöglich in Richtung einer den Übergang ermöglichenden Brücke?

    Als letztes las ich auch "Harte Zeiten", das sich mit keinerlei Sentimentalität abgibt, sondern knallhart die - manchen Auswüchsen der Industriellen Revolution zugrundeliegende - egoistische Version des Utilitarismus geißelt. Dickens ist hier zwar in einigem schwächer als in vielen anderen Romanen, was die Charakterzeichnung und den Humor angeht, aber dafür sehr scharf und poinitert. Lohnt sich schon!


    Kurz vor Weihnachten habe ich, wie erhofft, doch noch die Ruhe und Muße gefunden, um Harte Zeiten zu lesen. Es stimmt schon, dass es sich bei dem Roman nicht um Dickens bestes Werk handelt, aber, wenn es etwas wie Jammern auf hohem Niveau gibt, dann ist diese meine Aussage ein treffliches Beispiel dafür. Denn es gibt auch in diesem Buch wieder Passagen, die ich nicht gegen die (heutige) Top-100 Belletristik bei amazon tauschen würde. Wie Dickens im letzten Kapitel durch rhetorische Fragen für seine Figuren erst Zukunftsentwürfe entstehen lässt, um diese dann lakonisch zu besätigen oder zu zertrümmern, ist ergreifend. Bewundernswert auch wieder sein Händchen für Namensgebung: Bounderby, Blackpool, Sparsit, Gradgrind, allesamt Namen, die einem im Hirn haften bleiben.


    Gestern beendet habe ich Ted Chiang - Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes.

    In seiner Sendung druckfrisch hat Moderator Denis Scheck, den ich im November persönlich zu sprechen das Vergnügen hatte, diesen Kurzgeschichtenband vollmundig gelobt. Daraufhin war er vergriffen und seit Kurzem erst wieder erhältlich. Nun, nach abgeschlossener Lektüre, bleibe ich etwas ratlos zurück, da mich die Geschichten nicht hundertprozentig überzeugen konnten. Sie sind erstklassig geschrieben, aber einerseits vermisste ich fast immer eine gute Pointe (a la Philip K. Dick) und andererseits wälze ich die Inhalte gedanklich auf der Suche nach übersehenen Hintersinnigkeiten hin und her, wie schon lange nicht mehr. Insgesamt aber lesenswert.

    (Ich sehe gerade, dass Johannes einen Beitrag verfasste, während ich an meinem schrieb. Ich konnte darauf deswegen noch nicht eingehen.)


    farinelli (Beitrag 65)


    Lieber farinelli,


    ich glaube, dass wir einander gerade missverstehen und will gern die Schuld auf eine ungenaue Formulierung meinerseits schieben.
    Wenn Alfred sinngemäß sagt, wer eine Jugendausgabe eines Klassikers lese, könne nicht von sich sagen, das Werk zu kennen, dann stimme ich ihm zu. Alfred nannte Swifts "Gullivers Reisen" und mir kommt bei dem Thema immer auch Melville mit seinem weißen Wal in den Sinn.


    Deine Erwiderung darauf verstand ich so, dass du diese Ansicht als werkromantischen Kitsch begreifst, unter Verweis auf die Arbeit des Schnitts beim Film bzw. des Lektorats bei Literatur. Das widerrum wollte mir nicht einleuchten, da man zwischen Änderungen während des Entstehungsprozesses und nachträglichen unterscheiden muss.


    Dem Jugendbuch-Vergleich stimme ich aber nicht zu, wenn er mit Strichen in der Oper wie den von dir vorgestellten bei Verdi gleichgesetzt wird. Eben weil das eine ein abgeschlossenes Werk ist, während Oper und Theater der Aufführung bedürfen. Wobei sich mir die Frage stellt, wieviele Striche, Änderungen und Kürzungen zulässig sind, ehe etwas "anderes" entsteht.


    Die Jugendbuchfassung eines Klassikers verhält sich zum Original vielleicht so, wie Projekte wie "Der Ring an einem Abend" oder Loriots "Ring" zur Wagner'schen Fassung.

    Jeder Film ist zuletzt ein Resultat des Schnitts, und die Herausgabe der eliminierten Szenen ist nicht immer von Vorteil. Nur wer davon, oder von der Leistung eines gesunden Lektorats auch gar keine Ahnung hat, formuliert so einen werkromantischen Kitsch.


    Es gibt ja wohl einen Unterschied, zwischen Szenen (sei es in Buch oder Film), die auf dem Weg zum Endprodukt (im Einvernehmen mit dem Künstler oder gar von diesem selbst) entfernt werden und jenen, die nachträglich vom Endprodukt entfernt werden, um eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen. Insofern gebe ich Alfred vollkommen recht in Bezug auf seinen Jugendbuch-Vergleich.

    Lieber Rheingold, lieber hasiewicz,


    euer beider Beiträge habe ich interessiert gelesen und möchte mich an dieser Stelle auch als glühender Bewunderer von Charles Dickens "outen". Was und wie er es verstand, mit Buchstaben und Worten Figuren Leben einzuhauchen, sucht seinesgleichen und macht in Kombination mit seinem Humor eine einzigartige Mischung aus. "Bleakhouse" gehört auch zu meinen Favoriten, auf Augenhöhe mit "Nicholas Nickleby" (eines der wenigen Bücher, bei dem mir die Augen feucht wurden) und dicht gefolgt von den "Pickwickiern". Merkwürdigerweise sind es die bekannten Stücke "Oliver Twist" und "Die Weihnachtsgeschichte" (großartig: die Version der Muppets mit Michal Caine als Scrooge), die mich nicht vollends überzeugen konnten. Ob es an der Länge bzw. ihrer Kürze liegt? Für eine baldige Lektüre bereitgelegt habe ich "Harte Zeiten", mal sehen, ob es noch in diesem Jahr klappt.


    Viktorianisch neblige Grüße,
    Lynkeus.

    Die Lektüre der Verlorenen Zeit ist eine gewinnbringende Erfahrung, die gleichermaßen genuß- und qualvoll ist. Ich habe das Buch (bzw. seine sieben Bände) gelesen, als ich mich im ersten Studiensemester befand, in der Überzeugung, dass es sich nicht um einen Pageturner handeln würde, der mich vom Lernen abhielt. Jeden Tag auf der halbstündigen Bahnfahrt zur Uni und zurück trug ich einen der kleinen Bände der zehnbändigen Suhrkamp-Ausgabe in meiner Tasche. Gelegentlich fragte ich mich, was ich mir da antat, denn es gab Passagen scheinbar unendlicher Langeweile. Und dann wieder Stellen, die zu lesen zum ungeheuren Genuss wurden, etwa der gesamte zweite Teile Ein Liebe von Swann oder der letzte Band Die wiedergefundene Zeit. Unvergessen ist mir der Tag, als ich das Ende las. Es ist schwierig, die Wirkung der letzten Seiten in Worte zu fassen. Ich empfand eine Art literarische Apotheose. Nach etwa einem halben Jahr der Lektüre trat ein, was ich nie für möglich gehalten hatte: Bedauern über das Erreichen des Ziels.


    Hier der wohl wahrste Satz des Werkes:

    Zitat

    Im Leben der meisten Frauen wird alles, selbst der größte Schmerz, schließlich zur Kleiderfrage.

    :pfeif:

    Wessen hat sich Castorf denn schuldig gemacht, dass gleich die Regietheaterkeule geschwungen werden muss? Zumindest hat er diesmal keine Oper "verunstaltet", sondern die eigens von ihm für die Bühne geschaffene Bearbeitung eines Romans.


    Darf man denn annehmen, dass die Empörten alle Kenner der "Reise ans Ende der Nacht" sind, sodass es ihnen möglich ist, über die Angemessenheit der Castorf'schen Umsetzung zu urteilen?


    Oder wird hier gejammert über eine Inszenierung, die man nicht gesehen hat, und die auf einem Buch basiert, das man nicht gelesen hat?

    Lieber Holger, lieber Caruso
    Ich lese eure Ausführungen in der Regel mit Gewinn, stelle aber in der laufenden Diskussion einige (vermeintlich?) argumentative Schwächen fest, die es mir schwer machen, das Geschriebene nachzuvollziehen, geschweige denn zu verstehen.


    Wie Mozart seine Es-Dur-Sinfonie verstanden hat und aufgeführt hören wollte, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass er sich in seinen wildesten Träumen nicht hätte vorstellen können, dass die von ihm notierte Sinfonie mal so klingt, wie sie heute das Chicago Symphony spielt oder die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen!

    Ich gehe davon aus, dass Mozart jedoch - unabhängig des Inhalts seiner wildesten Träume - erkennen würde, dass es sich um die Interpretation einer seiner Kompositionen handelt. Und äußere zudem die spekulative Vermutung, dass es dazu keiner übermäßigen Überlegung seinerseits bedürfte. Angenommen aber, er sähe eine Cosi-Inszenierung (tonlos), etwa die im Thread zu den absurden Inszenierungsideen gestern angesprochene, würde er dann ebenfalls seine Oper erkennen?
    Andererseits, vielleicht interessierte ihn die Inszenierung auch garnicht, solange seine Musik erkennbar bleibt. Wie aber steht es dann um da Ponte? Darf er sein Werk nicht erkennen oder gilt prima la musica e poi le parole?


    Ich kann auch sagen: In jedem Menschen steckt ein Genie. Doch solange sich dieses Genie nicht irgendwie zeigt (Caruso sagte: offenbart), bleibt das eine völlig nutzlose Spekulation.

    Also mit dieser Entgegnung scheint mir nun wahrhaft kein Stich zu machen. Ich glaube mich zu erinnern, dass so mancher Kritiker anhand des Notentextes die Genialität einer Komposition erkannt hat, ohne diese erst aufgeführt gehört zu haben.