Beiträge von Peter Schünemann

    Danke, lieber Carlo, auch ein Peter Schünemann kann sich irren. Vielleicht hatte Clara Ebers in der Premiere gesungen, und ich hatte Edith Lang in einer der nächsten Vorstellungen gehört. Jedenfalls listet mein Datenblatt die übrigen, von Dir genannten Sänger auf, also auch Hermann Prey, der nach wenigen Aufführungen von Raymond Wolansky und Hans-Otto Kloose ersetzt worden war.


    Aus der Tatsache, dass ich diese Aufführung im Jahre 1960 gehört habe, kannst Du entnehmen, dass ich nicht mehr der Jüngste bin, und da kann man sich schon mal irren.


    Beste Grüße

    Peter

    Bekanntlicherweise komponierte Britten die Rolle des Oberon für Alfred Deller, einen Countertenor. In Hamburg entledigte Stolze sich dieser unbequem hohen Tessitura bis zum dreigestrichenen hohen d mit Fistelstimme durchaus eindrucksvoll. Ebenso sehr beeindruckend, aber ganz anders Gerhard Unger, der seinen Kollegen in der Zeit seiner Kinderlähmung ersetzte, indem er sich erlauben konnte, selbst diese Höhenlage mit voller Bruststimme zu singen.

    Beide Einschätzungen beschreiben Gerhard Stolze sehr gut, wobei man nicht vergessen darf, dass Kesting zu seiner Meinung wie üblich auf Grund von Aufnahmen kam, in diesem Fall offensichtlich von Stolzes Herodes in der Solti-Einspielung.


    Ich finde jedoch, man wird Stolzes Künstlertum eher gerecht, wenn man alt genug ist, ihn live "erlebt" zu haben, denn er war eben kein Nur-Sänger, sondern ein trotz oder gerade wegen seiner Exaltiertheit ein faszinierender Menschendarsteller.


    Gerne erinnere ich mich auch an Stolzes Auftritte in (damals) zeitgenössischen Opern, so als Oberon in Brittens "Sommernachtstraum" oder als Oberst in Klebes "Jacubowsky und der Oberst".


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Beim Boris gibt es eben mehrere Möglichkeiten. Er war auch eine der großen Rollen George Londons, der wahrlich kein Baß war...

    Als Valery Gergiev den "Boris" in zwei Versionen einspielte, besetzte er die Titelpartie zum einen mit dem Bariton Nikolay Putilin, zum anderen mit Vladimir Vaneev, den man damals wohl als hohen Bass bezeichnen konnte, der aber in der jüngsten Vergangenheit reine Baritonrollen wie Amonasro und Rigoletto verkörpert hat.

    Heutzutage wird der Boris am Mariinsky häufig mit Yevgeny Nikitin besetzt, der Partien wie Holländer, Wotan, Amfortas, aber auch Pogner zu seinem Repertoire zählt. Ihm wie auch vielen seiner Kollegen, die dort dieses Fach singen (ich denke da an Mikhail Petrenko), ist zu eigen, dass sie eine große Expansionskraft in der Höhe haben, also die höhere Tessitura eines Boris, Igor oder Ruslan problemlos bewältigen - ein Phänomen, das wir aber schon in der Vergangenheit bei Sängern wie Petrov oder Reizen beobachten konnten.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter

    In seinem Kommentar vom Samstag beklagt Dr. Pingel, der Sänger des Boris sei ein Bariton gewesen. Pardon, aber Ildar Abdrazakov , der u. a. Attila, Filippo, die Mephistos von Gounod und Boito singt, ist ein Bass und kein Bariton. Zwar gehören auch Leporello und der Mozart-Figaro zu seinem Repertoire, aber dies sind allenfalls Partien für einen Bassbariton. Wäre Abdrazakov ein Bariton, würde ich ihn in den von mir erwähnten Opern als Ezio, Posa, Valentin und Figaro-Grafen erwarten.


    Beste Grüße


    Peter Schünemann

    Lieber Herr Schaefer!


    Ihre Berichte verfolge ich mit großem Interesse. Vielen Dank.


    Wenn Sie von 1968 bis 1972 im Bayreuther Festspielchor gesungen haben, erinnern Sie sich vielleicht an meine Mutter Hildegard Schünemann, die zur selben Zeit, allerdings schon ab 1951, in diesem von Wilhelm Pitz geleiteten Chor war. Auch an Volker Horn erinnere ich mich gut.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Meine Mutter Hildegard Schünemann, die von 1951 bis 1973 bei den Bayreuther Festspielen im Chor, aber auch als Solistin mitwirkte, war mit Rut Siewert befreundet. In ihrem Nachlass fand ich ein Autogrammalbum, in dem sich auch eine Widmung ihrer Freundin und Kollegin aus dem Jahre 1960 befand. Da unterzeichnete sie ganz deutlich zu sehen mit Rut Siewert.


    Beste Grüße


    Peter Schünemann

    Es hat für mich so ein bisschen ein "Geschmäckle", wenn man weiß, wer der Agent der beiden Erstplazierten ist, und dies bereits vor Beginn des Wettbewerbs. Es ist ein gewisser Dominic Domingo, Placido Domingos Enkel, der sowohl für die Agentur Askonas Holt als auch für Operalia tätig ist.

    Leider konnte ich nicht in Erfahrung bringen, wer diesmal in der Jury war.


    Peter

    Lieber Carlo!

    Vielen Dank für Deine wie immer profunde Rückmeldung.

    Zu dem von mir erwähnten Konzert mit Giuseppe di Stefano eine Anekdote. Di Stefano sang nur den 1. Teil und wurde zu Beginn des 2. Teils angesagt. Er habe eine plötzliche Indisposition erlitten und würde durch den Bariton Lawrence Winters ersetzt, der im Publikum gewesen sei.

    Dies war jedoch nicht die Wahrheit, denn es hatte Differenzen zwischen dem Tenor und dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg gegeben und di Stefano sich geweigert, weiterhin aufzutreten. Offenbar war dies keine Überraschung, denn wie sollte man erklären, dass das Orchester plötzlich das Material für Baritonarien hatte?


    Beste Grüße


    Peter

    Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, so gab es Anfang der 60er Jahre in Hamburg eine Konzertreihe mit dem Titel "musica et litera", in der namhafte Künstler sangen, u. a. Virginia Zeani & Nicola Rossi-Lemini, Giuseppe di Stefano und auch (wenn ich mich nicht irre) Ettore Bastianini. Mag sein, dass aus diesem Anlass auch Aufnahmen mit dem NDR-Sinfonieorchester oder dem Hamburger Rundfunkorchester (war nicht dasselbe!) entstanden sind.


    Beste Grüße


    Peter

    ..... und da bleibt noch die Frage, ob und wie er nach Riga kommt. Er ist nämlich im Oktober noch am Bolschoi beschäftigt.

    Darf er bzw. kann er aus-/einreisen?

    Das frage ich mich auch, wobei ich mich vor allem auf das Problem der Einreise beziehe. Bekanntlich haben die baltischen Staaten für Russen einen Einreisestopp verhängt, der auch für kulturelle Veranstaltungen gilt. Der direkte Weg per Bus über St. Petersburg, Tallinn nach Riga ist verbaut, und auch der Weg über Helsinki funktioniert nicht. Wie sollen also in naher Zukunft russische Künstler ihren Verpflichtungen im Westen nachkommen? Über Istanbul oder Dubai?


    Beste Grüße


    Peter

    Lieber Nemorino,


    Stefan Soltez erzählte mir in einem 1985 geführten Interview, er sei neben seinem Studium bei Prof. Swarowsky Korrepetitor im Musikverein und beim ORF gewesen und habe bei allen Wiener Orchestern Tasteninstrumente gespielt. Sein erstes Engagement hatte er im Theater an der Wien und dort en suite Operette und Musical dirigiert. Mit 24 erhielt er einen gemischten Korrepetitoren- und Dirigentenvertrag an der Wiener Staatsoper und hatte einen fast vierjährigen Gastvertrag mit der Grazer Oper. Als er von einer Vakanz in Hamburg hörte, dirigierte er dort vor und wurde genommen.


    In Hamburg dirigierte er vor allem nach. Deshalb meine Frage an ihn, ob er nicht an einem kleineren Haus mehr Möglichkeiten gehabt hätte, eine Aufführung durch Einstudierung stärker zu prägen. Interessant seine Antwort :


    "Wenn man... an ein kleines Haus geht, erlebt man dort nicht sehr hohes Niveau. Sie übernehmen Stücke von einem GMD, der es ja auch nur bis Regensburg gebracht hat und es vielleicht auch nicht weiterbringt. In einem großen Haus wird man niveaumäßig besser geprägt. Hinzu kommt, dass sich in unserer heutigen Zeit keine Agentur und kein Veranstalter mehr für die Provinz interessiert. Provinz ist heute nicht mehr "erwünscht" ".


    Wie gesagt, das Interview stammt aus dem Jahre 1985.


    Beste Grüße


    Peter Schünemann

    Als ich noch in Hamburg lebte, habe ich Stefan Soltesz sehr oft am Pult der Hamburgischen Staatsoper erlebt. Ich denke, ich hörte sogar die Vorstellung, in der er auf Engagement dirigierte. Das war 1983 "Hänsel und Gretel", und es fiel auf, mit welcher Energie er das reichlich lethargische Orchester mitriss. Es war keine einfache Zeit für ihn. Häufig musste er Werke wie Trovatore, Traviata oder Butterfly (nach-)dirigieren, die mit Vorliebe vor Premieren angesetzt worden waren, abgesehen von Balletten, in denen er mit John Neumeier, der Hamburger Ballett-Ikone, so manchen Streit ausfocht. Streitbar war Soltesz immer. So auch im finnischen Savonlinna, als er in den Proben zu Butterfly und Holländer dem Orchester vorwarf, zwar im Sommer, aber nicht in der Sommerfrische zu sein.

    Nach Savonlinna war er eingeladen worden, weil dort Jari Hämäläinen Intendant war, der vorher, als Soltesz GMD in Braunschweig war, dessen Chorleiter war.


    Soltesz hat seinen Beruf wirklich von der Pieke auf gelernt und war anfangs in jedem Metier tätig, bis hin zum Musical. Das waren die besten Voraussetzungen für ihn, als er als GMD in Braunschweig endlich Eigenverantwortung übernahm, mehr noch später in Essen, als er in der Doppelfunktion als GMD und Intendant tätig war und sich mit niemandem als mit sich selbst auseinandersetzen musste.

    R.I.P., Stefan Soltesz


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Wenn ich in den heutigen Nachrichten lese, dass die Mailänder Scala die nächste Saison mit "Boris Godunov" öffnet, und zwar mit ANNA NETREBKO IN DER HAUPTROLLE, so erinnert mich dieser Lapsus an eine Ankündigung des Mariinsky-Theaters vor vielen Jahren auf seiner englischen Webseite : "Anna Netrebko in the title role of Don Giovanni". Wer nun auf einen Fach- oder gar Genderwechsel gehofft hatte, sah sich enttäuscht. Offenbar war dem Administrator der Webseite zumindest im Englischen der Unterschied zwischen title und main role nicht geläufig. Genauso lustig war "Olga Borodina AS Khovanshchina".


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Herzlichen Dank an Orfeo für seine höchst informativen Ausführungen, aus denen ich jedes Mal etwas Neues gelernt habe. Er möge mir meine etwas beckmesserische Anmerkung verzeihen, wenn ich "Das verlief etwas anders" nicht ganz verstehe, denn ich hatte in meinem Beitrag vom Arrangement eines niederländischen Passes durch die Rotterdamer Philharmoniker für Valery Gergiev geschrieben, also nichts anderes als seine Entgegnung / Korrektur.


    Wenn ich gerade lese, dass in konzertanten Aufführungen der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden und Berlin unter Kirill Petrenko dem Mariinsky-Theater eng verbundene Sänger wie Stikhina, Denisova, Sulimsky und Akimov mitgewirkt haben, bin ich froh, dass für sie die Sippenhaftung nicht galt. Oder hat man von ihnen etwa nicht verlangt, sich gegen Putin und den Krieg auszusprechen? Wird im Westen mit zweierlei Maß gemessen?


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Lieber Orfeo,


    ich muss mich korrigieren : Der niederländische Pass ist Gergiev nicht von der Königin verliehen worden (dazu hat sie nicht die Befugnisse), sondern es ist von den Rotterdamer Philharmonikern "arrangiert" worden, als er Chefdirigent dieses Orchesters war. Gergiev machte in niederländischen Zeitungen kein Geheimnis aus dieser Tatsache. Wieweit es illegal in Russland ist, die Staatsbürgerschaft auch eines anderen Staates zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis, jedoch glaube ich nicht, dass Netrebko auf die russische verzichtet hat, als sie Österreicherin wurde.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Lieber Orfeo,


    nur zur Information : Gergiev besitzt tatsächlich die niederländische Staatsbürgerschaft, die ihm vor vielen Jahren von der Königin verliehen worden war.


    Quelle für diese Information : Gergiev selber.


    Die Frage, ob Gergiev sich überhaupt von Putin distanzieren kann, würde ich mit Nein beantworten, außer er trägt sich mit dem Gedanken, sich mit seiner Familie außerhalb Russlands anzusiedeln. Das hieße dann allerdings auch, sein "Lebenswerk", das Mariinsky-Theater im Stich zu lassen.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Um auf die Fragestellung dieses Themas einzugehen - "Einzigartig oder nur Marketing"? Meine Antwort : weder - noch.

    Von Tamara Novichenko, ihrer Lehrerin am St. Petersburger Konservatorium, war Anna Netrebko auf "hohen Koloratursopran" getrimmt worden. Folgerichtig sang sie Valery Gergiev die Königin der Nacht (!) vor. Dieser erkannte jedoch die lyrische Komponente ihrer Stimme und ließ sie am Mariinsky-Theater als Susanna debutieren.

    Bei Gergievs Festival im finnischen Mikkeli hörte ich Anna Netrebko 1995 erstmals, und zwar als Rosina. Meine ersten Eindrücke waren recht zwiegespalten. Eine sehr schöne junge Frau (ich glaube, sie war damals erst 25), eine sehr schöne, interessant getönte Stimme von hohem Wiedererkennungswert mit einigen technischen Defiziten, als da wären Intonationsprobleme (zu hoch) und ein mich nervendes vibratoloses Anbohren der Töne. Zwei Jahre später, als sie in Mikkeli Micaela und Luisa (Verlobung im Kloster) sang, waren diese Probleme so gut wie verschwunden, und weitere zwei Jahre danach verbreitete ihre Teresa in Benvenuto Cellini (Amsterdam) pures Belcanto-Glück.


    Ich hatte dann Gelegenheit, um die Jahrtausendwende herum ein Gespräch zu belauschen, bei dem sie nach ihren Plänen befragt wurde - sie hatte gerade Harnoncourt und Mehta vorgesungen, Donna Anna und Violetta. Die Einwände, ihre Stimme sei doch eher für Zerlina geeignet und Violetta erforderte eigentlich drei verschiedene Stimmen, konterte sie erstaunlich klug : Sie würde diese Partien mit ihrer eigenen Stimme singen.


    Ich betone die (in meinen Augen) Klugheit ihrer Einschätzung, weil sie seitdem in vielen Zeitungsinterviews viel Dummes vor sich hin geplappert hat und damit mehr die "Yellow Press“ bediente. Es wäre besser gewesen, wenn ihr Management eine intelligentere Auswahl der Presse vorgenommen hätte. Hier zeigte Netrebko sich wirklich nicht als die Hellste


    Ich habe keine Ahnung, welchen Einfluss ihr derzeitiges Management besitzt und inwieweit Anna Netrebko sich als beratungsresistent erweist, aber ihre Auslassungen zum durch Putin angezettelten Krieg gegen einen souveränen Staat voller naiver Formulierungen lassen sie nun zu Recht zwischen allen Stühlen sitzen. Wenn diese mildeste Form einer Distanzierung von Putin und diesem Krieg nun vom russischen Staat mit "Liebesentzug" bestraft und als Volksverrat eingestuft wird, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn andere Ikonen der russischen Kunst (Gergiev) es vorziehen, sich eines Kommentars zu enthalten. Es steht in den Sternen, ob und wann Anna Netrebko vom Westen wieder in Gnaden aufgenommen wird, aber die Fortsetzung ihrer Karriere in ihrer Heimat kann sie sich abschminken. Hoffentlich wird ihre in Russland lebende Verwandtschaft vom Bannstrahl des Staates verschont.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Dank an Adriano für diesen aufschlussreichen Bericht. Dieses nicht akzeptable Verhalten Gergievs dürfte im Jahre 2000 längst bekannt gewesen sein. So war er, so ist er, so wird er sein. Hier in Mikkeli begannen seine Konzerte stets mit mindestens 20 Minuten Verspätung, weil er die Probe erst zum angesetzten Konzertbeginn beendete. Das war bei uns keine Ausnahme. Dies ist in St. Petersburg die Regel.


    Was mich jedoch wundert, ist, dass es auch heute noch unter denen, die Gergiev engagieren, welche gibt, die nicht wissen, wie er "tickt". Selbst der ehemalige Intendant der Wiener Staatsoper, Dominique Meyer, der Gergiev durch Michael Güttler bei Lohengrin-Dirigaten ersetzte, weil Gergievs Maschine nicht rechtzeitig gelandet war, fand als Intendant der Mailänder Scala offensichtlich nichts dabei, ihn für die Leitung von Pique Dame einzuladen, wobei Gergiev die Vorbereitung inklusive der Generalprobe Timur Zangiev überließ und nur die Premiere dirigierte. Seine Anziehungskraft schien immerhin groß genug zu sein, um sich mit ihm zu schmücken. Tempi passati!


    Zu dem Ausspruch, das Züricher Opernhaus sei eigentlich zu klein für Salome, fällt mir ein, dass er diese Oper 1996 hier in Mikkeli dirigierte, wobei er sich nicht daran störte, dass die beiden (szenischen) Aufführungen in einer Konzerthalle stattfanden, die gerade 699 Zuschauer fasste und mit ihrem winzigen Orchestergraben nicht für Werke dieses Ausmaßes geschaffen war. Dass Gergiev in Zürich nur eine einzige Vorstellung der Salome dirigiert und dann abgesagt hatte, scheint nicht zu stimmen. Laut Peter van Laarhovens "Valery Gergiev's Conducting History" leitete er 4 Aufführungen, und zwar am 20., 24., 26.10. sowie am 2.11.2000 (dazwischen lagen Konzerte mit den Berliner Philharmonikern).



    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Was mich an dieser Diskussion stört, ist, dass so oft mit zweierlei Maß gemessen wird. Dr. Holger Kaletha hebt die vorsichtige Distanzierung des Bolshoi-Chefs Vladimir Urin positiv hervor und erwartet von Gergiev Ähnliches. Ich las jetzt noch einmal den von diversen Künstlern, u. a. von Spivakov, unterzeichneten Brief und verglich ihn mit dem ersten Versuch Anna Netrebkos, sich gegen den Krieg auszusprechen.


    Wie war die Reaktion? Liebe Anna, das ist nicht genug. Du hast den Namen Putin nicht erwähnt und dich nicht von ihm distanziert. Das reicht nicht aus! Nichts anderes ist in dem u. a. von Urin und Spivakov unterzeichneten Brief zu lesen. Der Name Putin kommt nicht in ihm vor, geschweige denn eine Distanzierung von ihm, und der Ukraine-Krieg wird vorsichtigst mit "armed action" umschrieben und nicht etwa "war" genannt. Ist es das, was wir von Gergiev erwarten? Mit derselben Reaktion wie bei Anna Netrebko?


    Gergiev besaß nicht immer diese so stark kritisierte Nähe zur politischen Macht. Ganz im Gegenteil war er immer sehr stolz auf die Tatsache, dass er der erste "Intendant" (ich weiß nicht, wie sein damaliger Titel war) war, der mit überwiegender Mehrheit vom gesamten Personal des damals so genannten Kirov gewählt und nicht von Staat oder Partei bestimmt worden war, als sein Vorgänger Yuri Temirkanov zur Leningrader Philharmonie ging. Die Nähe zur politischen Macht ergab sich dadurch, dass Putin sich für Kunst interessierte, aber auch durch den Zwang, ein marodes Theater finanziell zu sanieren. Gergiev hatte schon immer einen ausgesprochenen Geruchssinn für das Auffinden von Geldquellen, und Staatsmänner, Oligarchen usw. gehörten von nun an zu der Klientel, deren Geld er gerne für sein Theater annahm. Ich betone "für sein Theater", denn es ist bekannt, dass er seine Gagen von Auslandsgastspielen in der schwierigen Anfangszeit in sein Theater steckte.


    Um zum Ausgangspunkt zurück zu kommen : Ich bezweifle stark, dass unsere verehrten Tamino-Gergiev-Kritiker mit einer ähnlich vorsichtigen Anti-Kriegs-Adresse wie der von Urin & Co zufrieden zu stellen wären. Wer weiß, ob diese vorsichtigste Distanzierung nicht der Grund für Putins Vorschlag an Gergiev zur Zusammenlegung beider Direktionen gewesen ist. Sollte Gergiev sein Lebenswerk, den Aufbau seines Mariinsky-Imperiums, riskieren?


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Man helfe bitte meinem altersbedingt schwachen Gedächtnis nach, aber ich erinnere zu diesem Krieg Putins gegen die Ukraine keine einzige Äußerung Gergievs, weder zustimmender noch ablehnender Art. Wenn er sich dieses "Sic tacuisses" schon 2014 zu eigen gemacht hätte, wäre ihm sein heutiges Schweigen nicht, wie in dem vorherigen Beitrag unterstellt, als Legitimation von Putins Krieg unterstellt worden.


    Eine öffentliche Unterstützung dieses Krieges dürfte für Gergiev doch kein Risiko darstellen. Er ist doch schon jetzt (recht so) aller westlichen Auftritte verlustig gegangen. Aber von ihm ist keine diesbezügliche positive Äußerung zu erfahren gewesen.

    Ich schrieb schon einmal, dass es für mich, im freien Finnland auf dem Sofa sitzend, ein Leichtes ist, mich von Putin und diesem verbrecherischen Überfall auf einen souveränen Staat zu distanzieren. Aber würde es mir genauso ergehen, wenn ich in Russland lebte oder als im Ausland Lebender Familie in Russland hätte?

    Pardon, aber dieser Gesichtspunkt kommt mir bei all diesen Diskussionen zu kurz.


    Wie man's macht, macht man's falsch. Siehe Anna Netrebko, die sich jetzt - 4 Wochen verspätet und ziemlich schwammig - von Putin mit den Worten distanziert, sie kenne ihn eigentlich kaum (meine Worte). Wie ist die Reaktion darauf! Sie ist "eingeknickt". Was würden wir sagen, wenn sich nun auch Gergiev von Putin distanzierte? Will er nun doch im Westen seine Schäfchen ins Trockene bringen? Schließlich hat er, was offenbar offiziell nicht bekannt ist, auch einen niederländischen Pass, ihm vor vielen Jahren von der Königin verliehen.


    Ich möchte mich nicht an Unterstellungen über Gergievs öffentliches Schweigen beteiligen, möchte aber aus seinem Schweigen nicht, wie es auch hier geschieht, eine Unterstützung der verbrecherischen Politik Putins ableiten. Das ist mir dann doch zu einfach.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Lieber Dr. Holger Kaletha!


    Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich mich weiterhin zu diesem Thema äußern sollte. Als ausgewiesener, wenn auch nicht unkritischer Fan des Künstlers Gergiev möchte ich nicht in den Geruch geraten, ein Versteher oder gar Verteidiger des politischen Menschen Gergiev zu sein. Zu diesem ist meine Position klar : Eine Verbannung Gergievs von Auftritten außerhalb Russlands, Weißrusslands, Nord-Koreas, Chinas ist unausweichlich. Von meinem ruhigen Sofa im noch (friedlichen) Finnland ist es für mich kein Problem und folgenlos, mich von Putin zu distanzieren.


    Bei Deinem Beitrag #434 fällt mir auf, dass Du schreibst "Und wenn es stimmt, dass...", während es für Dich in #437 schon erwiesen ist, dass Gergiev zum geplanten Siegesparaden-Konzert in Moskau Mussorgskys Bilder einer Ausstellung mit dem "Großen Tor von Kiev" hätte dirigieren sollen. Diesen Schritt von #434 zu #437 kann ich leider nicht nachvollziehen, da mir die Quellenangaben fehlen, möchte Dir aber nicht widersprechen.


    Naiv, wie ich bin, denke ich, dass Gergiev einen seiner nunmehr freien Tage (horror vacui) mit einem Konzert in Moskau füllen wollte und eines der von ihm am häufigsten gespielten (und am wenigsten, da gar nicht, geprobten) Werke

    auf das Programm gesetzt hatte. Aber ich lasse mich gerne belehren, aber bitte nicht durch bloße Behauptungen.


    Zum Schluss eine Anekdote, die nur ganz am Rande nichts mit dieser Diskussion zu tun hat. Gergievs Mikkeli Musik-Festival war immer auf der Suche nach Werken, die eine Brücke zwischen russischer und finnischer Kultur bilden könnten. Vor gut 20 Jahren war man kurz davor, Shostakovichs Suite über finnische Themen aufzuführen, bis ein kluger Musikwissenschaftler herausgefunden haben wollte, dass dies eine Auftragskomposition für die geplante Parade in Helsinki nach dem Sieg Russlands über Finnland gewesen sein sollte. Es gibt eine Aufnahme dieser Suite für Sopran, Tenor und Kammerorchester. Man möge sich einmal vorstellen, wie die Russen zur Melodie von "Minun kultani kaunis on" (Mein Liebling ist schön) paradieren, ein lustiges Stück, das der Geiger Pekka Kuusisto gerne, launig moderierend, bei Konzerten als Zugaben benutzt. Seither bin ich etwas misstrauisch, was die Ergebnisse von Musikwissenschaftlern anbelangt. Übrigens verzichtete Gergiev aus Rücksicht auf finnische Gefühle auf die Aufführung dieser Suite.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann



    Peter Schünemanns Aussage ist also nur eine Behauptung, die sich zwar demnächst als richtig rausstellen kann,

    bisher aber nur ein Orakel und kein Job-Angebot ist.

    Lieber Orfeo!


    Genau gesagt, habe ich nur behauptet, etwas gelesen zu haben, und bezog mich dabei auf Norman Lebrecht's Blog Slippedisc, in dem er die Überschrift benutzte "Putin orders Gergiev to take over the Bolshoi". Da ich des Russischen nicht mächtig bin, entgehen mir solche Nuancen, die ich der Washington Post entnehmen kann : "Putin suggests sweeping changes at Bolshoi, Mariinsky theaters". Wir werden sehen, was aus der Aufforderung Putins, darüber nachzudenken, wird.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Gestern war zu lesen, dass auf Putins Geheiss Gergiev zusätzlich zum St. Petersburger Mariinsky-Theater auch das Moskauer Bolshoi-Theater als Direktor übernehmen soll.


    Dies ist wirklich sehr fürsorglich von Putin gedacht, Gergiev für seine nun ausfallenden Auslands-Verpflichtungen einen angemessenen Ausgleich zu verschaffen. Doch Spaß beiseite. Gergiev erzählte oft, dass ihm nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union vom Kultusminister das Direktorium dieser beiden Bühnen angetragen worden war, doch er habe mit der Begründung ablehnen können, die Gefahr sei zu groß, dadurch beiden Institutionen nicht gerecht werden zu können. Also scheint diese Gefahr heute nicht gegeben zu sein, oder Gergiev konnte / wollte sich heute dem "Wunsch" des russischen Förderers der Künste nicht verschließen. Kontinuität Im Musik-Direktorium wird gegeben sein, kam doch der Ossete Tugan Sokhiev, der gerade sein Amt zur Verfügung gestellt hatte, ursprünglich vom Mariinsky.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Lieber Joseph II.,


    vielen Dank. Es müsste ein Vergnügen sein, sich mit Dir über Gergievs Einspielungen auszutauschen. Aber leider kann ich mich daran nicht beteiligen. Zwar habe ich diese Aufnahmen gesammelt, doch ich muss gestehen, nur selten oder gar nicht zu ihnen gegriffen zu haben. Verständlicherweise würden wir nicht über dasselbe sprechen : Du über die Aufnahmen, ich über meine Live-Eindrücken, in über 30 Jahren Hunderte von (meist positiven) Erlebnissen. Deshalb kann ich auch nicht abschätzen, wann Gergievs mediokre Beliebigkeit begann.


    Der Niederländer Peter van Laarhoven, ein ausgewiesener Gergiev-Fan, hat sich die Mühe gemacht, sämtliche Konzert- und Opernaufführungen, von denen er Kenntnis bekam, aufzulisten, angefangen von einem Konzert 1972 mit dem Studentenorchester des Leningrader Konservatorium bis heutzutage. Ich habe vergessen, bei welcher Gesamtzahl er angekommen ist, aber zumindest eine Zahl ist kennzeichnend für Gergiev : 2021, also in der Zeit der Corona-Pandemie, dirigierte er nicht weniger als 331 Konzerte und Opernaufführungen, darunter, z. B. während des sog. Moskauer Oster-Festivals bis zu 3 Konzerte pro Tag in diversen Städten.


    Eine nahe liegende Frage wäre jetzt : Wie gut war dies alles geprobt? Wie wirkten sich die Reisestrapazen auf die Qualität aus?


    Nach meinen Informationen war dies 1989, als ich Gergiev erstmals begegnete, nicht anders. Während des Schleswig-Holstein Musik Festivals war das Orchester irgendwo in der Mitte Schleswig-Holsteins untergebracht und zu den jeweilen Konzerten herangekarrt und in der Nacht zurückgefahren. Heute wird für das Moskauer Oster-Festival ein Zug für Orchester, Solisten und Dirigenten gechartert mit einem Extra-Waggon für Proben, und mit diesem Zug wird durch ganz Russland getourt, startend und endend in Moskau, traditionell am sog. "Victory Day".


    Trotz dieser Strapazen scheinen sich immer noch Musiker darum zu reißen, Mitglied des Orchesters zu sein, doch selbst an den ersten Pulten der Violinen ist eine starke Fluktuation nicht zu übersehen. So wechselten einige Konzertmeister der 1. Geigen zu den Orchestern des Mikhailovsky- oder Bolshoi-Theaters, und einige Musiker fragten mich, ob ich ihnen nicht ein finnisches Orchester in der Nähe der russischen Grenze empfehlen könnte. Mit Sicherheit verdienen die Musiker ein gutes Geld, auch wenn die Auslandszulagen nun wegfallen, aber nicht jedem behagt es, dem Mariinsky unter Verzicht auf ein Privatleben zu "dienen".


    Dazu eine bezeichnend Frage eines Musikers, ob ich wüsste, was für das Orchester ein "freier Tag" bedeutet. Nach einer Aufführung würde man in der Nacht die Arbeit fortsetzen, z. B. Korrekturen von Aufnahmen. Der Tag sei "frei".


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Ich danke abermals vielmals, lieber Peter Schünemann, und bin auch auf Weiteres sehr gespannt.

    Lieber Joseph II.


    Danke. Es ist mir ein Vergnügen.


    Meine Position zum Thema "Gergiev" möchte ich verdeutlichen : Ich verdanke diesem Dirigenten seit 1989 viele unvergessliche Konzerte und Opernaufführungen, und letzten Endes verdanke ich es ihm, dass ich seit vielen Jahren in Mikkeli, in Finnland lebe. Seinetwegen besuchte ich 1995 erstmals das Mikkeli Musik-Festival, wurde "privat verbandelt" mit einer Mitarbeiterin und sah es als (unbezahlte, unbezahlbare) Ehre an, mit Gergiev über eineinhalb Jahrzehnte an der Programmplanung zusammen zu arbeiten.


    Weder für mich noch für meine finnischen Kollegen war Gergievs Nähe zu Putin jemals ein Problem. Damit unterschied Mikkeli sich um nichts von anderen Festspielen und Orchestern. Aber : Dieser grausame, von Putin angezettelte Krieg gegen einen souveränen Staat veränderte alles, und ich finde Gergievs "Verbannung" von Events außerhalb Russlands vollkommen richtig.


    In dem schon erwähnten Interview fragte Norman Lebrecht Gergiev : "Why a festival in the middle of nowhere?" Und Gergiev fand außerordentlich freundliche Worte über Finnland im Allgemeinen und Mikkeli im Speziellen, über die Reinheit der finnischen Natur. Nach bzw. inmitten des St. Petersburger Festivals "Stars der Weißen Nächte" sei Mikkeli für ihn und seine Musiker wie Urlaub. Meistens würde ein Programm gespielt, mit dem sein Orchester vertraut sei, und die Proben würden erst um 16 Uhr beginnen.


    Um es deutlich zu sagen : Einen Grund für Mikkeli gibt es auf keinen Fall - das Geld. Als ich Gergiev einmal fragte, ob er wüsste, wieviel Mikkeli pro Konzert zahlte, also für ihn und Orchester, verneinte er. Bei meiner Antwort (30 000 €) lächelte er. Es gäbe Länder, in denen er allein so viel bekäme. Also wogen ein für ihn und seine Familie für mehrere Wochen angemietestes "Mökki" (Sommerhaus) alles auf, und so war Mikkeli das einzige oder eines der wenigen Festivals, in dem das Mariinsky Geld verlor anstatt es zu verdienen.


    Man verstehe mich richtig, wenn ich dafür das Wort Treue oder Loyalität verwende - Treue gegenüber der Idee des Festivalgründers Seppo Heikinheimo, gegenüber Finnland und Mikkeli. Und wenn ich mich nicht sehr irre, lässt sich Gergievs Verhältnis zu Putin auch mit Loyalität umschreiben. Im Gegensatz zu 2014 ist heute nichts an Unterstützung für Putins Aggression zu hören. Eine öffentliche Distanzierung von Putins Politik von Gergiev zu erwarten, hieße zu verkennen, dass er nicht nur für sein eigenes Leben und das seiner Familie verantwortlich ist, sondern auch für seine musikalische "Familie", das Mariinsky-Theater mit seinen 5 Bühnen, 3 in St. Petersburg plus Vladivostok plus Vladikavkaz. Ich bin froh, nicht in Russland zu leben.....


    Ich habe einmal mitbekommen, wie Putin "pfiff" und Gergiev "sprang". Als ich zu abschließenden Programmgesprächen in St. Petersburg war, informierte mich der damalige Operndirektor, das Mikkeli-Programm müsste leider geändert werden. Putin habe Gergiev in dieser Zeit zu einem Konzert mit dem Mariinsky-Orchester nach Kaliningrad "eingeladen", und dem könnte Gergiev sich selbstverständlich nicht entziehen. Ähnlichkeiten mit anderen solchen Events drängen sich auf.


    Beste Grüße aus dem Land, das gerade zum 5. Mal nacheinander zum Land mit den glücklichsten Menschen gewählt wurde, und das trotz der Nähe zu Russland


    Peter Schünemann

    Lieber Holger Kaletha!


    Zu dieser Einspielung fällt mir eine interessante Anekdote ein. Diese Aufnahme entstand (wie einige andere auch) in der Mikaeli-Konzerthalle, und ich weiß nicht, wieviel von den Aufnahmesitzungen und wieviel von den beiden Konzerten verwendet wurden, in denen Lang Lang je eines der beiden Klavierwerke spielte.


    Jedenfalls hatte Gergiev sich bei den Proben so sehr auf die Klavierwerke konzentriert, dass Rachmaninovs 2. Sinfonie total ungeprobt blieb. Gergiev kommentierte dies mit den bezeichnenden Worten, jetzt müsse er "arbeiten“, könne nicht den Autopiloten anstellen!


    Wenn ich einmal über Gergievs Probenmethode schrieb, man könne ihn nicht auf eine einzige reduzieren, so gilt dies auch für die Benutzung des Taktstocks, ob ja oder nein, wenn ja, in welcher Länge.

    Zu dieser Rachmaninov-Sinfonie erschien er mit einem Taktstock von ungewöhnlicher Länge, berührte beim Auftakt versehentlich das Pult des rechts von ihm sitzenden Viola-Spielers. Der Taktstock fiel zu Boden, wo er bis zum Ende der Sinfonie blieb.


    1997 beobachtete ich, wie der Orchesterwart des Mariinsky Gergiev vor seinem Auftritt diverse Taktstöcke hinlegte. Gergiev probierte sie aus - und entschied sich, ohne zu dirigieren.


    Also auch hier - Gergiev lässt sich nur schwer auf eine Regel reduzieren, weder was die Art von Proben noch die Benutzung des Taktstocks anbelangt.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

    Lieber Joseph II.,

    vielen Dank für die freundlichen Worte, die mir Mut machen, etwas mehr über Gergiev zu schreiben aus der Position zunächst eines Hobby-Journalisten (ich schrieb für ein deutsches Opernmagazin), dann eines Mitarbeiters seines Mikkeli Musik-Festivals.

    Verständlicherweise ist in all den Jahren (ich traf Gergiev erstmals 1989) eine Fülle an Material zusammen gekommen, das ich deshalb etwas strukturieren möchte.


    Beginnen möchte ich mit dem Thema "Proben“ und Norman Lebrechts Vorwurf, Gergiev würde nicht oder nur ungenügend proben. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf Proben mit seinem ihm langjährig vertrauten Orchester des Mariinsky-Theaters.

    Wenn Carlos Kleiber früher einmal die "Falstaff"-Premiere an der Hamburgischen Staatsoper abgesagt hatte, weil er (so die offizielle Version) nicht sämtliche Proben im Orchestergraben des Opernhauses abhalten durfte, so fand Gergiev bei Gastspielen beim Schleswig-Holstein Musik Festival offenbar nichts dabei, "Otello" in einer Halle zu dirigieren, in der sonst Pferdeauktionen abgehalten werden (Neumünster), oder "Mazepa" in einer Halle, in der sonst Flugzeugmotoren hergestellt werden (Bremen), oder ein Konzert in einer Lübecker Tennis-Halle. Für einen Dirigenten wie z. B. Günter Wand wäre es unvorstellbar gewesen, in vielen Proben nicht jedes Detail des Konzerts voraus zu planen.


    Nicht so bei Gergiev. Vor einem Konzert in Mikkeli mit dem kompletten "Nussknacker" (der nicht geprobt wurde) beschäftigte er sich mit Mahlers 3. Sinfonie, die am nächsten Abend auf dem Programm stand. Als er 15 Minuten vor angesetztem Konzertbeginn feststellte, dass er den letzten Satz der Mahler-Sinfonie noch nicht "geprobt" (=durchgespielt") hatte, ließ er diesen Satz in doppeltem Tempo spielen. Gefragt, ob dies seine Original-Interpretation sei, verneinte er dies, meinte aber, auf diese Weise hätten seine Musiker die Noten wenigstens einmal vor dem Konzert gespielt!!!! Unprofessionell? Unseriös? Ja, sicherlich! Aber wenn man beim Fußball sagt, wichtig ist, was auf dem Platz geschieht, so gilt dies auch bei Gergiev, für den die Interpretation nicht in der Probe erarbeitet wird, sondern im Konzert geschieht.


    Es kann jedoch auch passieren, dass Gergiev sich bei Proben geradezu in Details verbeisst und von seinen Musikern erwartet, dies auf die gesamte Sinfonie anzuwenden. In John Ardoins Buch "Valéry Gergiev and the Survival of the Kirov" kann man nachlesen, wie Gergiev 1995 bei den Weißen Nächten in St. Petersburg diese "Methode" bei Beethovens Neunter angewandt hatte. Wie dort probte er auch wenig später in Mikkeli nur die ersten beiden Sätze, fiel dann aber unüberhörbar in ein tiefes Loch, aus dem er sich nicht wieder befreien konnte. Dieses Gedenkkonzert für Martti Talvela fand in Finnlands drittgrößter Holzkirche, die sich bei sommerlichen Temperaturen so weit aufgeheizt hatte, dass es für Musiker wie Zuhörer unerträglich war. Hier rächte es sich an Gergievs Manie, eine Probe frühestens zum angesetzten Konzertbeginn zu beenden. Nach seinen Worten war er "Tode gestorben" und sagte daraufhin sein "Tosca"-Dirigat in Savonlinna ab.


    Weitere Beispiele folgen demnächst.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann