Gestern hatte ich das erste Mal das Vergnügen, im Rahmen des diesjährigen Emil Gilels-Festivals in Freiburg einen der Pianisten der Stunde zu erleben: Grigori Sokolov. Und ich kann sagen: ich wurde durchaus überrascht! Leider dergestalt, daß ich mich den immer und überall über Sokolov zu lesenden bedingungslosen Jubelarien nicht 100%ig anschließen wollte. Meine Erwartungshaltung deckte sich mithin nicht ganz mit dem Erlebten.
Auf dem Programm des Abends standen:
Robert Schumann - Arabeske, op. 18
Robert Schumann - Fantasie in C-dur, op. 17
Pause
Frédéric Chopin - 2 Nocturnes in B-dur / As-dur, op. 32
Frédéric Chopin - Klaviersonate Nr. 2 in b-moll, op. 35
Wie schon lose angedeutet zog sich durch fast alle an diesem Abend gespielten Stücke ein leider recht störender roter Faden: allzuoft schien Sokolov ebendiesen im strukturellen Klein-Klein des Werks aus dem Blick zu verlieren. Einzelne Gedanken arbeitete er höchst kunstvoll aus, vernachlässigte dabei aber den jeweils nächsten - und damit den vielbeschworenen Spannungsbogen. Das ergab nicht selten das Bild eines Klangmosaiks, dessen fein gearbeitete Einzelteile sich zum Schluss nicht passgenau zu einem Großen Ganzen fügen mögen.
Hinzu konnte ich auch seinen agogischen Ideen manches Mal nicht unbedingt folgen, einiges schien mir da ein wenig überromantisiert - ohne allerdings Züge des Manieristischen zu tragen. Sokolovs Spiel schien wahrhaft und verinnerlicht: zuweilen wirkte sein Vortrag so intim, als belausche man ihn beim Klavierspiel im eigenen Wohnzimmer. So ergaben sich durchaus fesselnde Momente - aber eben 'nur' Momente.
Dennoch soll das hier gesagte nicht zu negativ klingen: ich sehe den Besuch von Sokolovs Konzert durchaus als großen Gewinn. Zu groß war das Staunen, das seine sonstigen pianistischen Fähigkeiten bei mir auslösten: der Nuancenreichtum seines Spiels, die Vielfalt an Klangfarben, und natürlich seine technischen Fähigkeiten. Vor allem aber konnte mich Sokolovs schlicht überragender Anschlag begeistern: vom körperlos aus dem Nichts entstehenden Piano bis zur großen Pranke war alles von Geist und Kultur durchdrungen, wie sie ihresgleichen suchen.
Mein persönlicher Höhepunkt des Abends war Chopins als 4. Zugabe gespieltes Regentropfen-Prélude, das in seiner rhythmischen und thematischen Einheitlichkeit die oben beschriebenen vermeintlichen Nachteile in Sokolovs Spiel kaum zum tragen kommen ließ - dessen Vorzüge aber umso mehr! Drumherum gab es noch fünf andere Zugaben, die ich u. a. als Schubert und Debussy meinte identifizieren zu können, hier ohne Blick in die morgige Zeitung aber nicht genau bezeichnen kann.
Abschließend kann ich festhalten, daß ich morgen vermutlich nicht direkt wieder in ein Sokolov-Konzert eilen würde, aber eine deutliche Bereicherung hat meine Konzertgänger-Karriere gestern sicherlich erfahren.