Liebe Taminos,
habe ich das Forum richtig durchsucht? Gibt es tatsächlich noch keinen Thread zu Vladimir Ashkenazy? Wenn nicht, dann schieße ich einfach mal los:
Eines vorweg: Ich will an dieser Stelle den Kapellmeister Ashkenazy außen vor lassen und mich erst gar nicht an die leidige Diskussion wagen, ob Pianisten, die das Dirigieren für sich entdecken, zwangsläufig zu klimpernden Dirigenten mutieren müssen. In dieser Hinsicht scheint mir Ashkenazy pianistisch doch sattelfester geblieben zu sein, als Daniel Barenboim.
Den Pianisten Ashkenazy zeichnete ein wahrhaft enzyklopädisches Interesse an der Musik des klassich-romantischen Repertoires aus. Wenn er sich Schumann vornahm, spielte er nicht nur die Kreisleriana und die symphonischen Etüden, sondern gleich den ganzen Schumann ein. Genauso verfuhr Ashkenazy auch mit Chopin, Rachmaninow, Skrjabin, Prokofjew, Mozarts Klavierkonzerten und Beethoven (dessen Klavierkonzerte ich zumindest in drei Gesamtaufnahmen habe - vermutlich staubt in irgendwelchen russischen Archiven noch die eine oder andere vor sich hin...)
Auf dem Feld der Kammermusik mit Klavier tummelte sich Ashkenazy nicht weniger fleißig. Es liegen praktisch alle Standardwerke der Literatur mit ihm vor, dazu die eine oder andere Scheibe auf der er sich als Liedbegleiter austobt...
Tja, was soll man von ihm halten? Er ist erstaunlich vielseitig, ein gründlicher, natürlicher Musiker, mit kernigem, "urgesundem" pianistischem Zugriff.
Mir scheint, als habe er inzwischen einen ziemlich miesen Ruf, um's vorsichtig auszudrücken... Woran liegt das? Hat er zu viele Noten gefressen und über die Quantität vergessen, hin und wieder eine wirklich aufregende, künstlerisch eigenständige Platte zu machen? Bemerkenswerterweise dominierte Ashkenazy vor ca. 15 Jahren den Katalog von DECCA - heute wird er in Budget-Boxen verramscht...
Ich finde ihn allerdings deutlich besser, als seinen Ruf. Technisch ist er nach wie vor sehr zuverlässig, allerdings scheint er seine Bänder im Studio (aus Nachlässigkeit oder mit Absicht?) nicht immer gründlich abzuhören. Es gibt hier und da Huddeligkeit, rhythmische Unsauberkeiten, in langen brillanten Passagen, droht er manchmal zu "verhungern", bzw. schließt sie nicht mustergültig ab (es kann natürlich auch sein, dass er es ablehnt, von"misslungene" Passagen weitereTakes zu machen). Sein klangliches Differenzierungsvermögen (bzw sein Interesse an Klangfarben) war noch nie besonders stark ausgeprägt. Ashkenazy hat einen massiven, recht unpersönlichen Ton und arbeitet nur wenig mit dynamischen Abstufungen - sein wirklich alles andere als überfeinertes Spiel schwankt zwischen aufrichtiger Natürlichkeit (in den gelungenen Aufnahmen) und bäuerlicher Plumpheit (in den weniger gelungenen Aufnahmen).
Allerdings: Das er in irgendeiner Form respektlos, bzw. fahrlässig mit Musik umgeht, kann man ihm als allerletztes unterstellen. Seine Redlichkeit ist mit Sicherheit eine seiner Kardinalstugenden.
Der aktuelle Anlass dieses Threads ist sein neu erschienenes "wohltemperiertes Klavier". Ich habe bezüglich des WTK einen Vollständigkeitstick, ich nehme wirklich jede Aufnahme mit, also auch die Lesart von Vladimir Ashkenazy. Ich habe ein paar Nummern (allerdings noch nicht wirklich konzentriert) gehört. Es ist wie erwartet: Besser als Ashkenazys Ruf, aber vermutlich nicht gut genug, um für längere Zeit Bestand in den Katalogen zu haben. Ashkenazy fehlen einfach zentrale Qualitäten, die wirkliche Bach-Spezialisten auszeichnen (z.B. in bezug auf Phrasierung, Akzente, korrekte Triller). Ashkenazys Spiel klingt strukturklar, pianistisch im Großen und Ganzen souverän, ehrlich und im positiven Sinne unaufgeregt - aber leider auch etwas zu unbedarft und hölzern.
Allerdings kann man auch hier attestieren, dass Ashkenazy wenigstens keine Nabelschau praktiziert und seinen Bach auf Teufel komm raus extravagant aufhübscht, um seine Version "einmaliger" und damit konkurenzfähiger zu machen. Dafür, dass Bach für Ashkenazy nur ein Projekt unter vielen ist, sollte man ihm fairerweise wenigstens etwas Respekt für seine Leistung zollen - andere würden es sicher um einiges schlechter machen.
Wie geht es Euch? Ist Ashkenazy ein Langweiler, ein uninspirierter Allesspieler, ein Handwerker, der sich versehentlich ins Künstlerzimmer verirrt hat?
Oder doch ein zu unrecht verschmähter Tastengroßmeister?
LG!
Daniel