Ich möchte gerne einen Vergleich in die Diskussion einbringen, der vielleicht hilft, und zwar wenn man an einen Jazzmusiker und Klassikinterpreten denkt (wohl wissend, dass es da auch Überschneidungen gibt).
1. Der Jazzmusiker, wird ein vorhandenes Thema nehmen, und wird dann darüber improvisieren, es beliebig ausgestalten, verzieren, umkehren, durch alle Tonarten jagen, es langsamer, schneller, mit verändertem Rhythmus spielen - und kann dabei ein Ergebnis erzielen, das begeistert.
2. Ein Klassikinterpret spielt eine Sonate: er gibt alle Töne wieder, die in seinen Noten stehen, bemüht sich, die Tampoangaben umzusetzen und all das einzubringen, was er über die Musik und ihre Entstehungsbedingungen weiß; er wird seine eigene Interpretation dort einbringen, versuchen, die eigene Akzente zu setzen, Nuancen zu verändern, Phrasierungen vorzunehmen, die ihm sinnvoll erscheinen - und doch wird jede Note spielen, die er in der Partitur hat. Auch das kann begeistern.
3. Nächster Fall: ein Komponist hat ein Konzert vorgelegt, in dem es bewusst Raum gibt zum Improvisieren; dort werden also explizit Kadenzen verlangt. Man kann also das Konzert nur bis zu einem gewissen Punkt Note für Note nachspielen, man gelangt dann an eine Stelle, bei der man quasi, wie der Jazzmusiker, improvisieren muss; das wäre also eine Mischform aus 1 und 2. Ergebnis: ebenso begeisterungswürdig.
Wie ist das jetzt beim Libretto? Ist dies eine Vorlage, die nur die Eckpfeiler vorgibt, innerhalb derer man aber frei improvisieren kann, wie im Fall 1 der Jazzmusiker?
Oder ist es wie in Fall 2, dass das Libretto möglichst Buchstabe für Buchstabe umgesetzt werden muss, trotz aller subjektiven Spielräume?
Oder ist es wie im Fall 3, dass es Teile des Librettos gibt, die nicht verändert werden dürfen, während andere Teile Leerstellen bieten, die man beliebig nach eigenem Empfinden auffüllen darf?
Diese Frage kann man sicher nicht generell beantworten, und auch jeder Librettist und Komponist hat da ein anderes Selbstverständnis gehabt; in manchen Epochen war es gang und gäbe, Dinge zu verändern, zu vermischen, zu adaptieren, ohne dass man auch nur so etwas wie Urheberrecht kannte; dann gibt es aber auch den Komponisten oder Librettisten, der nicht ein Iota an dem geändert sehen möchte, was in Libretto und Partitur steht.
Ich denke, in keinem der drei Fälle gibt es so etwas wie absolute Objektivität oder Werktreue, den subjektiven Interpretationsansatz kann man nie vollkommen ausblenden, und das ist auch gut so, sonst müsste man ein Werk nur einmal "mustergültig" aufzeichnen, und dann wäre jede andere Interpretation überflüssig.
Das bedeutet also für mich, dass der Interpret, der Regisseur, alle Beteiligten an der Aufführung ihren Spielraum (ihren Spiel-Raum) immer wieder neu ausloten müssen, um zu sehen, ob er enger oder weiter gefasst wird. Eine Verpflichtung sehe ich da auch nicht, das ist ein Problem, das von vielen Faktoren abhängt, wie der Regisseur sich selbst sieht und wie er das Werk versteht. Wichtig dabei finde ich nur, dass man entsprechend kommuniziert, ob man eher "Jazz " oder "Klassik" in seiner Deutung zugrunde legt, oder eine Mischform, damit das Publikum entsprechend entscheiden kann, ob es das Resultat gerne sehen möchte oder nicht. Dabei ist es ja auch so, dass es meistens Einführungen durch das Regieteam, Vorabberichte, Rezensionen etc. gibt, so dass man eigentlich schon im Vorfeld Enttäuschungen vermeiden kann; so halte ich es zumindest. Wenn ich ein Buch kaufe, lese ich ja auch erst einmal den Klappentext, und wenn es mir wichtig ist, dass Aida in Ägypten spielt zur Pharaonenzeit und nicht in einem modernen Setting, kann ich das in aller Regel auch problemlos in Erfahrung bringen.
Aber möglich und legitim sind alle Ansätze, und sie alle haben ihre Anhänger - das macht das Leben bunt und vielfältig, und das ist gut so.