Jorge Bolet, Hänssler (Aufnahmen des SWR, digital nachbearbeitet, ADD)
Aufnahmedatum: 14. Mai 1988 (Schwetzinger Schloss, Rokokotheater)
Spielzeiten: 10'35; 4'12; 9'57
Nach einer äußerst langen Abstinenz, in der ein Fülle von Einspielungen besprochen wurde, ist es hier kaum noch möglich, etwas beizutragen. Ich will dennoch an dieser Stelle auf eine Einspielung der Sonate hinweisen, die Jorge Bolet im Mai 1988 vorlegte, als er das Werk bei seinem Recital bei den Schwetzinger Festspielen auf das Programm setzte. Das war für Bolet durchaus eine ungewöhnliche Wahl, trat er doch nie als besonderer Sachwalter der Beethoven-Sonaten in Erscheinung.
Beginnen wir mit den rein technischen Angaben zu den Spielzeiten
Allegro assai 10:36
Andante con moto 7:17
Allegro ma non troppo – Presto 9:26
Gesamtspielzeit 27:20
Obwohl absolute Spielzeiten für eine Interpretation nur eine vergleichsweise untergeordnete Aussagekraft besitzen, darf man konstatieren, dass Bolet bei der Sonate im Vergleich zu nahezu allen anderen Interpreten einen langsameren Ansatz gewählt hat. Angesicht seiner schier unerschöpflichen, virtuosen Kapazitäten, die er gerade im letzten Satz vollkommen hätte ausschöpfen können, scheint dies zunächst zu verwundern, lässt sich vor dem Hintergrund seines Interpretationsansatzes aber durchaus erklären.
Das Allegro des ersten Satzes nimmt Bolet nicht unbedingt langsamer als andere seiner Kollegen (man denke etwa an Gilels, DGG 1973 oder Arrau Schwetzingen 1973). Das immer so (mir zu sehr) schicksalbehaftete Klopfmotiv nimmt er dynamisch imO vertretbar (eher p als pp) und treibt ihm jedes Geheimnis aus. Das man manchen enttäuschen, ich halte angesichts der Mythenbildung, die um diese Sonate eingesetzt hat, für wohltuend. Bolets Klopfmotive sind nicht fahl, er entfaltet im Frage- und Antwortspiel einen Dialog aus Eleganz und Würde. Erst durch den ff Einbruch in Takt 17 hat dies ein Ende, wird aber sofort in der dolce Passage (Takt 35) wiederaufgenommen. Hier kommt mein erster Einwand gegen diesen Ansatz: dolce ist notiert, das überdeckt Bolet mit seinem erhabenen Ton leider völlig. Das ist zwar stimmig, doch treten dadurch die Gegensätze leider nicht so hervor. Überhaupt ordnet Bolet Kontraste und Wendungen dieses Satzes seinem Grundthema “Würde” unter, wodurch mir trotz der insgesamt sorgsam befolgten Notation zur Dynamik ein wenig von dieser verlorengeht. Insgesamt ist das dennoch ein absolut gut hörbarer und interessanter erster Satz. Kaum Zerrissenheit und gedämpfte Spannung, Kontrolle von Kraft: da mag das an anderes gewöhnte Beethoven Ohr in seiner Erwartung enttäuscht werden. Dennoch sollte es ebendiesen Satz mehrfach hören und wird feststellen, dass zunächst Erhabenheit und Würde im Zentrum stehen, die erst im furios vorgetragenen Finale gegen gegen Kraft und Dynamik eingetauscht werden. Man hat fast den Eindruck, Bolet reduziert die Kontraste dieses Satzes auf “Coda” versus “Rest des Satzes”. Das ist nicht uninteressant und führt trotz meiner genannten Vorbehalte zu einem sehr hörbaren Ergebnis.
Im zweiten Satz (Andante con moto) verpasst Bolet – wie im ersten Satz – imO, den dolce Ton. Das ist sehr feierlich gespielt (Edwin Fischer hätte daran sicher seine Freude gehabt), aber mit meinem Verständnis von dolce kaum zu vereinen. Hier schadet die vornehme Zurückhaltung dem Ausdruck doch erheblich. Versteht man diesen Satz nämlich zweischichtig (nur der Oberfläche still und schwärmerisch, darunter immer bedroht durch z. B. dynamische Störungen), geht dies durch den Ansatz Bolets leider verloren. Sein Spiel hat grandezza aber kaum dolcezza. Bolet bleibt seinem Drang, das Werk mit der größtmöglichen Würde vorzutragen, also vollständig verhaftet. Dadurch gewinnt dieser Satz etwas äußerst Statisches, außerdem “holpert” es hier und da etwas, weil er gerade die Melodieführung der linken Hand extrem verzögert.
Den finalen Satz überschrieb Beethoven mit Allegro ma non troppo. Bei Bolet liegt die Betonung hier sicher auf non troppo. Der Satz entfaltet in der Regel eine enorme Schubkraft mit einem kaum zu bremsenden Vorwärtsdrang. Hier steht sich Bolet mit seinem pianistischen Understatement und dem vergleichsweise langsamen Tempo selbst im Weg. Man hat fast das Gefühl, er wolle zeigen ”ich könnte das natürlich auch in einem pianistisch grandiosen Feuerwerk gestalten, aber ich habe das nicht nötig”. Hier ist kaum Schmerz zu spüren, kaum nervöse Unruhe, kaum Angst, kaum furiose Leidenschaft, also nicht von dem, mit dem man Ausdruckselemente den letzten Satz treffend umschreiben könnte. Dabei befolgt Bolet dynamische Vorgaben durchaus, nur bändigt er den Ausdruck Beethovens in seinem unnachahmlichen Ton, fängt ihn ein, filtert ihn und lässt ihn nur ganz selten wieder im Sinne vehementer Gefühlsregungen aus ihm herausbrechen. In der Coda nimmt er sich im Ausdruck sogar noch einmal zurück, spielt sie fast schon perlend, bevor er dann doch in mächtigen Akkorden endet.
Insgesamt muss man feststellen, dass der Ansatz, dem Werk mit der größtmöglichen Würde zu begegnen, zwar ein interessantes Hörerlebnis darstellt, aber imO allein nicht hinreichend trägt (am ehesten noch im ersten Satz), um diese Sonate in ein wirklich großes Hörerlebnis zu verwandeln. Schade ist, dass Bolet insgesamt so wenig Beethoven aufgenommen hat, denn ich könnte mir seinen Ansatz für andere Sonaten (vor allem die ganz späten) als durchaus als “ohrenöffnend” vorstellen.
Mit herzlichem Gruß
JLang